Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 1. Buch
Der Zerfall des Reiches 6 - Die Burg

Tänzelnd durchstreifte er das Feld aus toten und verstümmelten Leibern, bis das Wutgeschrei nur noch wenige Yard von ihm entfernt war. Dann holte er aus und ließ den Stahl seiner Klinge in die Halterung des Fallgitters fahren. Die Waffe drang mit Leichtigkeit in die Kette ein und funkensprühend glitt das Fallgitter den Stein hinab.
Was macht ihr da, dachte Rune entsetzt. Was wäre, wenn er sich jetzt in eines dieser Dämonen verwandeln würde und sie anfallen würde, während sie hinter Schloss und Riegel der Burg gefangen waren?
In seinem Phantasieren malte sich der junge Meridian viele schreckliche Sachen aus, die passieren könnten, wenn er hier allein mit ihnen wäre und das Eindringen dieses Schleimes gefährlich wäre...
Mit einem lauten Krachen und dem nachhallenden Rasseln von durch die Luft peitschenden Ketten krachte das Gitter aus dicken Eisenfugen herunter und schloss somit den Eingang in die Burg. Jetzt würde es für die Angreifer schwieriger werden, in den großen Burgturm einzudringen, als es noch vor wenigen Minuten gewesen war, doch Rune interessierte es nicht, denn er begann langsam sich wieder besser zu fühlen, der Schmerz und die Erschöpfung ließen nach. Vielleicht war er ja wirklich einfach nur zu müde und zu ausgepowert gewesen, um weiter zu kämpfen und hatte nur eine kleine Pause gebraucht, um wieder zu Kräften zu kommen. Aber das wichtigste war erst einmal, das Trajan wieder zu ihnen gekommen war.
Der riesige Krieger schob das Breitschwert wieder zurück in die Scheide auf seinem Rücken und sah seine Mitstreiter abschätzend und zögernd an. "Tut mir leid, dass ich zu spät komme.", sagte er mit tiefer Stimme, in der keinerlei Schwäche, nur Ruhe mitschwang. "Ich konnte nicht schneller kommen. Ich war verhindert...!" 

Stille herrschten auf den vom schmelzenden Schnee nassen Straßen, dunkel gefärbt und von dem verrotteten, mit Wasser vollgesogenem Holz der Balken, die einige der Häuser - jetzt fast ausschließlich Ruinen - stützten. Die Dächer glänzten wie frisch lackiert und an vielen Stellen zeigten sich Löcher und Bruchstellen, dort wo die Geschütze der Angreifer getroffen hatten. Verkohlte Bauteile lagen in zertrümmerten Schuppen und geschwärzte Pfeile steckten in den verbrannten Überresten von Strohdächern, in der Luft hing ein beißender Schwefelgeruch, Nebelschwaden hingen dicht über dem Boden und waren wie eine einzige große, weiße Wand, die alles durchdringen konnte, Mauern, Türen, Wände, Stahl und Fleisch. Gestalten bewegten sich dort als Schatten in unterschiedlicher Größe, enggekauert in ihre weiten Mänteln, die bis zum Boden reichten.
Thronn bewegte sich schneller. Er hatte das ungute Gefühl, dass sie Melwioras Schergen näher waren, als sonst, allein der bloße Gedanke an die drei schwarzen Reiter ließ ihn erschaudern. Und er fragte sich, nach was sie hier eigentlich suchten? Die Stadt war doch zerstört, die Tieflanddämonen schlichen hier zu Hunderten herum und ihre Klauen waren scharf und Bogen und Schwert konnten sie nicht ewig aufhalten. Erinnerungen an den Tag, an dem er den Seraphim losgeschickt hatte, kamen ihm, und er war betrübt, da er seine Kraft, seine Magie, für nichts, außer einem kleinen fliegenden Teufel das Leben geschenkt zu haben, entblößt hatte. Nun wusste Riagoth mit Sicherheit, wo er sich befand und er hoffte, dass ihr wenigstens der blutrote Seraphim nicht in die Arme fliegen würde. Geheimnisse der Macht würden offenbart werden, Geheimnisse, die er lieber für sich behalten würde.
Die Gasse, in die sie jetzt einbogen, war enger und lag völlig im Schatten, sodass sie einige Zeit gar nicht gesehen werden konnten, nur ihre Augen und Schwerter glommen ab und zu auf, als sich fernes, silbriges Mondlicht in jenen und darauf spiegelte. Ihre Blicke glitten hin und her, suchten die Gegend systematisch ab und verbargen ihre Waffen kampfbereit unter ihren Mänteln. Auf ihren Gesichtern lag Entschlossenheit, aber auch die Schweißperlen der Angst glänzten darauf und mischten sich mit dem leichten Nieselregen. Alle hatten sie ihre Kapuzen tief in die Stirn gezogen und ihre Haltung war geduckt oder überragend. Dario, der junge Hochländer, ging geduckt, das Schwert in der Scheide auf dem Rücken, den Bogen bis zum Zerreisen gespannt in seinen Händen und sein Ausdruck war kalt und unnachgiebig, Schatten umspielten seine Augen und so kam nur ein leichtes Blitzen und Funkeln durch. Das mit Bartstoppeln übersäte Antlitz und die dichten Brauen, die kantigen Züge und der schmale Mund, machten aus ihm eine undefinierbare Gestalt, geschaffen aus Schatten, Kraft, Mut und Intelligenz, die trotz ihrer Größe leichtfüßig und mit angespannten Muskeln ging.
Ein großer Schemen hinter ihm war Warrket, der seine bloßen, knochigen Hände an die in Leder eingebundenen Griffe zweier Schwerter legte. Beide waren etwa ein Yard lang und besaßen nur eine Schneide, die dafür aber umso schärfer waren. Der leichte Wind wehte ihm kalt ins Gesicht und sein Säuseln war wie ein Flüstern in seinen Ohren, das ihm Kunde von den fernsten Begebenheiten seines Landes brachte. Er hatte es vorgezogen, seine Magie nicht einzusetzen, denn die Anwendung war einerseits sehr schmerzhaft für ihn, und andererseits würden die Mordgeister sofort über ihn bescheid wissen. Er blinzelte und es war, als ob plötzlich zwei Sterne aufblinken würden, als er seine Augen wieder öffnete. Gedanken pfiffen ihm durch den Kopf, mehr noch, als ein menschliches Gehirn zu fassen im Stande war, es würde zerspringen und all das gesammelte Wissen würde für immer verloren gehen... 
Er schüttelte den Kopf. Nein, sie kamen viel zu langsam voran, er durfte sich jetzt nicht mit den Lappalien seines Geistes aufhalten!
Plötzlich spürte er aus dem Augenwinkel, wie sich etwas jenseits der Schatten bewegte, ein leises Schaben wie von Krallen aus Stein und ein Körper, der sich gegen eine Hauswand legte. Sofort erwachte er aus seiner Trance und alle Blicke richteten sich auf ihn, als er mit einer schwungvollen Geste plötzlich seine beiden Schwerter zog und ein gleißender Schimmer alles umspülte, dann stürzte er sich, selbst nur ein verwischter Umriss, auf das Wesen, das sich dort in den Schatten verborgen hatte, und seine Klingen sirrten todbringend in der Luft, ließen Holz splittern und verkohltes, verwittertes Mauerwerk bröckeln...
Und dann löste sich auf einmal etwas hochgewachsenes, dunkles aus der Hausecke, sprang mit einem erstickten Keuchen auf die Straße. Es trug ein zerschlissenes rotes Gewand, bestickt mit silbernen Knöpfen und schwang ein Messer in den Fingern, dessen schnelles Aufblitzen allein gereicht hätte, um einem Mann das Leben zu nehmen. Ein langer, seidiger Haarschopf waberte über ein von Düsternis umspieltes Gesicht, dessen Augen selbst nicht zu erkennen waren. Noch in der gleichen Bewegung vollführte Warrket mit seinen beiden Schwertern einen Kreis und ließ sie auf den Fremden krachen, dessen Dolch zwei, drei mal blitzte, die Luft zischend zerschnitt und Funken sprühten, als sich die beiden Klingen trafen und kreischend auf einander schabten.
Die fremde Gestalt taumelte leicht zurück, hielt aber immer noch dass Messer fest umklammert und wehrte die kräftigen Streiche des Hexers ab. Die anderen kamen gar nicht mehr dazu, irgendetwas zu unternehmen, denn der in Rot gekleidete Kerl hatte Thronn ebenso schnell zu Fall gebracht, wie ein Riese einen Zwerg. Er tauchte unter den rasendschnellen, wirbelnden Attacken des Magiers durch und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, dann, als Thronn taumelte und seine Angriffe ziellos umherschwirrten, eilte jener ein zweites Mal herbei und rammte seinen Ellenbogen in seine Magengrube. Dieser stöhnte und spürte, wie ihn alle Kraft verließ, als er mit einem plumpen Geräusch auf das nasse Pflaster fiel.
Die Gestalt hingegen ging abermals in Kampfstellung, keuchte, aber trotzdem tänzelte sie leicht wie eine Feder über dem Boden, Faust und Dolch angriffslustig erhoben, anscheinend hatte sie die anderen noch nicht bemerkt. Dario und Kelt eilten schnell herbei, schlangen ihre starken Arme um den muskulösen Körper des Fremden und hielten ihn ihm Schwitzkasten, während Dario ihn rasch entwaffnete und ihn mit einem Arm, die Hand wie eine Stahlkralle an der Kehle, gegen eine Hauswand drückte und ihm in übertrieben leisem, aber dennoch scharfem Ton fragte: "Wer bist du? Was hast du hier verloren?" Rone half seinem Verwandten auf die Beine, der eher überrascht, als stark verletzt wirkte und groß und dürr dastand, ohne auch nur eine Regung zu machen, die seine Kraftlosigkeit verraten könnte.
Darios Finger schlossen sich fester, während der Rote mit angespannten Muskeln und nacktem Ober und Unterarm versuchte die Hand loszureißen, das weiße Blitzen seiner Zähne war auffällig. "Ich frage dich noch einmal: wer bist du?", schrie er fast, während er flüsterte, was aber dann doch so laut war, wie etwas erregtes im normalen Tonfall zu sagen.
Der Fremde zögerte noch etwas, ächzte und versuchte dann um Hilfe zu rufen, was ihm aber misslang und brachte schließlich einige schwer verständliche Worte heraus, die im stetigen Rauschen der Sturzbäche unterging; sie mussten sich gerade in der Nähe der Bergkuppen befinden, die nun aber von einer dichten Schicht aus wallendem Nebel umgeben war, aber von hier nicht zu sehen sein musste. "Patrinell...", flüsterte er stöhnend und sein braungebranntes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. "Patrinell... Arth..., Ge... General der... der Stadtwache..." Sein letztes Wort wurde zu einem Schmerzensschrei und Dario ließ los. Patrinell kippte vorn über auf die Straße, hielt sich wacklig auf den Knien, keuchte und prustete, während er nach Luft rang und hielt sich seinen Hals, wo noch immer die roten Fingerabdrücke des Hochländers prangten. Er übergab sich, während ihm die anderen leicht verächtliche Blicke zuwarfen und sich dann zu einem heimlichen Gespräch einige Schritte weiter zurückzogen.
"Was machen wir mit ihm?!", versuchte Dario tatkräftig als Einleitung zu überlegen und verschränkte die Arme über der Brust, als Zeichen, dass er ihn am liebsten sofort töten wollte. Er war ein Killer, eiskalt und beinahe gewissenlos, einer, der das Abschlachten bei der Freitruppe gern getan hatte...
"Wir können es uns nicht leisten, einen Schnüffler in unserer Truppe zu haben, Thronn! Folgt meinem Rat und fesselt und knebelt ihn, bis er verhungert! Oder werft ihn den Dämonen zum Fraß vor!" Das verwitterte Zwergengesicht wies Spuren leichten Hasses auf, das entging Rone nicht, aber er musste sich etwas einfallen lassen, wie er seine Freunde überreden konnte, den General am Leben zu lassen. Irgend etwas in ihm riet ihm, diesen Mann bewahren zu müssen, denn er sollte ihm eines Tages nützlich werden...
