Der König der Drachen von V.Geist
- 29 -
Das Grauen geht weiter

Marlin bahnte sich seinen Weg durch die Menge, die auf den Stufen zum Palast stand, sie alle wollten nach oben und den Neuen König sehen. Die drei erreichten schließlich die Plattform des Platzes. Nirgar stand nicht weit entfernt. Lester und Shyla standen bei ihm.
"Hey."
Nirgar drehte sich um. Marlin und die anderen beiden stellten sich zu ihnen.
"Was machen die hier? Wollen die wirklich so ne Art Armee gründen."
"Ja. Sie scheinen ziemlich überzeugt zu sein."
Marlin schüttelte den Kopf.
"Sicher könnten sie nützlich sein. Aber nicht, wenn sie nur sinnlos auf den Feind zu laufen. Das wird nichts bringen."

Die Straßen waren leer. Alles dunkel. Die Wände der riesigen Höhle waren nicht mehr von Fackeln und Feuern erleuchtet, wie sonst immer. Finsternis hatte sich über die Stadt gelegt. Nur durch die Öffnung weit über dem Boden schienen die Sonnenstrahlen in das Gewölbe, und erhellten den Königsplatz. Darans Schatten fiel auf den Platz vor dem Unteren Palast. Die Sonne konnte an seinem riesigen Körper nicht vorbei. So lag der halbe Platz im Dunkeln. Tarohn schritt langsam über den steinernen Boden. Ruhig, fast traurig betrachtete er die Gegend um sich herum. Dies war sein Königreich gewesen. Ein Königreich im Schatten. Er würde es ausweiten. Dieser Ort sollte der neue Mittelpunkt seiner Welt werden. Wenn er zurückkehrte, sollten wieder Fackeln brennen und die Stadt sollte erfüllt von Leben sein. Doch erst galt es zu kämpfen. Die letzten Dunkelelfen, die auf Tarohns Seite standen, waren schon gestartet. Die Luftschiffe stiegen aus der Höhle auf, glitten durch die Öffnung der Decke und nahmen ihre Formation ein. Der Strom an Schiffen nahm kein Ende. Tarohn sah den Kriegern nach, bereit für den letzten Feldzug. Es war nur noch ein Bruchteil der Armee, die vorher das Volk der Dunkelelfen verteidigte, doch immer noch war es stark genug für einen Krieg. Erst recht mit Daran an der Seite. Tarohn sah zum Himmel auf. Er schloss die Augen und grinste die Sonne an. Ja. Er würde der Herrscher sein.

"Hört mir zu."
Die Menge wurde still. Der König sprach zum Volk.
"Es ist etwas passiert. Das Böse ist über uns gekommen. Die Dunkelelfen heben eine mächtige Waffe wieder zum Einsatz gebracht. Der Drache Daran."
Ein Aufruhr ging durch die Menge. Viele erfuhren erst jetzt davon. Die anderen wussten es schon vorher, hielten es aber nur für ein Gerücht. Die Bestätigung aus dem Mund des Königs zu hören musste ein echter Schock sein.
"Wir brauchen alle starken Männer, die wir kriegen können. Alle Kämpfer. Jeden einzelnen. Es kann sein, dass schon morgen diese Stadt in Trümmern liegt. Wir müssen einen Weg finden, wie wir unser Land und alles, was uns Lieb ist, gegen diese Monster verteidigen."
Lester kam sich irgendwie komisch vor hier. Mit Monster meinte der König nicht Tarohn und Daran. Er meinte alle Dunkelelfen. Ein Paladin war da keine Ausnahme. Er war der einzige hier, der einer von denen war. Alle anderen waren entweder Menschen oder Elfen. Wobei Menschen nur selten zu sehen waren.

Die Schiffe verdunkelten den Himmel. Eine Armee. Bereit für das letzte große Gefecht. Nun war es soweit.
"Und es solle sein ein Schatten, der sich über die Welt legt und die Unwürdigen ins Verderben stürzt."
Tarohn stand an der Spitze seines Flaggschiffs.
"Ich bin dieser Schatten."

