Als sie ihr Frühstück beendet hatten, packten sie ihre
Zelte und Schlafsäcke ein, sattelten ihre Pferde und ritten weiter.
An diesem Tag hatten Corvus und Rahl sichtlich mehr Spaß durch
den Wald zu reiten. Es war nicht so unerträglich bedrückend und
kalt wie am Tag zuvor. Ganz im Gegenteil: Die Sonne schien hell und fröhlich.
Der Schnee glitzerte und reflektierte das Sonnenlicht. Der Boden sah aus
wie ein bunter Perlenteppich aus dem Süden. Und in dieser warmen und
wunderschönen Landschaft ritten die Zwei immer geradewegs zur Lichtung,
wo die Marmorbäume standen.
Die Stimmung zwischen den beiden Reitern war so gut, dass Rahl anfing,
fröhlich zu summen. Corvus erkannte sofort, was Rahl da summte. Es
war ein altes Wanderlied, was schon die Palthurs und Zwergminotauren vor
500 Jahren sangen, wenn sie auf Reisen waren:
Liegt das Ziel auch noch so fern,
Und will ich nach Haus’ auch noch so gern:
Ich muss reiten in den finstren Wald,
Und ist es noch so bitter kalt.
Doch wen immer auch das Heimweh plagt,
Dem sei auf seiner Reise dies gesagt:
Es gibt auch andre’ mit gleichem Leid,
Die sind trotz der Sehnsucht gar nicht feig’.
Denn Gefährten reiten immer mit,
Und helfen, singen; Schritt für Schritt.
Bei größten Gefahren helfen sie Dir.
Und töten jedes gefährlich’ Tier.
Drum sag ich Dir, mein lieber Freund:
Du bist mit deinem Weibe bald vereint.
Drum reise mit erhobnem’ Haupte fort
Und erreiche so den von Dir ersuchten Ort.
Doch das Lied hatte auch eine Strophe in der Sprache der Minotauren:
Uhlt dîl san-di kann doh rach.
Et arlé fuhl dak nisto tach.
Set kâ de ril noch kù:
Roth so na, rat dil seth dù!
Allerdings wusste niemand mehr so richtig, was diese vier Zeilen
bedeuteten. Nicht einmal der Dorfälteste von Syth, der ein beachtliches
Alter von 748 Jahren hatte, vermochte zu sagen, was sie bedeuteten. Wahrscheinlich
lag es daran, dass diese vier Zeilen aus der Zeit der allerersten Minotauren
stammten. Und vor 5000 Jahren sprachen sie sozusagen "Urminotaurisch".
Die Sprache hieß Min-ôt-Áuhr. Doch das Min-ôt-Áuhr
war so eine alte und vor allem auch komplizierte Sprache, dass es nur die
weisesten Männer des Südens fertig brachten, sie zu lernen, geschweige
denn, sie anderen zu lehren.
Doch das störte Corvus und Rahl wenig. Sie fanden Gefallen
an der Sprache und vor allem auch an diesem Lied. Und so sangen und jauchzten
sie und vergaßen völlig sie Zeit. Als die Sonne schon am höchsten
stand, war es Corvus, der als erstes seinen Hunger bemerkte. Also machten
sie am Wegesrand halt und aßen Mittag. Als sie fertig waren und alles
zusammen gepackt hatten, ritten und sangen sie weiter.
Am frühen Abend schließlich kamen sie auf der Lichtung
an. Rahl war überwältigt vom Anblick der Marmorbäume. Sie
waren groß, fast 50 Meter. Sie hatten eine alte, knorrige und schwarze
Rinde. Sie sah aus wie die Haut eines alten Drachen. An manchen Stellen
war sie aufgerissen und gab den Anblick auf den Stamm frei. Und dieser
war an den offenen Stellen braun-schwarz verfärbt. Die Früchte
des Baums waren beinahe so groß wie eine Melone. Sie waren von kräftigem
Gelb und mit lila Flecken übersät.
"Ah", sagte Corvus, als er die Bäume begutachtete.
"Was ist?", fragte Rahl.
"Siehst Du die lila Flecken auf den Früchten?"
"Ja. Was ist damit?"
"Sie zeigen uns, dass die Früchte reif sind."
"Das heißt, wir können sie pflücken, schälen
und entkernen, einkochen und dann in Gläser abfüllen?"
"Richtig, Rahl." Corvus seufzte. "Doch zuerst werden wir etwas essen.
Und dann gehen wir schlafen. Es gibt viel zu tun morgen."
"Oh, natürlich", sagte Rahl.
Also packten sie ihre Zelte und Schlafsäcke aus. Sie entfernten
von einer Stelle des Bodens den gefrorenen Schnee, um dort ein Feuer zu
machen. Da ihnen der Tee ausging, mussten sie Schnee im Topf schmelzen
und es in ihre Flaschen füllen. Rahl suchte geeignetes Feuerholz,
während Corvus die Flaschen befüllte.
