Hagen Derrih war ein hagerer Mann Anfang 30 mit den stechendsten
Augen, die ein Mensch haben konnte. Seine Gesichtszüge waren hart
und eine Narbe zierte seine zweimal gebrochene Nase. Sein mittelblondes,
von grauen Strähnen durchzogenes Haar, welches er ordentlich auf 9mm
gestutzt hatte, kennzeichnete sein bewegtes Leben. Aufgewachsen im Elendviertel
der Stadt Kardos hatte er früh den Umgang mit Dolch und Wurfmesser
gelernt und sich mit 14 Jahren bei den Soldaten der Stadt eingeschrieben.
Nun saß er jedoch mit vor Anstrengung dunkelrotem Gesicht in
der Schenke der Soldatenunterkunft. Sein Gegenüber hatte ebenfalls
eine unnatürlich rote Farbe im Gesicht. Doch schaffte er es nicht,
Hagens Arm auch nur ein Stück zu bewegen. "Los Elos!" feuerten die
umstehenden Soldaten den muskulösen Mann an. "Du wirst dich doch nicht
von diesem Schwächling besiegen lassen!" Aber Hagen war nicht ohne
Grund der amtierende Meister im Armdrücken. Langsam, aber beständig,
zwang er Elos Hand auf den Tisch.
Selbstgefällig lehnte Hagen sich zurück und grinste die
entsetzten Gesichter an. "Wo bleibt mein Geld?" fragte er schließlich
in die Stille. "Wie ich sehe, habt ihr alle falsch gewettet!" Mürrisch
schob einer der Soldaten ihm die Schüssel mit den Wetteinsätzen
zu. "Mein halber Sold!" beschwerte sich ein anderer, doch Hagen überhörte
diese Worte geflissentlich. Ohne sich um die wütenden Blicke seiner
Kameraden zu scheren, zählte er das Geld laut durch. "...achtundzwanzig,
neunundzwanzig." Dann grinste er wieder. "Das hat sich doch gelohnt: Zehn
in Silber und neunundzwanzig in Kupfer!"
"Hagen!" Der Soldat drehte sich zu dem leisen Wispern herum. In dem
schwarzen Schatten der Hauswand war die Frau, der die Stimme gehörte,
nicht zu erkennen. "Tia." antwortete er ebenso leise und trat zu seiner
Geliebten in den Schatten. Tia war die 16jährige Tochter des Stadtgrafen
und deshalb trafen die beiden sich nur nachts und im Geheimen. Als er sie
umarmte und küssen wollte, befreite sie sich nachdrücklich von
ihm.
Du musst von hier weg." sagte sie beschwörend. Hagen zog die
rechte Augenbraue in die Höhe. "Warum?" Sie starrte zu Boden und überlegte
kurz die rechten Worte. "Vater hat von unserer Beziehung erfahren." Hagen
keuchte und fuhr zurück. "Aber woher!?" - "Einer deiner Kameraden
ist vor einer halben Stunde zu Vater gekommen. Mir kam das seltsam vor,
deswegen habe ich gelauscht. Er hat es Vater erzählt." Hagen knurrte
wütend. "Du musst sofort weg!" beschwor Tia ihn. "Sie wollen dich
verhaften, sobald du deine Unterkunft betrittst." Dann sah sie wieder zu
Boden. "Ich habe dafür gesorgt, dass ein Pferd mit Geld, Proviant
und Waffen vor dem Geheimgang wartet. Meine Dienerin ist vertrauenswürdig,
sie wird nichts verraten."
Hagen sah das junge Mädchen gerührt an und wusste nicht,
was er über so viel Fürsorge sagen sollte. Sie hielt nicht nur
bis zum letzten Augenblick an ihm fest, sie riskierte sogar ihr Leben,
nur um einen armen Soldaten vor dem Tod am Galgen zu retten. "Du hast etwas
besseres Verdient, als mich alten undankbaren Kämpfer", brachte er
schließlich erstickt vor. "Ich danke dir aus tiefstem Herzen und
werde jeden Tag für dich beten." Er küsste sie ein letztes Mal
liebevoll, dann drehte er sich um und machte sich auf zur Flucht. Und obwohl
er ihr wehmütiges Schluchzen hörte und es ihn schmerzte, zwang
er sich, sich nicht zu ihr umzudrehen.
Tias Warnung und Hilfe verschafften Hagen einen Vorsprung von 10
Stunden. Und da er auch nicht Halt machen musste, um für Essbares
zu sorgen, konnte er diesen Vorsprung auf knapp zwei Tage ausbauen, bis
er nach einer Woche die Stadt Etran erreichte. Etran lag im Königreich
Bahlria und war bekannt für die vielen dort ansässigen Schmuggler.
Und Hagen interessierte sich für die Schmuggler, besonders für
die, die ihn unerkannt von dem Nordkontinent schleusen konnten.
Da er wusste, an wen er sich wenden konnte, musste er nicht unnötig
viel Zeit damit verbringen, einen der Schmuggler mühsam aus seinem
Versteck zu locken. An der Tür eines schäbig aussehenden Hauses
blieb er stehen und klopfte an. "Ja?" ließ sich eine misstrauische
Stimme hören. "Mach auf, Mick!" antwortete Hagen befehlend. "Ich bin
es, Hagen!" Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann öffnete
sich die Tür einen Spalt und ein rattenähnliches Gesicht spähte
nach draußen.