Marlin sah über den Platz. Auf der anderen Seite konnte man zwischen Hausdächern hindurch auf die freie Waldfläche des Landes unter der Stadt sehen. Ein komisches Gefühl überkam ihn. Irgendwas stimmte nicht. Nur was. Nirgar sah ihn an.
"Was ist?"
"Ich weiß es nicht."
Die anderen wurden auch aufmerksam auf Marlin. Aber weder Lester noch Tala oder Cecil schienen irgend was vergleichbares zu spüren. Nur Shyla. Sie sagte nichts. Aber sie starrte in Marlins Blickrichtung. Raus auf die offenen Ebenen des Elfenlandes.
"Er kommt."
"Wer?"
Nirgar war besorgt. Die Vorstellung, dass Tarohn kommen würde, um die Stadt anzugreifen, jagte ihm Angst ein.
"Meinst du Tarohn?"
Sie schüttelte den Kopf. Der Elf war verwirrt.
"Doch."
Marlin mischte sich ein. Immer noch starrte er in die selbe Richtung.
"Daran kommt hier her."
Nirgar schreckte auf.
"Dann wird Tarohn bestimmt bei ihm sein."
Marlin spürte die Anwesenheit des Drachens förmlich. Shyla schien das ebenfalls zu tun. Ihre Schicksale waren viel zu eng miteinander verbunden.
"Schnell."
Nirgar rannte los. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, stieß Leute beiseite, die ihm im Weg standen. Er musste zum König. Musste ihn warnen. Shyla ging ein paar Schritte. Sie schien wie hypnotisiert.
"Shyla..."
Sie drehte sich zu Marlin um. Ihre Augen wirkten tot. Leer. Als hätte sie keine Pupillen mehr. Die weißen Augen blickten Marlin ausdruckslos an.
"Was tust du?"
Shyla drehte sich wieder zurück und ging langsam weiter.
Lester sah ihr besorgt nach. Dann sah er Marlin an. Keiner von ihnen wusste was los war. Tala ging Nirgar nach. Zu zweit sollten sie schneller sein.
"Macht Platz! Wir müssen hier durch."
Doch sie kamen nicht wirklich all zu schnell voran. Shyla hatte die Plattform des Platzes schon verlassen und war unten an den Stufen angekommen. Marlin drehte sich zu Lester.
"Ich werde ihr nachgehen."
"Wir kommen mit dir."
"Nein. Es ist besser, wenn ihr hier bleibt. Ich mach das schon. Kümmert ihr euch darum, dass der Platz geräumt wird. Der König muss auf jeden Fall informiert werden."
Kurz zögerten Cecil und Lester. Dann nickten sie.
"Wenn du meinst."

Marlin rannte die Treppen runter. Er hatte Shyla schon fast aus den Augen verloren. Doch da sah er sie wieder. Zwischen den ganzen Leuten war sie die einzige, die vom Palast weg ging, anstatt auf ihn zu. Er holte sie schnell ein und ging neben ihr. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Was war das? Hatte das etwas mit ihrer Aufgabe vom Drachenrat zu tun? Marlin drehte sich um, und sah zurück. Noch immer stiegen Leute die Stufen empor und drängten sich auf den Plätzen um und auf der Plattform. Hoffentlich würde Nirgar Erfolg haben. Marlin würde ihm gern helfen, doch was würde aus Shyla. In diesem Zustand konnte er es nicht riskieren, sie allein zu lassen.

Sie ging weiter ihren Weg. Wohin führte sie ihn? Marlin ging Shyla einfach nach. Sie schritten durch die Straßen und Gassen der großen Stadt. Der Weg kam Marlin bekannt vor. Sollte sie etwa zu den Landeplattformen wollen? Die Schreie und der Jubel der Menge, die auf dem Platz versammelt war, waren nur noch leise im Hintergrund zu hören. Nicht lange dauerte es, da kamen sie wirklich an den Plattformen an. Wie sollte es hier weiter gehen? Shyla ging einfach weiter auf den Rand zu.

Die Schiffe kamen näher. Schon waren sie in Sichtweite der Stadt. Nichts würde sie noch stoppen.

Lester und die anderen waren bis nach vorne durchgedrungen. Sie wollten hoch auf die Bühne des Königs, doch Soldaten versperrten ihnen den Weg.
"Lasst uns durch. Es ist wichtig."
Die Soldaten antworteten nicht. Darauf waren sie nicht Ausgebildet. Sie würden Nirgar nicht durchlassen. Lester schon gar nicht. Sie mussten sich beeilen. Nirgar sah Lester in die Augen, als würde er seinen Gedanken teilen. Aber war es eine gute Idee, ohne Waffen die Elitewachen des Königs anzugreifen? Zu spät. Hörner waren aus allen Teilen der Stadt zu hören. Die Armee hatte die herankommenden Feinde auch schon bemerkt.
 

