Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 1. Buch
Der Zerfall des Reiches 10 - Der Geheimgang

Runes Gehirn arbeitete und seine Finger brannten wie Feuer, Staub lag in dicken Schichten über Allem und seit Stunden hatte er nur das vergilbte, eingerissene Papier der alten Dokumente in Händen. Die Schrift war blass und mit scharfgestochener, pechschwarzer Tinte geschrieben, doch an einigen Stellen waren die Worte verwischt und ergaben keinen Sinn. Feuchtigkeit und Gezeiten hatten an ihr genagt und sie langsam aber sicher zu Fall gebracht.
Die Bibliothek der Burg war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war, die hohen Regale mit Büchern und Schriftrollen waren zum Teil umgestürzt oder lagen völlig in den Trümmern von Fels und Staub. Grelles Sonnenlicht durchbrach die Decke und die halbe Ostwand an der Seite, wo vor einigen Wochen der größte Angriff der Dämonen gewütet hatte. Jedoch hatten sie diese nach der völligen Abschottung der Hauptgebäudes von den anderen Teilen der Festung verlassen und waren in die Teile der Stadt zurückgekehrt, von wo aus sie die größten Chancen hatten, den letzten Stützpunkt zu erreichen. Der Himmel war verhangen von einigen Wolken, die jedoch nur blass zu erkennen waren und die Hitze des Frühlings lag mit seinen lauen Lüften über allem. Reiher und Kraniche und andere Vogelschwärme zogen als graue Schwärme wieder gen Norden, kamen zurück von den heißen Dschungeln der Inseln des Südlandes, hatten das große Meer des Seraphim überflogen und wieder eingetaucht in die trüben Tage ihres Heimatlandes.
Die ausgefransten Stellen der Mauer waren scharfe Umrisse; und an den Rand eines der Bruchstücke gelehnt stand Trajan. Unermüdlich wie immer war er an den Außenzinnen postiert, um die anderen vor Angreifern zu warnen, die sich aus dem Schatten der Stadt heranschleichen wollten. Die Hand hielt er gegen die Schläfe, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen. Er fühlte etwas in ihm, das grub und suchte, versuchte sich einzunisten in seinen Leib, doch sein Körper rebellierte dagegen. Er wusste nicht, was es war, doch er wusste, dass es kein Teil von ihm war. Aus Sicherheitsgründen hatte er seinen Freunden nichts davon erzählt, denn sie würden ihm nicht glauben, sondern ihn in die dunklen Ecken einer Kammer verbannen und ihn sich vom Leib halten. Er würde seien eigenen Freunde verlieren, und das wollte er nicht. Und so würde auch keiner erfahren, dass die Bestie, die momentan noch in ihm gefangen war, langsam begann auszubrechen. Immer wieder bemerkte er es, wenn sich schlafen legen wollte, denn das unheimliche Wesen in ihm begann dann zu erwachen und einen finsteren Spaziergang in seinen Gedanken zu unternahmen. Mit seinem inneren Auge verfolgte er das Schattenwesen und seine Haut glänzte wie Chitin und es ging gebückt. Es war die Haltung eines Dämonen, doch er war pechschwarz, seine Haut hatte die Farbe von regennassen Schieferplatten und es bewegte sich sehnig und lauernd, war gefährlicher als die einfachen, verletzbaren Gestalten der Tiefländungeheuer. Was in ihm wütete war schlauer, bereit ihn zu überlisten und ihn beiseite zu räumen, wie einen überflüssigen Gedanken. Aber jetzt brauchte es ihn, das spürte Trajan und es machte ihm Angst. Das schlimmste war, dass er nicht genau wusste, woher es gekommen war und warum es da war. So weit er sich erinnern konnte, war es erst gekommen, als er den Schutz der Feste verlassen und in die nebeligen Schleier der alten Stadt eingedrungen war. Der Schatten in seinem Innern war auch der Grund gewesen, warum er nicht früher gekommen war. Seien Gefährten hatten ihn danach gefragt, doch er hatte die Fragen nicht beantwortet. Zuerst jedenfalls, dann wurden sie dringlicher und Rune schien etwas gemerkt zu haben, denn die gewohnte Selbstsicherheit war aus seinen Augen gewichen und hatte einer geheimen Angst platzgemacht, die vielleicht ihm galt. Als Trajan gespürt hatte, dass etwas nicht mit ihm stimmte, hatte er sich lange in den Häusern versteckt und hatte von den Vorräten - die er in einem alten Bauernhaus fand - gelebt und hatte sich zusammengekauert in eine Ecke gesetzt. