Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 1. Buch
Der Zerfall des Reiches 1 - Das verlorene Bollwerk

Der Schnee wurde in leichten Schleiern von den scharfzackigen Kuppen und Felsen der Rockhornscharten verweht. Es herrschte tiefste Nacht, das Ende des alten Jahres war gerade vorüber, dunkle Wolken trübten das hohe Sternenzelt. Einzig und allein die beiden kalkweißen Monde starrten zwischen Wolkenfetzen hervor, sandten ihr grelles Mitternachtslicht und beschienen das eisige Tauwasser, was sich in Kuhlen und Felsspalten gesammelt hatte und an deren Rändern noch immer Eiskristalle schimmerten.
Eisigkalt stand der Schatten da, gehüllt in zerrissene, dunkle Gewänder und Tücher, geisterhaft schwebte er im Nichts der ödesten Leere, streckte seine Hand nach dem Betrachter aus, wollte ihn nicht ergreifen, sondern eher segnen, wie es die Priester in den Tempeln und Kathedralen des Herrn der Winde taten. Der Betrachter wand sich in der Kälte, die sich um ihn geschlossen hatte und in der Schwärze, die ihn hielt, doch nichts nützte, der schattige Schleier, die vermummte Gestalt lenkte weiter ihre Gesten und Stimmen ringsumher stimmten mit ein, als der Schatten mit einer dröhnenden Stimme begann zu sprechen.
"Sieh her, Sterblicher, ich bin Senragor Allagan, der war."
Es kristallisierte sich ein Gesicht aus den Schatten der Kapuze hervor, ein scharfgeschnittenes mit einem Bart, der den breiten Mund umrahmte, Falten hatten sich auf der Stirn gebildet. Es war, als wäre diese Kreatur seit ewigen Zeiten gemartert worden, Striemen und Narben zogen sich über das Gesicht und die Augen, die in tiefen, faltigen Höhlen lagen, strahlten ein gleißendes Licht aus. Die Gestalt flimmerte geisterhaft, als sie drohend den Arm hob.
"Sieh her, Sterblicher!", befahl der Schatten. "Lese du in meinen Augen, du willst sie wissen, die Zukunft." Der Betrachter starrte, schien vor Angst und Kälte zu zittern, doch es tat sich nichts in den Pupillenfunken des Geistes.
"Sieh her, Sterblicher, letzter Nachfahre der magiebedachten Allagans, Thronn Warrket, sieh her, was geschieht." Jetzt formten sich auf einmal Bilder in einem magisch leuchtenden Kreis vor dem Schatten, die erst wie wild kreiselten und rotierten, dann aber doch deutlich hervorgingen. "Lese in den Bildern der ewigen Zeit, wie es um das Land steht." Bilder der ewigen Zeit? Was sollte das bedeuten? Der Betrachter verstand nicht so recht, hielt seinen geistigen Blick aber dennoch auf den sich drehenden Kreisel vor seinen Augen gerichtet. Er sah einen wuselnden, schwarzen Teppich aus wild zuckenden Leibern, die sich über hohe, graue Ebenen und Täler hinwegsetzte. Grauen stieg in ihm empor und er kämpfte dagegen an, nicht sofort vor Qualen aufzuschreien, denn er spürte wahrlich, was diese Kreaturen in den Bildern für einen Schrecken verbreiteten. "Wiedereinmal ist die Vernichtung der Länder nah, doch diesmal ist sie wirklich und von ungeahnter Größe, finde das Mittel, diese Woge der Gewalt aufzuhalten, Hexer, finde eine Möglichkeit." Die Stimme dröhnte und hallte, wurde von einem geisterhaften Rauschen und Summen begleitet, im Hintergrund schienen sich Verzweiflungsschreie zu lösen und kurz darauf zeigte das Bilderorakel einen Haufen Leichen, auf dem Fliegen saßen. "Du hast nun die Zukunft gesehen, wie sie sein könnte, wie sie sein wird und wie sie war, löse das Rätsel um die Klinge und tu, was dir aufgetragen wurde, letzter Nachfahre der Allagans." Der Schatten schien sich nun aufzulösen und im Inneren des Betrachters hatte sich die Leere in ein volles Maß an Fragen und Befürchtungen verwandelt, Befürchtungen, die das Schlimmste der Orakelbilder übertrafen.