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Wahre Macht

Die Hörner waren gut zu hören. Die Bürger der Stadt wussten, was sie erwartete. Marlin merkte das. Die Leute rannten durch die Stadt und füllten wieder die leeren Gassen. Frauen und Kinder brachten sich in Sicherheit. Die Männer liefen in ihre Häuser, kamen bewaffnet wieder raus, bereit zum Kämpfen. Marlin drehte sich wieder um. Shyla stand regungslos vor dem Abgrund, der sich unter dem Rand der Plattform erstreckte. Marlin ging etwas näher an sie heran. Sollte sie stürzen, dann wäre es aus mit ihr.

Die ersten Schiffe zur Gegenwehr flogen los. Sie sollten die Angreifer so lange wie irgendwie möglich aufhalten. Auch Gleiter verließen die Docks. Bürger, denen es zu gefährlich in der Stadt wurde, flohen. Sie nahmen nur das wichtigste mit sich und verließen so schnell wie möglich den schwebenden Felsen. Überall um Marlin herum liefen Leute über die Anlegeplattformen. Soldaten und Zivilisten. Alles war so unübersichtlich und hektisch. Marlin stand einfach nur da. Es machte ihn nervös, aber was sollte er tun? Shyla starrte einfach weiterhin in die Ferne. Die Schiffe der Dunkelelfen waren schon deutlich zu erkennen. Der Abgrund führte nur wenige Zentimeter vor Shylas Füßen in die Tiefe.

Nirgar sah sich auf dem Platz vor dem Palast um. Die Menge, die vor wenigen Augenblicken noch hier gestanden hatte, hatte sich fast komplett aufgelöst. Nur noch wenige liefen dort herum. Die meisten von ihnen, weil sie es mussten. Sie waren die Wachen des Königs, der sich schon beim ersten Horn in die schützenden Wände seines Palastes zurückgezogen hatte.
"Wir müssen gehen."
Nirgar sah sich nach den anderen um. Sie waren alle bei ihm.
"Suchen wir Marlin. Mehr können wir im Moment nicht tun."
Die Gruppe rannte über den Platz und erreichte die ersten Stufen.
Ein Ruck erschütterte den Boden. Wie ein Erdbeben durchzog es die Stadt. Risse machten sich im Boden breit. 
Nirgar stoppte. Was war das gewesen?
"Irgendwas hat die Stadt getroffen."
Nirgar sah zu Lester rüber.
"Lester. Was für Waffen haben die Dunkelelfen, die eine ganze Stadt auf einen Schlag so zum erbeben bringen können?"
Lester zögerte, dann schüttelte er den Kopf.
"Keine einzige."

Die Truppe war nur wenige Minuten gelaufen, da kamen sie schon nicht mehr weiter. Ein Riss hatte den Boden aufgerissen. Die Straße war unpassierbar. Nirgar und die anderen waren gezwungen, einen alternativen Weg zu finden. So rannten sie weiter die nächste Straße entlang. Eine zweite Erschütterung. Tala wurde von ihr überrascht. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Nirgar merkte es zu spät. Er, Lester und Cecil waren schon weiter gelaufen. Schnell drehte er um und kam Tala zur Hilfe. Sie hatte sich schon alleine wieder aufgerichtet, doch es schien was nicht zu stimmen. Die anderen beiden kamen auch. In diesem Moment spürten sie das dritte Beben. Der Boden riss auf. Tala und Nirgar stürzten in die Tiefe. Cecil warf sich an den Rand des Risses und blickte in die Tiefe.
"Nirgar!!"
Keine Antwort.
"NIRGAR!!"
Es dauerte kurze Zeit, doch dann vernahmen Cecil und Lester Nirgars Stimme.
"Alles in Ordnung."
Eine kurze Pause. Unten war nichts zu erkennen. Alles schwarz und finster. Dann meldete sich Nirgar wieder.
"Geht weiter. Sucht Marlin."

Was geschah hier? Marlin ging langsam zurück. Das ist doch nicht normal. Die Plattform, auf der er und Shyla gestanden hatten, war in die Tiefe gestürzt. Er hatte Glück gehabt. Aber dieses Licht. War das Shyla?
Ihr Körper schwebte etwa einen Meter über dem Boden. Sie war in eine Kugel von Licht getaucht. Es blendete Marlin geradezu. Die Kugel zog sich immer wieder etwas zusammen und weitete sich schlagartig wieder aus.
Es war, als würde sie pulsieren.