"Wir könnten einen...", versuchte er zu sagen, wurde aber von seinem Onkel unterbrochen. Wir könnten einen weiteren starken Arm gut gebrauchen, brachte er den Satz in Gedanken fertig und hätte sich am liebsten vor Scham zusammengekauert in eine Ecke gesetzt, die Beine angezogen, die Arme darumgelegt und geweint...
"Wir sind keine Barbaren, Herr Zwerg!", rief Thronn entsetzt und machte eine drohende Geste, wobei seine Augen energisch funkelten und Kelt zuckte regelrecht zusammen vor der plötzlich entfachten Wut des Grenzländers. "Was müsst Ihr Untermenschen nur ständig auf alle anderen Völker so sauer und misstrauisch sein? Was seid Ihr doch für ein naives Volk!" Beleidigt wandte sich der Zwerg ab und seine Finger spielten nervös mit der Streitaxt. "He, du da!", rief er zu Patrinell gewannt und seine Stimme klang immer noch ärgerlich. "Wo kommst du her? Was machst du hier?"
"Ich komme von dort.", sagte er mit fester Stimme - er hatte sich bereits wieder aufgerafft und gefasst versucht, dem Gespräch der Runde zu lauschen - und deutete in eine Richtung, die zum westlichen Teil der Stadt führte. Sie selbst hielten sich in der südlichen Hälfte auf. "Meine Männer haben die letzten Bewohner der Stadt zusammengetragen und sich in einem Haus abseits der Altstadt verschanzt. Ich könnte Euch dorthin mitnehmen, wenn Ihr gewillt seid, euch mir und meinen Kameraden anzuschließen." Ein leicht spöttisches Lächeln zeigte sich, das Warrket sofort durchschaute. Der hochgewachsene Hexer hatte gelernt zwischen Hohn, Spott und einfach nur Eitelkeit zu unterscheiden. Das kurze Grinsen bedeutete nichts anderes, als dass es Arth belustigte seine, einstigen Gegner im Gefecht zu sich nach hause einzuladen, schließlich sollten sich Gäste korrekt verhalten. Er wog einige Zeit die Möglichkeiten ab und nickte dann.
"Okay", sagte er, "wir werden dich begleiten."
Und dann ging es los.
Der General ging schnell, doch zielstrebig an vorderster Spitze, während seine Arme schlaksig an ihm herabbaumelten und schien jedes mal, wenn sie eine neue Straße betraten, nach einigen kurzen Blicken gleich den ganzen Stadtteil abzusuchen. Sie sahen sich bewegende Schatten in der Ferne zwischen den Nebelschwaden, wurden aber selbst nie von einem der grauen Dämonen belästigt, während ihre Schritte nur sachte auf dem gepflasterten Boden hallten. Immer noch herrschte angespannte Stille und unterdrückte Wut unter den Gefährten, Hass und Zorn mischte sich mit Mitleid und Vorsicht, Ärger paarte sich mit Angst und die leicht zitternden Hände - und das war nicht nur vor Kälte - verrieten es.
Nach fast einer ganzen Stunde erreichten sie den Teil der Stadt, der sich zu lichten begann, die Wege wurden schmaler und der Pflasterstein wandelte sich zu Kies, mit lichtem Schnee bedeckte Wiesen lugten öfter heraus und sie konnten sogar schon die Stadtmauer in weiter Ferne erkennen, der Beweis, dass sie sich dem Ende der Stadt näherten. Die Häuser hier waren leichter gebaut und größtenteils nicht so zerstört wie die anderen und die Allee, die sie hinabgingen, war bepflanzt mit den verkrüppelten Überresten der Bäume, unter denen sich verrottetes Laub sammelte und das Steppengras war plattgedrückt und verdorrt, in Pfützen, Mulden und tiefergelegenen Ebenen war die Schneeschmelze überschwemmungsartig hereingebrochen, große Teile der Äcker und Felder standen bereist unter Wasser, Wasser, das schlammig und verschmutzt war, Wasser, das den Dreck aus der Hauptstadt fortgetragen hatte und sich hier zwischen den einfachen Bauernhäusern ergoss.