Als sie dann später am Abend am Feuer saßen, packte Rahl
auf einmal die Müdigkeit. Er gähnte ununterbrochen. Also beschlossen
sie, ins Zelt zu gehen und zu schlafen. Am nächsten Morgen erwachten
sie fast zeitgleich. Es war noch dunkel. Corvus zog sich an und ging in
den Wald, um Feuerholz zu holen.
Als sie mit dem Frühstück fertig waren, krochen sie in
ihre Zelte und holten ihre Äxte aus den Rucksäcken. Und dann
konnte es auch schon losgehen. Corvus ging zu einem großen alten
Baum mit einer stark zerfurchten Rinde. Er holte zum ersten Schlag aus.
KRACH! Als die Axt sich in den Stamm des Baumes rammte hallte ein Krachen
über die Wipfel der Bäume hinweg. Einige Schneekrähen flogen
aufgeschreckt weg. Doch das störte Corvus nicht. Er hatte schließlich
einen Auftrag erhalten und diesen muss er so gut und gewissenhaft wie nur
überhaupt möglich zu Ende führen. Nun hatte auch Rahl mit
der Arbeit angefangen. Er brauchte drei bis vier Schläge weniger als
Corvus, um einen Baum zu fällen.
Und so arbeiteten sie bis zur Mittagszeit, als Rahl auf einmal der
Magen knurrte. Auch Corvus hatte inzwischen Hunger bekommen. Also machten
sie ein Feuer, schmolzen Schnee in einem Topf und kochten Kartoffeln und
einige Kräuter. Diese waren von einem Pflanzenzüchter aus Syth
so gezüchtete worden, dass sie auch in der eisigsten Kälte nicht
gammelten. Zu den Kartoffeln tranken sie Wasser. Als sie wieder an die
Arbeit gehen wollten blieb Rahl auf einmal abrupt stehen und reckte sein
rechtes Ohr gen Himmel. Corvus stöhnte. "Nicht schon wieder." Er reckte
seine Nase gen Himmel, um zu überprüfen, was sie denn dieses
Mal angreifen würde. Doch er stutzte. Diesen Geruch kannte er nicht.
Es roch weder nach einem Feuerkeiler noch nach irgendeinem anderen wilden
Tier.
Rahl umklammerte fest sein Kurzschwert, bereit es gegen jeden Feind
anzuwenden. Er starrte in Richtung Süden, denn dort hatte er Geräusche
vernommen. Auch Corvus starrte jetzt Richtung Süden. Sie vernahmen
ein gleichmäßiges Knarren im Schnee. Es kam immer näher.
Corvus wurde immer angespannter. Er umschlang fest sein Kurzschwert. Das,
was sich ihnen näherte, würde jeden Moment um die Ecke kommen
und die Lichtung betreten. "Bereit?", fragte Corvus Rahl.
"Bereit!"
Doch was sich ihnen näherte, war kein wildes Tier. Es war ein
Pferd, und darauf ein Reiter. Dieser trug einen langen roten Mantel. Darauf
war ein Wappen, das Corvus eindeutig als das des Königs des Südstaates
Abnakahr erkannte: ein Schild, gewoben aus goldenem Faden, darauf ein Löwe
mit weit aufgerissenem Maul und mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf. Und
dieser Mantel umschmiegte einen von einer dicken Rüstung geschützten,
schlanken Oberkörper. Der Reiter trug eine Hose aus Mytril, einem
federleichten aber dennoch extrem widerstandsfähigen Stoff aus dem
Elfental Ohôn. Seine Stiefel bestanden aus braunem Drachenleder und
waren bedeckt mit ebenso braunem Mammutfell. Das Gesicht des Reiters war
versteckt zwischen einem roten Helm, der ebenfalls das Wappen von Abnakahr
trug, und seinem schwarzen Schal. Lediglich seine eisblauen Augen und der
Ansatz seines Nasenbeines waren zu sehen. Doch man erkannte trotzdem, dass
dieser Reiter ein Wüstenkrieger aus Abnakahr war. Denn der Teil seiner
Haut, den man trotz Helm und Schal sehen konnte, war sonnengebräunt
und aufgrund der eisigen Temperaturen rissig geworden.
Der mysteriöse Reiter stieg von seinem Ross und schlug seinen
Mantel zurück. Eine silberne Schwertscheide kam zum Vorschein. Der
Griff des Schwertes war aus Gold und hatte dasselbe Wappen wie Helm und
Umhang. Er nahm seinen Helm ab, ging geradewegs auf Corvus zu, blieb vor
ihm stehen und verbeugte sich leicht. Er hatte kurz geschorenes schwarzes
Haar, was allerdings an einigen Stellen schon einen leichten Ansatz von
grau aufwies. Dann sagte er:
"Seid mir gegrüßt, werter Zwergminotaurus. Mein Name
ist Ranthím. Ich bin im Auftrag des Königs von Abnakahr, König
Thio, unterwegs in das Dorf Syth. Könnt Ihr mir sagen, wie ich von
hier aus am schnellsten dort hingelange?"
