Die alte Geschichte von Ithil
Kapitel 4: Der Feldherr

Ranthím war Oberbefehlshaber der Königlichen Armee, der Kyrias, und somit Freiherr von Abnakahr. Und das machte ihn gleichzeitig zu einem indirekten, aber ranghohen Mitglied der Königsfamilie. Und für diesen "Posten" hatte er hart gearbeitet. Schon als Vierzehnjähriger hatte er sich freiwillig bei den Kyrias gemeldet, um sich zum Soldaten ausbilden zu lassen. Damit brach er zwar seiner Mutter das Herz, aber so konnte er sie zumindest teilweise entlasten. Denn er war das drittälteste Kind von insgesamt zehn Kindern. Und wenn er zum Militär ginge, würde seine Mutter nur noch neun Kinder anstelle von zehn durchfüttern müssen. Wo oder wer sein Vater war, wusste er nicht. Und er wollte es auch nicht wissen. Es graute ihm vor dem Gedanken, was er machen würde, wenn er ihn auf der Straße erkennen würde; ob er ihm um den Hals fallen würde oder ob er ihn sofort niederstrecken würde. Aber solche Gefühle waren, so hatte er während seiner Ausbildung gelernt, ein Zeichen von Schwäche. Und diese durfte man auf dem Schlachtfeld nicht zeigen. Denn das bedeutete den sicheren Tod. Seine Ausbilder hatten zu ihm gesagt: "Wenn Du dich daran hältst, Ranthím, wirst Du eines Tages vielleicht ein großer Heeresführer werden." Und daran hielt Ranthím fest. Und letztendlich war das der Grund, warum er zum Oberbefehlshaber der Kyrias wurde. Und gleich an seinem ersten Tag konnte er beweisen, was er konnte.
Es war ein milder Tag im Winter. Abnakahr befand sich im Krieg mit dem benachbarten Arnà. König Thio von Abnakahr hatte vor, mit Arnà ein politisches und militärisches Bündnis einzugehen. Somit würden sie die gemeinsame Grenze zum Land Krehl kontrollieren und hätten eine größere Chance in einem eventuellen Krieg gegen Krehl zu bestehen. Doch der Großherzog von Krehl, Herzog Modt, war der Cousin des Königs von Arnà. Und somit war ein Bündnis von vornherein völlig ausgeschlossen. Doch König Thio versuchte es immer wieder. Und König Malur von Arnà wies jeden Vorschlag für ein Bündnis vehement zurück. Doch eines Tages machte Malur Thio mehr als deutlich klar, dass es nie zu einem Bündnis zwischen den zwei Wüstenstaaten Abnakahr und Arnà kommen wird.
Thio, der als äußerst hartnäckig galt, wenn es darum ging, seine Ziele durchzusetzen, schickte erneut seinen Diplomaten in den Palast von Malur. Der Diplomat hatte etliche Geschenke, darunter seltene Gewürze und Stoffe, die man nur in Abnakahr bekam, für Malur dabei. Malur empfand dies als "Gipfel der Dreistigkeit" und ließ die Geschenke auf einen großen Haufen legen und verbrannte sie. Die übrig gebliebene Asche füllte man in einen schlichten Zinnkrug, legte diesem einen provokativen Brief bei, und gab das dem Diplomaten, den man kurz zuvor zusammen geschlagen hatte. Als dieser dann halb tot vor Hunger und Durst im Palast Thios ankam, soll dieser gerufen haben: "Das ist genug! Jetzt gibt es Krieg!" Er schickte eine Hand voll Soldaten, gekleidet in Uniformen, wie man sie von den Offizieren aus Arnà kannte, und ließ sie einen seiner landeseigenen Grenzposten zerstören. Dann schob er die Schuld Malur in die Schuhe und erklärte in einem Brief an den König, dass er diesen Übergriff als Kriegserklärung empfand.