Warrket fühlte sich matt. Er hatte seit mehreren Tagen nicht geschlafen und in seinen Gliedern herrschte eine vage Taubheit, die zu kommen und gehen schien, hinter seiner Stirn und in den Spitzen seiner Finger brannte die erzwungene Magie und er ging mechanisch, wie eine Marionette seinen Gang, groß, dürr und mit Augen, die ohne Tiefe waren. Seine Hände waren groß und kantig und er war kaum mehr gewillt, darüber zu entscheiden, was er tat. Der Angriff auf den General war erfolgt, weil es von seinem Inneren gefordert worden war, und sein Inneres war so unergründlich, wie nichts anderes. Es fühlte sich an, als wäre die Magie eine riesige Maschine, die seine verkrampften Muskeln zum Arbeiten zwang und ihn antrieb, wenn er keine Kraft mehr hatte. Sie konnte also eine große Hilfe und eine schwere Last zugleich sein, etwas, was er gebrauchen durfte, wie gebrauchen musste, ein nie erlöschender Zwang. Als er noch jung war, hatte er noch nicht die geringste Ahnung von der Magie gehabt, doch als er das erste Mal mit dreizehn den Stein einer alten Ruine berührte, hatten ihn die Visionen in endlosen Serenaden überschüttet. Er hatte das Leid der Menschen gefühlt, die in einem blutrünstigen Kampf in der Vergangenheit gestorben waren. Es war traurig gewesen dies zu fühlen und sein Schmerz war gewachsen, als er erkannte, dass es Wirklichkeit war, was er gefühlt hatte. Er versuchte sich zu erinnern, schloss, während er ging, die Augen und die Bilder kamen schnell und bestätig herauf, in einem Wirbel aus Farben und Gefühlen...
Es war kalt hier. Der Wind jaulte in schweren Atemzügen und das karge Steppengras der Hochlandweiden, die ans Grenzland, Thronns Heimat, anstießen, waren saftig grün, denn der Frühling war in Rohan eingekehrt. Möwen kreisten über ihnen das Rauschen des Flusses war laut und deutlich zu hören und es barg eine gewisse Beruhigung in sich, Wasser in der unmittelbaren Umgebung festzustellen. Aber anscheinend war es den früheren Bewohnern der Burg keine besondere Hilfe gewesen, denn die zerklüfteten Steine waren an einigen Stellen schwarz und von Ruß verfärbt. Die Ruine stand hoch auf einem der zahlreichen Hügel und im tiefen Süden brauste der Fluss, doch davor sackte das Gelände in einer steilen Felswand ab und die schäumende Gischt prallte mit der gesamten Wucht ihrer zahlreichen Angriffe gegen den rauen Stein, an dem sich Büschel von Heidegras heimisch fühlten.
Warrket stand da, gekleidet in ein einfaches Wollhemd in den Farben von Sandstein, hinter ihm die weiße Gestalt eines altehrwürdigen Mannes, dessen Züge verwittert und dessen Hände vernarbt und kantig waren; er musste sehr alt sein. Seine dürren Finger umklammerten die Gehhilfe, ein knorriger Stab, fest und in seinem Antlitz lag Erwartung und Wissen. "Berühre ihn, und werde einer von uns." Die Stimme des Alten war rau und voll und der Junge spürte, dass der nächste Schritte ein Schritt in ein neues Leben sein würde, in ein Leben voll Erwartungen und unerfüllter Begierde.
Er streckte die Hand aus, ohne direkt zu wissen warum, der kalte Stein der Ruine zog seine Finger wie magisch an.
Der Himmel war verdunkelt von einer grauen Decke von Wolken, die das Licht der Dämmerung schufen und Schatten bildeten sich dort, wo sich die nebligen Geister des Himmels überlappten. Die Sonne war nur als greller, gelber Umriss hinter diesem brausenden Meer aus sich ballendem Grau zu erkennen und drang mit ihren seidigen Strahlen nur an manchen Stellen durch die dichten Schwaden.