Plötzlich meldete sich die geisterhafte Stimme noch einmal mit einer solchen Macht und Intensität, dass das Nichts um die vermummte Gestalt herum förmlich zu vibrieren begann:
"Erfülle deine Bestimmung, Thronn Warrket! Ich, der Schatten von Senragor Allagan, Sohn von Sendinior Allagan, dem Herr über alle Magie, befehle es! Ich, der welcher war, kehre nun in mein Reich der Schatten zurück, die Botschaft sei dir nun übermittelt, letzter Hexer von Rohan!"
Auf  einmal löste sich der Schatten in Luft auf, versiegte im Nichts, doch dann schlug ein Blitz ein und donnern hallte und noch bevor der Schatten ganz verblasst war, riss es den Mann aus seinem Schlaf. Der Wind pfiff eisig und laut, das Feuer war schon seit langem ausgegangen, nur noch die glühenden Kohlen erinnerten an die Lagerstelle. Er befand sich mitten in den Rockhornscharten, einem kleinem Gebirge, das aber trotzdem von solcher scharfen und spitzen Felsen besetzt ist, dass es gefährlicher ist, als ein Hochgebirge.
Es krachte wieder und ein greller Faden aus Licht wand sich unweit vom Himmel herab. Der gewaltige Schneesturm, welcher Thronn schon seit Tagen im Genick saß, hatte ihn eingeholt. Der Sturm raste auf ihn zu, peitschte Flocken und kleinere Steine auf ihn nieder, war schwarz und begann sich nun zu einem Festen Tornado zusammenzukeilen, der bis in die dunklen Wolkenschleier über ihm reichte. Warrket spürte, wie er ihn ergreifen wollte, doch er zögerte nicht lange, sondern stemmte sich gegen die saugende Kraft des tosenden Windes, setzte seinen Weg nach Norden fort. Er musste um jeden Preis nach Trishol gelangen, musste es schaffen, die Stadttore zu erreichen, wie es ihm in seinem Traum gerade noch einmal gesagt worden war. Der seltsame Schatten hatte ihn ermahnt, sich durch nichts aufhalten zu lassen, sei es noch so schlimm, er musste es einfach schaffen. Schnell raffte er den Rucksack vom Boden hoch und schulterte ihn sich, spürte, wie die kleinen Steine unter seinen Sohlen von dem Tornado angesaugt wurden und er machte sicherheitshalber einen Schritt nach vorne, um nicht auf ihnen wie auf Murmeln auszurutschen.
Die große Sturmsäule schob sich weiter voran und sog alles in sich hinein und Warrkets Glieder schmerzten, da dies gerade seine erste Pause seit Wochen gewesen war. Verbissen kämpfte er sich weiter, bis er einen kleinen, schmalen Pfad erblickte, der sich in einem einigermaßen windgeschützten Gebiet fortpflanzte. Ohne zu zögern nahm er ihn und auch schon ließ der Sog etwas nach, da die spitzen Felsen, die sich wie die Zähne eines Drachen in die kühle Luft wandten, den Windschleier etwas zerrissen und fast so etwas wie eine Kuppel über ihm bildeten.
Gott sei dank zerfiel sich der hetzende Sturm nach einigen Metern wieder hinter ihm, wie es die Stürme meistens in diesem Gebiet taten, sie kamen und gingen.
Immer noch keuchend setzte er seinen Weg fort, vertrieb aber diesmal den Gedanken an Schlaf, da ihm immer noch nicht so recht wohl dabei war, ein weiteres Mal seinen Vorfahren zu sehen, er wusste auch so gut genug, was seine Aufgabe war und so scherte er sich jetzt nicht weiter drum und marschierte einfach ungezwungen weiter die steilen, grauen Hänge hinab und die beiden Mondsicheln begannen ebenfalls schon ihren Weg, diesmal etwas wolkenloser, fortzusetzen.
Schatten lagen hier überall hinter rauen Steinblöcken und hohen Felsen, die das Gelände ziemlich unübersichtlich machten, doch den jungen Hexer störte dies nicht, ihm war es egal, wie dunkel so ein Pfad war, Hauptsache, er war hier sicher und geschützt vor den Stürmen, die oft aufbrausten.
So setzte er also dann seinen schon lange vorbestimmten Weg fort und war sich nicht bewusst, dass ihn jemand heimlich beobachtete...
 
***

Es hallten die Hufe auf den rauen Pflastersteinen, als eine kleine Gruppe durch das Tor von Krakenstein geritten kam. Insgesamt waren es acht, allesamt in dunkle Mäntel und Umhänge gehüllt. Nach dem Torgang folgte eine Brücke, die sie durch ein zweites Tor schließlich in den Burghof führten. Mit einem erst quietschenden und dann krachenden Geräusch schlossen sich die Tore und das Fallgitter wurde heruntergelassen.