Es begann eine Welle der Einberufungen in beiden Ländern. Allen halbwegs kräftig gebauten Männern zwischen 17 und 50 Jahren kam ein Einberufungsbefehl zu, der sie aufforderte, sich umgehend bei der nächsten Kaserne zu melden, um dort die Ausbildung zu beginnen. Viele von ihnen mussten zwangsweise abgeholt werden, weil sie entweder schon Väter waren oder noch bei ihren Eltern lebten und nicht weg wollten. Doch es hatte keinen Zweck. Sie mussten weg. Doch das war nur in Arnà so. In Abnakahr waren die Männer patriotisch genug, um sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Und so kamen in Abnakahr innerhalb von drei Monaten über 200.000 Männer zusammen, die im Krieg dienen wollten, oder mussten. Und Ranthím war einer von ihnen. Er wollte sein Land und seinen König verteidigen. Jeder wollte das. König Thio war ein beliebter König. Er war es, der die Kosten für eine schulische Grundausbildung von sieben Jahren aus der Staatskasse bezahlen ließ. Somit war es jedem Kind möglich zur Schule zu gehen. Er schuf die Sklaverei ab. Damit traf er vor allem beim Adel auf heftigen Widerstand. Doch Thio ließ sich nicht ins Werk pfuschen. Er sonderte gnadenlos jeden Adligen aus, der ihn und seine Ziele nicht zu hundert Prozent unterstützte. Viele Adlige landeten im Gefängnis oder wurden des Landes verwiesen. Die Bürger hatten nun auch die Möglichkeit in den Adel aufzusteigen. Das und noch einiges mehr machten Thio zu einem beliebten und geachteten Herrscher in Abnakahr.
Doch nun wurde am König gezweifelt. Die Notwendigkeit des Krieges wurde in Frage gestellt. Doch das interessierte Thio nicht im Geringsten. Er nutzte das "Notbestimmungsrecht" und erließ ein Gesetz, was den Dienst in der Armee zur "Bürgerpflicht" machte. Und es dauerte nicht lange, da ereilte den König eine Nachricht seiner Spione, wonach zufolge ein Bataillon von mindestens 50.000 Männern auf dem Weg nach Abnakahr war. Thio ließ nach Ranthím rufen und wies ihn an, das Heer bereit zu machen, um den Angriff zurück zu schlagen. Und Ranthím tat, wie ihm geheißen. Und nun stand er hier auf einem Hügel, blickte Richtung Osten und rief einem Späher zu:
"Kannst du schon was sehen?"
"Nein. Noch nicht.", antwortete dieser.
Ein Soldat kam dazu. Er sah noch sehr jung aus. Ranthím schätzte ihn auf nicht älter als zwanzig. Er kam geradewegs auf ihn zu und fragte:
"Gibt es schon was zu sehen, Herr?"
Ranthím seufzte. "Nein. Leider noch nicht."
"Werden wir denn wohl bald mit ihnen rechnen müssen?"
"Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht allzu bald."
"Warum? Wir haben ein mindestens genauso starkes Heer wie der Feind. Wir werden keine Probleme haben, sie zu erledigen."
"Du solltest dich mal reden hören! Wie heißt du?"
"Lutz, mein Herr. Lutz Dannsson, mein Herr."
"Nun, Lutz, wie lange dienst du schon im Namen des Königs?"
Lutz überlegte. "Ich habe einen der ersten Einberufungsbefehle erhalten, mein Herr."
Ranthím lachte. "Das heißt, du bist nicht länger als drei Monate ein Soldat. Drei Monate!" Er lachte wieder.
"Drei Monate! Du hast ja noch nicht mal Kampferfahrung!"
"Nein, mein Herr, aber die Offiziere sagen, dass..." Ranthím winkte ab. Er sah Lutz durchdringend an. Dann sagte er zu ihm: "Glaub mir, mein Junge. Wenn es erst einmal losgeht, dann..." Er wurde jäh unterbrochen.
"Truppen in Sicht! Truppen in Sicht!" Ranthím kletterte auf den Baum, wo der Späher von eben saß. Dieser reichte Ranthím sein Fernrohr. Ranthím schaute hindurch. Tatsächlich, dachte er. Man konnte eine viereckige Masse erkennen, die sich langsam aber stetig auf den Hügel zubewegte, wo er sich mit seinen Truppen befand. Und ganz vorn sah man die Fahne von Arnà: Weiß, mit einem roten Wolf, der sich triumphierend aufbäumte und das Maul aufriss. Ranthím rief Lutz zu: "Hey! Lutz! Sag den Offizieren Bescheid. Sie sollen ihre Männer vorbereiten! Schnell!" Lutz rannte los, so schnell er konnte. Ranthím stieg vom Baum und lief den Hügel auf der Westseite runter in sein Zelt und holte seinen Schild und sein Schwert. Als er aus seinem Zelt raus kam und auf sein Pferd steigen wollte sah er, wie mindestens fünf seiner Späher durch die Zeltreihen seines Lagers ritten und immer wieder riefen: "Feind in Sicht!"
Schon bald war jeder auf seinem Pferd und kampfbereit. Die Truppen Abnakahrs hatten ihre Gefechtsstellung eingenommen. Die ersten sieben Reihen bildeten die Bogenschützen, die als die besten im ganzen Süden galten. Drei Offiziere ritten zu Ranthím hin, der gerade durch sein Fernrohr schaute. Sie nahmen ihre Helme ab. Einer von ihnen, ein schlaksiger Mann älteren Jahrgangs, tippte Ranthím auf den Helm. Er drehte sich um.