Als Mick den Soldaten erkannte, öffnete er die Tür ganz.
"Komm herein", drängte er. "Ein Soldat vor meiner Tür ist nicht
gerade förderlich für meinen Ruf." Hagen trat ruhig ein und sah
sich aufmerksam um. Die Einrichtung war spartanisch gehalten, doch es lagen
einige Edelsteine auf dem Tisch, die bestimmt nicht ehrlich erworben waren.
"Wie ich sehe, kannst du das Schmuggeln nicht lassen", bemerkte er trocken.
Mick stieß ein Wimmern aus und wich zurück.
"Du hast mir versprochen, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich das mit
der Grafentochter nicht verrate!" heulte er auf. Hagen fiel in schallendes
Gelächter. Doch genauso plötzlich wurde er wieder ernst. "Ich
bin kein Soldat mehr", stieß er wütend hervor. Mick verzog das
Gesicht. "Ich habe dich gewarnt: Frauenheld zu sein ist schön und
gut, aber lass die Finger von verlobten Adelstöchtern!" Hagen knurrte
und setzte sich an den Tisch. "Wie lange brauchst du, um mich ausschiffen
zu lassen?"
Hagen saß auf einer Bank in einem Hinterzimmer, dessen Tür
gut versteckt war. Abwesend trank er Bier und starrte die vielen Schmuggelwaren
an. Fünf Tage, er war schon viel zu lange hier! In der Zwischenzeit
mussten seine Verfolger schon längst in Etran angekommen sein und
ihn unerbittlich suchen. Außerdem war er sich sicher, dass bereits
Steckbriefe von ihm mit Kopfgeld in jeder Schenke der Stadt angebracht
waren.
Als die Tür sich öffnete, war Hagen sich sicher, dass
es die Stadtwachen waren und griff zu seinem Schwert. Doch es war nur Mick,
der sich nervös hereinstahl. Unruhig blieb er stehen und trat von
einem Fuß auf den anderen. "Also gut", sagte er leise, "ich habe
einen Weg gefunden, dich auszuschiffen." Hagen lächelte erleichtert.
"Das wurde aber auch Zeit!" murmelte er. "Ich sitze hier auf glühenden
Kohlen!" - "Was soll ich dann sagen!?" winselte Mick. "Die machen jetzt
sogar schon Hausdurchsuchungen!"
Hagen zischte entsetzt. "Du musst noch heute nacht aufbrechen, sonst
finden sie dich bei mir!" fauchte Mick. "Geh nach Inderwn. Dort läuft
in drei Wochen die >Sternenstaub< nach Fai-ten aus. Der Kapitän,
Relow Fisk, ist mir noch etwas schuldig." - "Drei Wochen?" Hagen hob eine
Augenbraue. "Ich brauche allerhöchstens zweieinhalb." Mick nickte
ungeduldig. "Ja doch, ja! Unser Freund Marcel wird dich solange aufnehmen."
Hagen nickte dankbar. "Es tut mir leid, dich da mit hineinziehen zu müssen,
Bruder. Danke."
Aber Hagen hatte sich in der Zeit verschätzt. Zwar spornte er
sein Pferd zu dem schnellstmöglichen Tempo an, doch musste er jeweils
einen großen Bogen um Städte machen, was ihn wertvolle Zeit
kostete. So kam er erst einen Tag, bevor das Schiff auslegte, in Inderwn
an. Müde von dem wochenlangen Ritt, begab er sich zu seinem Jugendfreund
Marcel, obwohl er nicht wusste, wie er unerkannt an den Wachen vorbeigekommen
war.
Marcel erwartete ihn bereits und zog ihn nervös in sein Haus,
als er anklopfte. Marcel war Ende dreißig und die Schmugglergeschäfte,
sowie sein Alter hatten ihm übel mitgespielt. Marcel war gedrungen,
das Gesicht faltig und die Haare eher weiß als grau. "Du stellst
Sachen an!" war seine Begrüßung für Hagen und bei diesen
wenigen Worten blieb es den Rest des Abends. Während Hagen sich an
den aufgetischten Speisen gütlich tat, sah Marcel sich unruhig im
Raum um, als erwarte er, einen versteckten Soldaten ausfindig machen zu
können.
Am nächsten Morgen stand Hagen noch vor Sonnenaufgang auf und
legte seine Sachen griffbereit neben sich. In den vergangenen fünf
Wochen hatte er sich daran gewöhnt, ständig wie ein gejagtes
Tier fluchtbereit zu sein. Seinen Dolch legte er kaum mehr aus der Hand,
wenn er an einem Ort länger als fünf Minuten verweilte. So spielte
er auch an diesem Morgen nervös mit seiner Waffe, während er
auf Marcel wartete.
Marcel jedoch kam erst mehrere Stunden nach Sonnenaufgang in das
Zimmer. Hagen sah auf den ersten Blick, dass er sich am Vorabend betrunken
haben musste, er sah wirklich übel aus. Ein wenig schämte Hagen
sich ja, dass er seinen Freund soviel Nerven kostete. Plötzlich blinzelte
Marcel verwirrt. "Oh", machte er. "Ich habe gestern vergessen zu sagen,
dass das Schiff mit der ersten Flut des Morgens ausläuft..." - "Was!?"
schrie Hagen. Erschrocken packte er seine Sachen und stürmte zur Tür.
"Ich verpasse mein Schiff!!"
© Dragonsoul
Lianth
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