Überall liefen Ritter oder Bauern umher, die sich vor etwas Unsichtbarem in Sicherheit zu bringen schienen. Tatsächlich bereiteten sich alle auf den nahen Angriff aus dem Osten vor.
Josias Kajetan, der Truppführer, stieg mit Schwung von seinem stämmigen Gaul ab und stolzierte auf das bewachte Eingangstor der Herrenburg. Erst kreuzten die Wachen die Lanzen vor ihm doch mit einer Handbewegung des Festungstorwächters nickten die Wachen stumm und ließen Josias schließlich hindurch. Kajetan war ein sehr muskulöser Mann mit einer Hakennase und einem hungrigen Blick. Das Haar hatte er kurzgeschnitten, nur am Hinterkopf hing ihm ein langer, silberweißer Zopf vom Haupt. Seine Kleidung bestand aus oft geflickten Lederteilen, mit Eisen verzierten Handschuhen, einem Oberschenkelschutz, sowie wärmenden Schulterpolstern aus Wolfsfell.
Seine schweren, mit Eisen beschlagene Lederstiefel hallten donnernd auf dem marmornen Boden des Saales. Durch spitz zulaufende Fenster aus Buntglas drang ein gedämpfter Lichtschein, und dort, wo das Licht nicht hinfiel, waren Kerzen angezündet. Am Ende des Raumes befand sich eine steile Treppe, die sich nach ein paar Metern zu einer Wendeltreppe veränderte. Das Breitschwert, welches in einer Schwertscheide an seinem Rücken gesteckt war, schwenkte bei jedem anstrengenden Schritt zur einen oder anderen Seite. Es war nun mal nicht leicht, mit so einer schweren Panzerung Treppen zu steigen.
Er fühlte es genau, er musste schon einmal hier gewesen sein. Die Gänge und Tunnel schienen ihm alle so bekannt, dass er glaubte, hier sein ganzes Leben verbracht zu haben. Vielleicht, dachte Josias, könnte ihm der König Auskunft über diese vertraute Gefühl geben. Da bedrängte ihn plötzlich eine weitaus wichtigerer Frage, was die Sicherheit des Königs anging: Warum befanden sich hier keine Wachen? Er entschied, den König auch danach zu fragen, und ging mit gedankenverlorener, aber strenger Miene weiter.
Endlich waren die Stufen zuende und er befand sich in einem Raum, von dem aus man die ganze Festung überblicken können musste, denn als er sich dem Buntglasfenster entgegenlehnte, erkannte er unter sich den Burghof, auf dem seine Kameraden immer noch geordnet auf ihren Rössern saßen.
Auf einmal öffnete sich eine schmale Tür, dort, wo sich gar keine Tür befand. Und selbst jetzt sah Kajetan nichts, da war nur die Erinnerung, ein Geräusch gehört zu haben. Nun erklang der kratzende Laut ein zweites Mal und diesmal erkannte der Truppführer und Feldherr, dass sich etwas hinter dem roten Wandteppich dort drüben regte. Mit der Hand auf dem Schwertgriff wartete er ab, bis der Teppich zur Seite gestoßen wurde und sich eine hagere Gestalt darunter hervorschob. Es war der König.
"Man kann nicht vorsichtig genug sein in diesen Zeiten.", sagte der König und schüttelte dem Mann, der ihn offenbar um zwei Köpfe überragte, die Hand. "Der Feind versucht mit allen Tricks hier in die Festung zu kommen, also gab ich meinem Festungstorwächter den Befehl alle Lebewesen ohne triftigen Grund wieder fortzuschicken..." Er räusperte sich. "Ganz sicher gehen kann man natürlich nie, Truppführer..."
"...Josias Kajetan...", sagte der Krieger und schüttelte dem König die Hand. Dieser verzog dabei leicht das Gesicht, da Josias seine Hand wohl zu fest drückte.
"König Valbrecht, Herr von Krakenstein und den umliegenden Gefilden und so weiter..." Er machte eine abfällige Geste und fragte dann nach dem Grund ihres Aufenthaltes hier.
"Wir haben eine Nachricht von dem hiesigen Hexenmeister erhalten.", antwortete Kajetan und wippte etwas ungeduldig mit dem Fuß.