Nirgar beugte sich zu Tala runter.
"Geht’s?"
Tala stand auf. Ihr Knöchel schmerzte. Aber sie konnte es ertragen.
"Ja."
Sie sahen sich um. Von oben fiel etwas Licht in die Dunkelheit, die sie umhüllte. Sie waren in einer Art Tunnel.
"Was nun?"
"Ich weiß nicht."
Die Geräuschkulisse des Angriffs war hier unten nur schwach  zu vernehmen. Nirgar und Tala gingen los. Sie wussten nicht genau, wohin sie gingen, doch der Weg würde sie sicher irgendwo hin führen. Die Wände fühlten sich komisch an. Glatt und eben. Jemand muss das gebaut haben. Natursteine sind nie glatt. Zumindest nicht so. Das Licht reichte, um den Boden etwas zu sehen, auch er war eben. Bis auf ein paar Brocken Felsen, die von oben herunter gefallen waren, als der Riss entstand. Tala hielt sich beim gehen an Nirgars Schulter fest. Ihre Verletzung war nicht so schlimm, dass sie nicht selbst laufen könnte, aber so fühlte sie sich sicherer. Außerdem konnten sie sich so nicht in der Dunkelheit verlieren.

Ein Sprung und der Riss war überwunden. Es wurde zu einem Spurt. Die Füße hörten nicht mehr auf zu rennen. Hindernisse mussten so schnell wie möglich überwunden werden. Die ersten Schiffe der Dunkelelfen hatten sich den Weg bis zum Rande der Stadt freigekämpft. Die Zeit lief ihnen davon. Lester und Cecil rannten nebeneinander her eine breite Straße runter. Auf der rechten Seite standen keine Häuser. Man konnte auf die Ebenen des Tals um die Stadt blicken. Und der Anblick war sehr Besorgnis erweckend. Die Schiffe waren schon weit gekommen, dass Lester die Mitglieder ihrer Besatzungen auf den Decks erkennen konnte. Sie mussten zu Marlin und Shyla. Shyla. Sie sollte die ultimative Kriegerin sein. Dann war sie fürs erste die einzige Hoffnung.

"Shylaaa!!!"
Marlin rief sie, doch sie zeigte keine Reaktion. Er sah an ihr vorbei, kniff seine Augen gegen das grelle pulsierende Licht zusammen und erkannte ein Schiff. Es kam sehr schnell näher. Schon längst waren er und Shyla in Schussreichweite. Sie starrte den Koloss an, der sich auf sie zu bewegte. Der Rumpf des riesigen Schiffes wurde immer größer. Bedrohlich kam es näher. Marlin schreckte auf. Es will sie rammen. Es will die Stadt rammen. Das Luftschiff hielt genau auf die Landungsdocks zu. Nur noch wenige Meter. Marlin rannte los. Er musste Shyla da weg holen. Das Pulsieren stoppte. Die Kugel wurde immer heller. Marlin blieb stehen. Er fiel und konnte im letzten Moment noch aufstehen und umdrehen. Der Boden löste sich unter seinen Füßen auf. Er zerbrach in kleine Stücke, die in die Tiefe stürzten. Er drehte sich um. Shyla war nicht mehr zu erreichen. Der Abstand war schon zu groß. Selbst zum springen. Das Licht! Es flackerte auf, wurde schlagartig heller. Als würde es explodieren. Ein Knall ertönte. Marlin fiel wieder zu Boden. Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah in Shylas Richtung, er konnte erst nicht viel erkennen, doch als seine Augen wieder richtig sahen, traute er ihnen nicht.

"Hast du das gesehen?"
Lester war stehen geblieben. Cecil stoppte einige Schritte weiter.
"Ja. Was zur Hölle war das?"
"Keine Ahnung. Sieh nur."
Er deutete mit dem Finger auf das Schiff, das der Stadt zuvor so gefährlich nahe gekommen war. Es brannte. Die Masten stürzten um. Stücke des Rumpfes brachen ab. Leute fielen in die Tiefe. Dann sank das ganze Schiff langsam tiefer. Die zwei Schiffe, die am nächsten an der Stadt waren, drehten um. Doch sie waren zu langsam. Ein weiterer Lichtstoß. Blitze zuckten durch die Luft und erwischten die Schiffe mit voller Wucht. Sie kamen nicht mehr davon. Die Rümpfe brachen auf. Die Höhensegel wurden in Fetzen gerissen. Auch sie sanken langsam zu Boden. Es war, als wären die Schreie der Besatzungen bis in die Stadt zu hören.
"Ist das die Macht des ultimativen Kriegers?"
 

© V.Geist
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