"Was gibt es denn noch? Zurück in eure Reihen!" Die anderen setzten zum Sprechen an, doch der Ältere ergriff das Wort.
"Herr, wir haben Zweifel. Die Männer machen sich vor Angst in die Rüstung. Viele von ihnen haben noch nicht einmal Erfahrung im Kampf und..." Ranthím setzte das Fernrohr ab und schaute den Älteren streng an.
"Xavier. Ich kann dir versichern, dass wir siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen werden."
Einer der beiden anderen beiden Offiziere ergriff das Wort.
"Herr, wir haben Zweifel, dass..." Ranthím unterbrach ihn. Er hatte schon wieder genug von diesen nervenden Offizieren.
"Ich aber nicht. Zweifel führt unweigerlich zu Angst. Und Angst ist der größte Feind des Soldaten. Wenn eure Männer Angst haben, werden sie die ersten sein, die ihr Blut lassen müssen. Macht ihnen das klar. Und jetzt zurück in eure Reihen. Der Feind ist nah." Er schaute wieder in sein Fernrohr. Jetzt sprach der dritte Offizier: "Aber Herr..." Ranthím schaute ihn durchdringend und genervt an.
"Ich habe euch gerade einen Befehl gegeben! Und diesem Befehl habt ihr Folge zu leisten! Wir sind im Krieg! Oder wollt ihr allesamt wegen Befehlsverweigerung öffentlich hingerichtet werden? Das lässt sich sehr schnell organisieren!" Die Offiziere schüttelten nur still ihre Köpfe.
"Na also!", blaffte Ranthím sie an. "Und jetzt zurück in eure Reihen! Und zwar plötzlich!" Sie schauten sich alle drei an, wendeten ihre Pferde und ritten in ihre Reihen zurück. Ranthím schüttelte seinen Kopf und schaute wieder in sein Fernrohr. Nach kurzer Zeit reckte er seinen Kopf nach rechts und rief: "Erste Bogenschützreihe: Fertig machen!" Die erste der sieben Reihen von Bogenschützen trat drei Schritte vor. Ranthím gab die Anweisungen.
"Bögen spannen! Anlegen! Zielen!" Jetzt wartete er, bis die Truppen Arnàs dicht genug waren, damit er den Schussbefehl geben konnte. Jetzt wies er die anderen sechs Reihen an, dieselbe Stellung einzunehmen. Er hob seine rechte Hand. Er zitterte. Schweiß rann ihm über die Stirn. Seine Hand hielt er jetzt hoch in den Himmel gereckt. Das Kampfgebrüll seiner Feinde wurde nun immer lauter. Seine Finger zuckten. Er riss seine Hand runter und rief gleichzeitig: "FEUER!" Nicht mal eine Sekunde später flogen 50 Pfeile gen Osten. Er sah, wie die ersten Feinde zu Boden fielen. Die gegnerischen Truppen beschleunigten ihr Schritttempo. Jetzt stand die zweite Reihe der Bogenschützen vorne. Ranthím rief wieder: "FEUER!" Und erneut flogen 50 Pfeile in Richtung Feind. Ranthím drehte sich mit seinem Pferd um. Er ritt an einem Offizier vorbei und nickte ihm zu. Dieser verstand, ritt nach vorne und gab weitere Befehle an die Bogenschützen.
Ranthím ritt zu seinen Truppen, nickte einmal in die Runde und rief: "Fertig machen zum Angriff! Und los!!!" Mit einem ohrenbetäubenden Kampfgebrüll ritten zirka 60.000 Männer in Richtung Osten und geradewegs auf den Feind. Inzwischen flog die siebente und damit letzte Salve von Pfeilen auf die Feinde aus Arnà zu. Die Bogenschützen liefen ein kleines Stück den Hügel in Richtung Westen runter, nahmen sich Schild und Schwert, schwangen sich auf die dort bereit gestellten Pferde und ritten zu ihren Leuten.
Es war eine lange und grausame Schlacht. Viel Blut ist geflossen. Viele Männer starben. Ranthím alleine streckte über 200 Männer nieder. Doch freuen konnte er sich darüber nicht. Abgesehen von der Stichwunde, die ihm ein Ritter aus Arnà am Bauch zugefügt hatte, zerbrach er fast an dem Gedanken, dass er über 30.000 Männer verloren hatte.