"Meister Timotheus?" Sein Blick war erstaunt. "Er hätte es mir gesagt, wenn er einen Boten losgeschickt hätte... Glaubt ihr wirklich, dass er euch herberufen hat?"
"Da bin ich sicher!", murmelte der Truppführer und zog ein eingerolltes Stück Pergament unter seinem Lederschutz hervor. Er hielt Valbrecht das Papier hin, der still zu lesen begann.
Als er fertig war, seufzte er und warf einen beurteilenden Blick zu seinem Gegenüber hinauf.
"Es scheint wirklich seine Schrift zu sein... Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er vergessen hat, mich zu benachrichtigen..." Er schwieg betrübt, hatte offensichtlich eine gute Freundschaft mit dem Hexenmeister gepflegt. "Nun denn", sagte er dann, "ich werde euch in den Warteraum bringen. Ich benachrichtige ihn und dann wird er kommen. Euren Freunden gebe ich eine Unterkunft in der Wachstube..."
Er wollte sich gerade umdrehen und fortgehen, als Josias Arm hervorschnellte und seine Schulter packte. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
"Wir brauchen keinen Schlaf und wollen auch nicht warten. Lieber möchten wir sofort zu Meister Timotheus gelangen!"
Valbrecht stutzte, zog die Augenbrauen nachdenklich hoch. Ein gefährlicher Moment, in welchem sich die Beiden feindselig in die Augen starrten entstand.
"Ich werde dafür sorge tragen, dass die Freitruppe von Antarus als Gast auf unserem Schloss bleibt, nicht als Vorbeireisende. Nun, so oder so werden eure Wünsche erfüllt, Truppführer!" Mit einem Ruck machte sich der König von ihm los und huschte wie ein lautloser Schatten die Wendeltreppe hinab. Der Krieger folgte ihm fast ebenso tonlos.
Der König war eben nur alt, dachte er sich, und von der Welt verschmäht. So ein verbitterter, kleiner Mann war ihm noch nie unter die Augen gekommen. Mit einer einzigen, blitzenden Bewegung hätte er den Kerl töten können und das wusste auch der König. Doch warum hielt er sich nicht zurück, wenn er in Situationen hineinschlitterte, die ihm einfach über waren? Vielleicht war eben genau das seine Taktik, seine Gegner einzuschüchtern. Bei ihm hatte er es jedenfalls geschafft. Es musste etwas sein, das Valbrecht beunruhigte, ihn wiederstreben ließ, ihm den Weg zu den Gemächern des Zauberers zu zeigen. 
Der Schein des Königs Kerze, die er aus einer Vertiefung in der Wand mitgenommen hatte, um die dunklen Stellen der Treppe zu beleuchten, loderte vor ihm immer heller, das Zeichen, dass sie bald auf gleicher Höhe sein mussten. Als das geschah, fragte der Truppführer verständnisvoll:
"Was... ist passiert?"
"Er war mein Freund." Der Feldherr war erstaunt, der König musste offensichtlich an genau das gleiche gedacht haben wie er. "Im Krieg haben wir oft zusammengekämpft, Rücken an Rücken... Er mit der Magie und ich mit dem Schwert. Ein ungleiches Paar, findet ihr nicht?"
Das erstaunte ihn jetzt noch mehr, Valbrecht war völlig offen und ehrlich zu ihm, sprach frei über seine Gefühle. Als Antwort schüttelte er den Kopf. "Nein, nein, ganz und gar nicht, ein Zauberer sollte seinem König beistehen!"
"Ich war damals noch nicht König." sagte der König stockend. Das schüttere Haar hing ihm ins Gesicht und er streifte es beiseite. Auf seinem Kopf saß eine kleine, goldene Krone, die fast nur ein verzierter Reif zu sein schien. Der König selbst war in roten Samt gehüllt, trug offensichtlich seinen Morgenmantel, obwohl es bereits Mittag war.
Kajetan schluckte. Das, was der Mann ihm gerade anvertraute, war mehr als nur eine Geschichte, die gerade so passiert war. 
"Wie wurdet ihr König?", fragte er. "Wenn nicht durch euer Erbe, dann doch anders..."
"Es war genau wie du sagst, Truppführer." Plötzlich sprach der König wieder mit Abscheu von ihm. "Ich wurde nicht als Prinz oder so etwas ähnliches geboren. Ich war..." Er zögerte und wählte seine Worte genau. "...ein Gesetzloser."
"Und wer hat euch zu einem Träger des Gesetzes gemacht? Wie ich weiß, ist das nicht einfach. Ich saß drei Jahre hinter Gitter und Stahl, bevor sie mich zu einem Soldaten beförderten."