Thronn berührte den Fels, voller Voraussicht, Wissen und Ahnung, doch das erhoffte Flackern in seinen Fingerkuppen blieb aus, das Kribbeln, das sich bei dem Gebrauch des Magischen in seinem Körper ausbreiten sollte, war nicht zu spüren. Ein Hauch von Enttäuschung schwelgte in ihm auf und seine Augen funkelten unsicher, wie zwei blinkende Sterne. Dort leuchtete Feuer hinter seinem Blick, Feuer der Wut, des Hasses und der unterdrückten Hoffnung. Er erinnerte sich an die Worte des Alten, Seele, Geist und Herz müssen frei sein, denn Magie kann nur aus Magie entstehen, der Magie des Lebens...
Ruhig atmete er aus... und dann brannte das Feuer in ihm so hell auf, dass die Luft scharf in seine Kehle schnitt, ein unbändiger Strom aus Macht, Energie und Wissen rang sich in ihm empor und aus all seinen Körperöffnungen schienen Flammen zu dringen und ihn von Außen einzuhüllen. Die goldweiß bis roten Blätter der Glut erhoben sich nun auch vor seinen Augen und umgarnten ihn in ihren wirren Tänzen. Etwas dunkles, geheimnisvolles durchflutete ihn und auf einmal war alles kühl. Doch es hörte nicht auf, in ihm zu brennen, jetzt waren die Flammen eisig und kalt und das blaue, kalte Feuer pulsierte in seinen Fingern, weiches Fleisch wurde durchbrochen und Frost lagerte sich um seine Hände ab, die nun bleich und klamm wirkten, wie in den Nächten eines kalten Winters.
Es war schrecklich. Er sah Bilder und hörte Stimmen, schrille Schreie, und Schatten, die sich hinter drohenden Flammen abzeichneten. Die Burg war von einem Brand zerstört worden, der Angriff der Feinde war verheerend gewesen, als Feuer auf Stein prallte, Wesen aus einer längst vergangenen Zeit griffen an, ihre Haut war schwarz und mit glänzenden Schweißperlen übersät, ihre breiten Schwingen ledern und zerschlissen... Und rotglühende Augen, blutrot, leuchteten verrückt und bösartig, garstige Magie wohnte in den kleinen sehnigen Gestalten...
Thronn nahm die Hand zurück, und sogleich erlosch das Feuer, glomm noch ein einziges Mal heiß und kalt zugleich auf und versiegte dann in den Tiefen seines Körpers.
Der Alte war ruhig und sein Blick verriet, dass er bereits alles wusste. Sein Lächeln war unecht und Spott wirkte darin mit. "Was hast du gesehen?", fragte er, doch es war keine Frage, sondern das Wissen, das aus ihm sprach, denn ihm war es damals nicht anders gegangen.
"Schatten... Und Tod..." Seine Augen glommen verwirrt und sein Atem ging schwer und stoßweise.
"Die alte Welt. Es wird eine Zeit geben, in der die schwarzen Wesen wieder auferstehen. Und ihre Macht wird grausam sein." Er schwieg einige Zeit bekennend, doch dann sagte er, den Kopf von den dunkelgrünen Gräsern erhoben: "Bete darum, dass du sie nicht erlebst."
Ja, er betete noch heute darum. Aber er wusste, dass er erfolglos war. Das Schicksal hatte gewollt, dass er die Schattenwesen, die Mordgeister und die Dämonen der alten Welt nicht mehr miterlebte, doch Melwiora war, und ihre Macht breitete sich wie eine Schlechtwetterfront über den Ländern aus. Die Hoffnung ruhte in ihnen, und so durften sie die anderen nicht enttäuschen. Es würde sie schwer treffen, sehr schwer und das Land würde immer schneller zu Grunde gehen. Gab es noch Rettung? Und wenn, war sie dann nah genug, um sie zu greifen? War es...
"Wir sind da!", unterbrach die feste Stimme Arth Patrinells seine Gedanken und seine starke Hand zeigte auf ein Haus, das einzeln und abgeschieden von den anderen auf einer kleinen Erhebung stand, und um das sich ein Abhang zog. Sie sahen alle auf den ersten Blick, dass es ein Haus war, das man gut verteidigen konnte, ein Haus, dessen Grundmauern tief in die Erde reichten. Es war einfach gebaut und wirkte zerstört und leer, doch vielleicht war es genau das, was Warrket den Eindruck von einer Festung vermittelte, eine Barriere, eine unüberwindliche Hürde aus Stein, Holz und Schindeln, die den Ansatz von Grünspan zeigten.