"Wir wüssten nicht, warum wir das tun sollten, edler Ritter!",
funkte Rahl dazwischen. Er hasste Ritter. So wie er alle anderen Diener
des Königshauses von Abnakahr hasste. Sie hatten seine Vorfahren vertrieben
und sie gezwungen, in den Norden auszuwandern.
Ranthím schaute Rahl abwertend und spöttisch an. "Ich
kann mich nicht erinnern, mit Dir gesprochen zu haben, Du... Palthur."
Rahl wurde zornig. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Er wollte dem Ritter
an den Hals springen. Dann würde er erfahren, wie kräftig dieser
Palthur war. Doch Corvus hielt ihn am Arm fest, um ihn zu beruhigen. Dann
wandte er sich zu Ranthím.
"Nun, bevor ich euch den Weg nach Syth offenbare, möchte ich
zunächst etwas über eure Beweggründe erfahren. Was führt
Euch, einen Wüstenkrieger aus Abnakahr, in diese lebensfeindliche
und eisigen Ländereien?"
Er sprach mit Fremden immer sehr höflich. Ranthím schaute
nun auch Corvus mit einer gewissen Arroganz an.
"Ihr stellt verdammt viele Fragen. Ich dachte immer die Völker
Rubtaliahrs seien Fremden gegenüber immer sehr aufgeschlossen und
würden ihnen helfen, wo immer es ihnen möglich war."
"Das ist richtig. Da seid ihr richtig informiert. Doch müssen
uns die Fremden dazu auch vertraut genug erscheinen, damit wir ihnen helfen."
"Und wie kann ich Euer Vertrauen und das eures... Begleiters gewinnen?
Ich habe es nämlich sehr eilig. Ich bin im Auftrag des Königs
unterwegs."
"Ihr wiederholt euch, edler Ritter."
Ranthím wurde langsam sauer. Er würde es nicht zulassen,
dass dieser Zwergminotaurus ihn zum Narren hielt. Und dieser war schließlich
kein Mensch. Und wer kein Mensch war, konnte die Menschen und ihre Beweggründe
nicht einmal annähernd verstehen. Doch er hielt seinen Zorn im Zaum.
Na gut, dachte er. Du willst spielen, dann spiel ich eben mit.
"Also gut", sagte Ranthím schließlich. "Meinen Namen
wisst ihr ja bereits. Wie lautet Euer Name? Und wie nennt sich euer Begleiter?"
Corvus erkannte sofort, was Ranthím vorhatte. Er wollte sich mit
oberflächlichen Floskeln sein und Rahls Vertrauen erschleichen. Doch
er war ja nicht dumm. Also spielte er das Spielchen mit.
"Mein Name ist Corvus Runghold. Und das ist Rahl." Er zeigte auf
Rahl.
"Schön.", sagte Ranthím ungeduldig. "Jetzt wo wir uns
kennen, Corvus, kannst Du mir sicherlich den Weg nach Syth zeigen."
"Nein. Dazu kenn ich Euch noch nicht gut genug, Ranthím."
Das reichte. Ranthím hatte genug von diesem Zwergminotaurus und
seiner Missgeburt von Begleiter.
"Also jetzt hab ich genug. Dann finde ich den Weg eben alleine.
Warum hab ich überhaupt gefragt? Es war ja klar, dass ein Zwergminotaurus
und ein Palthur mir nicht helfen können." Und mit diesen Worten setzte
er sich seinen Helm auf, schwang sich auf sein Pferd und ritt geradewegs
auf den Rand der Lichtung zu.
"Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun, edler Ritter!", rief
Corvus ihm zu. Doch Ranthím schenkte ihm keine Beachtung. Er ritt
immer weiter auf den Wald zu. Corvus rief ihm wieder zu: "Das meine ich
ernst, Ranthím. Ich würde nicht ohne Begleitung in diesen Teil
des Waldes reiten!" Ranthím drehte sich genervt um und schaute Corvus
völlig desinteressiert an.
"Und warum sollte ich das deiner Meinung nach nicht tun? Gibt es
dort irgendwelche 'Monster', vor denen ich mich hüten sollte?" Er
erwartete keine ernsthafte Antwort.
"Nicht nur. Dieser Teil des Waldes ist so überwuchert und mit
soviel Schnee bedeckt, dass man sich ohne irgendwelche Kenntnisse über
dieses Gebiet hoffnungslos verirrt. Und dann wärt Ihr ein gefundenes
Fressen für die Feuerkeiler und Eiswölfe, die in diesem Teil
des Waldes ihre Jagdgründe haben." Ranthím überlegte.
Einerseits hatte er es verdammt eilig und musste unbedingt nach Syth. Aber
andererseits war er ohnehin schon viel zu sehr in Zeitverzug geraten und
konnte es sich ebenfalls nicht leisten, von irgendwelchen wilden Tieren
angefallen oder gar gefressen zu werden. Er hatte seinen Auftrag schließlich
vom König höchstpersönlich erhalten. Und daran erinnerte
er sich noch ganz genau; als wenn es gestern gewesen wäre.
© Ithil
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