Die Augen des Königs funkelten beurteilend, wollten nicht alles glauben, was der seltsam neue Mann da vor ihm berichtete. Wollte er ihn etwa zu einem längeren Gespräch einladen? Gab es etwa Jemanden, der sich für seine Gräueltaten in der Vergangenheit interessierte? Er beschloss ihm einen Anhaltspunkt zu geben, um die Sache spannender zu machen.
"Ich sage nur so viel: Timotheus hat mir geholfen und ewige Treue geschworen. Ob er dabei geblieben ist, stellt ihr und eure Nachricht heute in Frage."
Es waren die letzten Worte des Königs, die er im Zusammenhang mit diesem Thema hörte, dann herrschte lange Zeit Stille unter ihnen.
Als sie bei der normalen Treppe angelangt waren, legte Valbrecht die flache Hand auf einen bestimmten Steinquader und drückte. Mit einem knackenden Geräusch schwang die Wand aus grob gehauenen Felsbrocken zur Seite und gab den Weg in eine düstere, von der Natur geschaffenen Höhle frei. 
"Ganz Krakenstein ist aus einem Berg gebaut worden. Die Höhle gab es schon lange und außerdem liebt er diese Umgebung.", erklärte er und leuchtete in den Gang. Die Kerze erhellte Stalaktiten und Stalagmiten, die jeweils von der Decke herunterhingen oder von unten nach oben verliefen. Die meisten jedoch waren zusammengewachsen und bildeten eine große Säule, die von der Decke bis zum Boden reichte. Die Wände glitzerten feucht und das Aufschlagen von Wassertropfen auf den seichten, unterirdischen See hallte in regelmäßigen Abständen.
Josias staunte nicht schlecht und betrachtete voller Eifer seine Umgebung.
"Hole jetzt deine Freunde, ich werde hier auf dich warten!"
Die Stimme des Königs war wieder vertrauensvoll und nett. Kajetan bedankte sich mit einem kurzen Nicken und verließ dann das Reich der Schatten, um über die Treppe in den Saal und von dort wieder in den Hof gelangen zu können. 
Kaum hatte er sich bei seinen Männern eingefunden und in ihre ernsten Gesichter geblickt, kamen schon wieder aufgeregte Rufe von drinnen und auch die Stimme des erregten Königs war zu vernehmen. Josias stand zwar mit dem Rücken zu den Schlosstoren, doch sobald es krachte bewegten sich deren Augen dorthin und der Truppführer wusste, dass es sich Valbrecht anders überlegt hatte. Nun wandte auch er sich nach einem vorsichtigen Seufzen um.
Da stand der König, die Mundwinkel tief herabgelassen, die Arme schlaff am Körper baumelnd und fast Tränen in den Augen. Vorsichtig stapfte er die steinerne Treppe in den Burghof hinab.
"Timotheus möchte euch allein sprechen... Er sagt, ich hätte keine Verwendung mehr für ihn..." Er stieß die Luft scharf durch seine Nasenlöcher aus und senkte das nun nicht mehr ganz so königlich strahlende Haupt. "Es genügt wohl, wenn ich euch zu ihm hereinbitte, er würde euch, Truppführer, lieber im Besprechungssaal empfangen." Sein Schniefen war laut und kam nicht unerwartet. "Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn ich... eure Kameraden in ihre Gemächer geleite..."
Kajetan nickte. "Dann werde ich jetzt wohl zu ihm gehen.", sagte er und drängte sich mit schnellen Schritten an dem König vorbei. Als er an der obersten Stufe angelangt war, warf er eher aus Routine einen Blick hinter sich, doch traf sich sein Blick mit dem des Königs. Ein eisiges Zucken durchfuhr den Truppführer und er merkte, dass er Valbrecht irgendwie innerlich verletzt hatte. Es lag in seinen Augen, die giftgrüne Farbe stach hervor, schien einen zu durchbohren, doch waren trüb und somit geschwächt, die Brauen trauernd verschoben. Ein Gebräu aus Wut, Leid und großem Stolz brodelte in ihnen, wollte nicht nachlassen.
Schweren Herzens wandte der sonst so starke Führer den Blick ab und stieß die großen Flügeltüren, die mit vergoldetem Eisen beschlagen waren, vor sich auf. Nach einem kurzen Schnaufer war er plötzlich unkonzentriert und konnte fast den Weg nicht mehr bis in das oberste Zimmer, in das der König ihm vor ein paar Minuten durch den Geheimgang begegnet hatte.