"Wie viele sind da drin?", fragte er, die Augen zu zwei grauen Schlitzen zusammenkneifend, um in die Ferne zu spähen.
"Da drin? Nicht viele." Er lächelte und sein kantiges Gesicht wirkte sympathisch, war mit einem dünnen Schweißfilm überzogen und glänzte leicht im Licht der Gestirne. "Es ist eines der alten Brunnenhäuser der Stadt. Aber in den Tunneln sind wir viele. Dreihundert Männer, Frauen und Kinder. Aber nur dreißig von ihnen können kämpfen. Jeder, der ein Schwert zu führen im Stande ist, wird darum kämpfen, wenn die Dämonen sich bis in die unterirdischen Gänge vorwagen!"
Sein Glaube an die Freiheit war stark, dachte Thronn und er spürte den leichten Anflug von Erregung in Arths Stimme.

Ein feiner Nieselregen ging über das stark bewaldete Tiefland hin, drang aus den Wolken, die sich schattig verkrampft vor das Licht des nächtlichen Himmels geschoben hatten. Die Tropfen fielen stetig und in dünnen Schnüren, trafen auf breite, lederne Blätter, von denen der Staub gewaschen wurde und in der Luft lag das Aufschlagen als hoher, glockenreiner Ton. Die Erde war feucht, fast sumpfig und an den meisten Stellen platt getrampelt. Dämonen und Wandler gingen, bekleidet mit Leder und Stahl, zwischen den Zelten und Belagerungstürmen umher, oder saßen an unterdachten Lagerfeuern und wärmten sich. Burg Krakenstein ragte groß, gewaltig und uneinnehmbar im nebligen Dunst zwischen großen Felshängen auf, und doch war sie in einer Nacht gefallen. Und am nächsten Tag besetzt worden, so als wäre nie etwas unnatürliches Geschehen und nur wenige wussten davon.
Josias Kajetan stand ganz im Schatten einiger Felsüberhänge und sein Ausdruck war angespannt, als ihm der Wind rau ins Gesicht blies, den Regen mit sich führte, und er den Reden des alten Magiers lauschte.
"Ich habe dich herausgebracht", sagte Timotheus und seine Hände wurden verwendet, um sachliche Gesten zu formen. "Das ist eine Sache. Aber durch die Reihen der Dämonen zu dringen ist deine. Bringe nur das Kästchen zu Rone. Er wird wissen, was er damit tun soll."
Kajetan nickte und seine großen Hände, gewandet in pechschwarze Handschuhe, hielten das kunstvoll geschnitzte Kästchen aus schwarzem Ebenholz mit beiden Händen. Er schob es schließlich in seinen Rucksack, der so steingrau war wie die felsige Umgebung und sah dann wieder zu dem alten Magier. Er sah verbraucht aus, hatte stark ausgeprägte Wangenknochen und feine Äderchen verliefen in den Falten, die tiefen Furchen, Schluchten seiner Haut, glichen. "Ich werde mein bestes tun."
"Geh nun", verabschiedete sich der Alte winkend, die eine Hand um den Mantel gelegt, um ihn zusammenzuhalten, denn der Regen peitschte die steinerne Oberfläche der Felsen und machte sie rutschig, als der Krieger sich die Kapuze tief in die Stirn zog, den schwarzen Kragen hochstellte und sich zum Gehen wandte. "Und ich hoffe, dass du deine Aufgabe erfüllen kannst und heil in Trishol ankommst! Der Wald birgt viele Gefahren in sich!"
Josias verstand, was der Magier damit sagen wollte. Natürlich wollte er, dass der kleine Schatz, der ihm mitgegeben wurde, zur rechten Zeit und unversehrt bei Rone ankam, andererseits musste er ihm der Höflichkeit halber Glück wünschen.