Als die Schlacht vorüber war, befahl er den Männern, die noch am Leben waren und sich halbwegs sicher auf dem Pferd halten konnten, die Verwundeten ins Lager zu bringen und so gut es ging zu versorgen. Als diese dann damit fertig waren, musste Ranthím den Befehl geben, den jeder Feldherr geben musste, wenn auch nur ungern. Die übrig gebliebenen Männer mussten die Toten zählen und sortieren, nach eigenen Männern und nach feindlichen. Die Leichen der Feinde mussten unverzüglich auf einen Haufen gelegt und verbrannt werden. Die eigenen Leute mussten nebeneinander gelegt werden, damit man die Leichen in den Palast bringen und später den Familien übergeben konnte.
In der Hauptstadt von Abnakahr, in Akrim, feierte man den Sieg über die feindlichen Truppen. Doch die Männer der Armee König Thios litten unter der Schlacht. Die restlichen Überlebenden der Schlacht wurden alle höchstpersönlich vom Stellvertreter des Königs in dessen Namen für ihre Heldentaten geehrt. Doch das war nur ein schwacher Trost für Ranthím und seine Männer. Doch ihnen blieb nicht viel Zeit für Frust oder ähnliche Gefühle. Denn diese grässliche Schlacht war nur die erste von vielen. Abnakahr befand sich schließlich im Krieg. Und diese Schlacht war eine von vielen. Fünf Jahre lang ließ Thio die Truppen unerbittlich aufmarschieren. Er hatte große Teile von Arnà erobert. Doch nun sollte er auf einen erbitterten Widerstand treffen. Denn König Malurs Cousin, Herzog Malesch von Kehl, sicherte seinem Vetter die bestmögliche militärische Unterstützung zu. Und so kam es, dass der Krieg sich unnötig in die Länge zog. Er wurde zum längsten Krieg in der Geschichte Abnakahrs. Und Ranthím war es leid seit zehn Jahren für Tod, Verwüstung, Verzweiflung und großes Leid zu sorgen. Doch der Offizier Xavier, der von Anfang an mit ihm im Krieg und inzwischen sein bester Freund war, sagte immer wieder zu ihm:
"Es ist nicht deine Schuld, dass alle so leiden. Du führst doch nur Befehle aus."
Doch Ranthím konnte sich damit nicht abfinden. Er machte aber trotzdem weiter. Denn wenn er die Befehle des Königs zu Kriegszeiten verweigern würde, musste er umgehend geköpft werden. Aber er hatte Glück. Man gewährte ihm einen Monat Urlaub. Also ritt er an die Küste der Region Ukrâhl, in das kleine Dorf Reblis. Das lag genau am Alten Meer. Die Luft war frisch und klar. Eine nahezu perfekte Stille herrschte den ganzen Tag über im Dorf. Nur das Rauschen des Meeres und die Möwen waren den ganzen Tag über zu hören. Gelegentlich hörte man die Wagen der Händler über das Pflaster des Dorfes rattern. Doch zwischen all diesen wohltuenden und entspannenden Geräuschen hörte Ranthím die Geräusche des Krieges. Das Kampfgebrüll, das Klirren von Schwertern, die Schreie der Sterbenden und Verwundeten. All das schwirrte in Ranthíms Kopf herum und verursachte Kopfschmerzen bei ihm. Er ging den ganzen Tag über am Strand spazieren oder schwamm im Alten Meer. So konnte er, wenn auch nur für kurze Zeit, die Schrecken des Krieges vergessen und in seine eigene Welt und Gedanken versinken.
Doch als er noch nicht einmal die Hälfte seines Urlaubs rum hatte kam ein Mann auf ihn zu geritten. Ranthím seufzte, als er erkannte, was dieser Mann trug: eine Diplomatenuniform aus Abnakahr. Der Mann hatte sich als Leed vorgestellt. Er ritt auf Ranthím zu und blieb kurz vor ihm stehen. Dann stieg er vom Pferd, verbeugte sich und sagte:
"Seid gegrüßt, edler Herr. Mein Name ist Leed. Ich bin oberster Diplomat von Thio, König von Abnakahr. Seid ihr Ranthím, Freiherr von Abnakahr und Oberbefehlshaber der Kyrias?"
"Ja das bin ich. Worum geht es?"
"Nun, ich habe hier ein Schreiben vom König persönlich." Er reichte Ranthím eine vergoldete Pergamentrolle. Ranthím rollte sie auf. Im Kopf des Schreibens befand sich das Symbol von Abnakahr. Die Rolle war in einer schnörkligen, aber dennoch sauberen Schrift beschrieben:

Sehr geehrter Feldheer Ranthím,
als erstes möchte ich Ihnen im Namen unseres gesamten Volkes für ihre Dienste im Krieg gegen unsren Feind, das Volk Arnà, danken und Ihnen meine persönlichen Glückwünsche für Ihre weitere berufliche und  private Zukunft.