Was war mit diesem stolzen Mann nur los, fragte er sich andauernd, während er sich mit aller Kraft an den Wänden abstieß und weitere Stufen hoch taumelte. Es schien ihm, als hätte ihn alle Kraft verlassen, sich in einem nie endenden Sog verloren. Was war mit ihm los? Färbte die Trauer und die Mutlosigkeit des Königs etwa auch auf ihn ab? Verwirrt schüttelte er den Kopf und strich sich über das seidige Haar, nein, es kann so nicht sein! Ich habe einfach nur etwas wenig geschlafen letzte Nacht, versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Tatsächlich hatte er in der letzten Nacht überhaupt nicht geschlafen, irgendetwas hatte ihn so beunruhigt, dass er die ganze Nacht wie gebannt in die kleinen Flammen ihres mickrigen Lagerfeuers gestarrt hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, Stimmen zu vernehmen, die es nicht geben konnte, ein Säuseln im Wind vielleicht...
Während er so dachte war er wie von selbst in Richtung Ratssaal gegangen und stand sich nun nach einer weiteren Tür einer großen Ansammlung von Tischen und Bänken gegenüber, in einer Halle, die bestimmt so hoch war, dass er sich zehnmal übereinanderstellen konnte und immer noch nicht mit dem Kopf gegen die Decke stoßen würde.
"Ganz Burg Krakenstein ist in das Gebirge hineingebaut, die großen Hallen verstecken sich in den Gebirgskämmen!" Die Stimme hatte sich von irgendwo auf der anderen Seite des Raumes gemeldet und gehörte einem hochgewachsenen, dürren Kerl in einer hellgrünen Tunika und einem langen Ziegenbart. "Gestatten, Hexenmeister Timotheus Warrket.", stellte er sich vor und machte einen kleinen Hofknicks.
Förmlich verbeugte sich Josias, schielte aber dann doch von Neugier auf das fremde Gesicht fast zerrüttet nach oben. "Josias Kajetan, Anführer der Freitruppe!", sagte er mit der Faust auf dem Herz und stand stramm.
"Oh, ein General..."
"Wir freien Leute haben keinen Dienstgrad, Sir.", belehrte ihn Kajetan, wobei er aufs äußerste darauf bedacht war, nicht zu überheblich zu klingen.
"So, so.", machte der Alte und ließ sich in den Thron am Kopfende des Tisches sinken. "Ich verstehe schon, ihr wollt endlich wissen, warum gerade ich euch herberufen habe und nicht Valbrecht." Der hünenhafte Truppführer nickte dankend und aufmerksam. "Nun, es ist eigentlich ganz einfach." Er verschlang die Finger ineinander. "Das Westland wird von einer nie gekannten Katastrophe heimgesucht. Von Außen und von Innen wird das Land von etwas abscheulichem befallen, das seinen Ursprung in der Magie hat. Es kommt aus dem Wald, hat Jahre überdauert und wurde nun von etwas geweckt, das größere Macht als es besitzt. Sie werden mit Hilfe der Macht dieses Allwissenden Wesens das Bündnis der drei Länder zerreißen. Sie werden das ganze Hochland mit ihrem Schrecken überschwemmen, Rovanion ist bisher noch unbehelligt worden, doch wer weiß, wann es zu spät sein wird. ...Es ist das Beste, wenn wir die Landesgrenzen festigen und uns auf einen größeren Ansturm vorbereiten. Der Feind lauert praktisch schon vor unserer Haustür. ...Mein Sohn, Thronn, hat sich bereits auf den Weg nach Trishol gemacht. Er wird verhindern, dass sich Spitzel innerhalb der Stadttore organisieren. Hier in Krakenstein ist das leider schon passiert." Er schluckte. Das war wohl das Zeichen, dass sich Kajetan setzen sollte. 
Fassungslos starrte er den Zauberer an. "Wie... Was... Was hat die Freitruppe mit dem ganzen zu tun?"
"Ich glaube, es steht schlimm um meinen Sohn... mein Neffe ist tätig bei dir in deiner Gruppe. Er... Mein Sohn, Thronn, braucht Unterstützung. Er wird es auf keinen Fall vor der Belagerung des Landes schaffen Melwiora aufzuhalten, Riagoth kennt alle Tricks, um ihre Feinde in magische Bänder einzuwickeln und sie für sich zu gewinnen. Ein Teufelkreis..."
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel: "Melwiora Riagoth"

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