Er verließ den Schutz der Felsen, blieb nur für einen Augenblick sichtbar, dann verschwand er in einem kleinen Wäldchen, das fast sofort an die Felsen angrenzte. Es war ein Hain aus Eichen und Kastanien, durchsetzt von einigen Tannen, und die Wurzeln bedeckten den Boden, machten den Weg unbegehbar und schwierig, Algen hingen in triefend grünen Girlanden um die tiefhängenden Äste, ein Zeichen, dass es hier sehr sumpfig war. Die Rinden waren dunkel, feingemustert und wirkten vollgesogen mit Nässe und Feuchtigkeit, Felsbrocken und Steine hatten sich zwischen dem Gewirr des Bodens aus verschiedenen Nachtschattengewächsen und verfaulendem Holz gezwängt und waren oftmals von dicken Wurzeln eingerahmt. Die Pfützen waren voll von grünem Schlick und das Wasser schimmerte grün, Wasserlinsen und Seerosen zeigten sich nur in den etwas sauberen Teilen der stinkenden, stehenden Brühe. Kajetan ging schnell und immer im Schutze der Bäume, während der Boden locker und unnachgiebig war und er leicht hätte ausrutschen können. Nur manchmal wagte er vorsichtige Blicke nach Westen, wo sich die Zelte und Lager der Feinde erhoben. Am liebsten wäre er jetzt, das gezogene Breitschwert mit beiden Händen fest umklammert, auf sie zugestürmt und hätte sie mit wirbelnden Attacken beiseitegeschleudert, doch er wusste, dass er nur für eine gewisse Zeit den Überraschungsmoment auf seiner Seite haben würde. Die Wandler würden ihn packen und zerreißen, wie sie die Puppe eines kleinen Mädchens zerrissen hätten, das sich unter sie gewagt hätte. Er verscheuchte den Gedanken und rannte schneller. Er musste sich beeilen, denn seine Truppe in Trishol würde nicht lange auf ihn warten. Wussten sie überhaupt, dass er kam? Was war, wenn er ankam, nach ihnen suchte, sie nicht fand oder nur tot und dann selbst getötet oder gefangengenommen werden würde? Alles gab ihm Grund, um zu fragen, doch er hatte keine Zeit dazu! Er musste auf seinen Weg und die Blicke der Feinde achten!
Plötzlich sah er zwischen dem Gewirr aus Blättern, tiefhängenden, verkrüppelten Ästen und steil aus der Erde herausragenden Felsbrocken etwas Rotes schimmern. Er sah Schuppen, dann einen ganzen Panzer und schließlich stand er vor etwas, was ihm Angst einjagte.

Als sich der Hexenmeister sinnierend abwenden wollte, legte sich ihm plötzlich eine schwere, behandschuhte Hand von hinten auf die Schulter. Er spürte, wie sich die stählerne Klaue tief in sein Fleisch grub, und glaubte, das leise Knacken von brechenden Knochen zu hören. Sein Hals wurde von einem singenden Schmerz ergriffen, und er stöhnte leise auf. "Wer...?", brachte er unter großen Schmerzen heraus. Sein Körper zitterte.
"Du glaubst, er wird seine Reise antreten?", fragte eine tiefe, raue Stimme und der alte Druide spürte, wie sein Hintermann das Gesicht zu einer Fratze verzog, das er für ein Lächeln halten musste, dennoch entgegnete er nichts, sondern versuchte sich verbissen zu befreien. Er spürte den heißenden, stinkenden Atem des Wandlers in seinem Nacken. "Sicher glaubst du das!", beendete die fremde Gestalt die Frage. "Aber ich werde mich seiner annehmen, und du wirst alles vergessen haben, bis er dich wieder aufsucht!"
Abrupt drehte sich Timotheus herum, starrte für den Bruchteil einer Sekunde wütend das Gesicht des anderen an, bevor er erstarrte. Seine geballten Fäuste sanken schlaff hernieder. Die Hand, die sich saugend in seine Gesicht gekrallt hatte, verströmte ein heißes, unbezwingbares Feuer, das seinen Schädel mit betäubender Wirkung umfasste...
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 7. Kapitel: "Der Drache"

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