Es bereitet mir jedoch den größten Kummer und die schlaflosesten Nächte, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie ihren Urlaub, so Leid es mir auch tut, abbrechen müssen. Denn ich habe einen Auftrag für Sie, der Sie aus unserem Land führen wird. Genaueres werden Sie allerdings erst im Schloss in Akrim erfahren.
Bitte brechen Sie unverzüglich auf.
Hochachtungsvoll, Ihr Herrscher und König Thio von Abnakahr vom Geschlecht der Tossa

Als Ranthím sich den Brief durchgelesen hatte, lachte er leise aber abwertend. Dieser Schleimer, dachte er. Anstatt so rumzusülzen sollte er sich angewöhnen in seinen Briefen lieber gleich zur Sache zu kommen. So wie er es zum Beispiel in den Einberufungsbefehlen tat. Ranthím rollte das Pergament zusammen, gab es Leed zurück und sagte dann schließlich: "Sag dem König, ich werde mich sofort auf den Weg machen." Leed verbeugte sich tief, stieg auf sein Pferd und ritt sofort zurück nach Akrim. Ranthím packte inzwischen schwermütig seine Sachen und ritt nach Akrim. Als er vor den Toren des Palastes stand, wurde er sofort von zwei Wachen empfangen. Einer pfiff nach einem Stalljungen, der sich um das Pferd kümmern sollte. Dann baten sie Ranthím ihnen zu folgen. Sie gingen in die Einganghalle. Diese war lang. Der Boden bestand aus großen Marmorplatten, die nahtlos aneinander gelegt waren. Die Decke der Halle wurde von achtzehn Marmorsäulen getragen, die aus dem Boden zu wachsen schienen, neun links und neun rechts. Am Sockel und am oberen Ende hatten sie einen etwa handbreiten goldenen Streifen, der ein seltsames Blumenmuster hatte. Die Wände waren mit schweren Wandteppichen behangen. Die Motive der Teppiche zeigten die Gründungsgeschichte von Abnakahr. Unterbrochen wurde diese Teppichwand von mehreren großen Fenstern, deren Rahmen buntes Glas einfassten und aus dem Boden der Halle einen Spielplatz der Farben und bizarren Formen machten.
Die Wachen führten Ranthím an das Ende der Halle und stiegen die große Treppe hoch und bogen ungefähr bei der Hälfte der Treppe nach links ab. Dieser Gang hatte keine Fenster. Er war nur mit Fackeln auf beiden Seiten beleuchtet. Diese spärliche Beleuchtung verschaffte dem Gang eine unangenehme und bedrohliche Tiefe, die sich in einem schwarzen Nichts verlor. Ranthím hatte das Gefühl, dass dieser Effekt durch das schlichte graue Mauerwerk und die massiven Holztüren auf beiden Seiten des Ganges nur noch verstärkt wurde. Er schwitzte und ihm war schlecht. Übergeben wollte er sich. Er wollte raus aus diesem Gang, raus ins freie, dorthin, wo die Luft nicht so stickig und verbraucht war, wie hier in diesem Gang. Doch sie gingen weiter. Bis ans Ende des Ganges, wo sie nach rechts auf eine weitere Treppe abbogen. Und so ging es noch eine Weile weiter. Immer wieder nach links oder rechts, immer wieder neue Treppen rauf und immer wieder in neue Gänge wurde Ranthím geführt. Er hatte aufgehört zu zählen. Und irgendwann standen sie vor einer großen Holztür. Die Scharniere dieser Tür waren mannshoch und wahrscheinlich aus purem Gold. An einigen Stellen waren sie mit Diamanten besetzt. Einer der Wachmänner klopfte dreimal an und ging hinein. Wenig später kam er wieder heraus, nickte dem anderen Wachmann zu und sagte zu Ranthím:
"Ihr dürft jetzt herein, edler Herr. Der König wird euch nun empfangen." Die Wachmänner verbeugten sich leicht und gingen.
Ranthím trat ein und kam in einen Raum, der noch luxuriöser war, als es die Eingangstür jemals hätte erahnen lassen. Er war warm vom riesigen Kamin, der mit großen Flammen brannte. Ein schwerer roter Vorhang verdeckte den komplett aus Marmor erbauten Balkon. Die Wände waren mit teuren Gemälden und Wandteppichen aus Rubtaliahr behangen. Ranthím betrachtete sie mit Interesse.
 

© Ithil
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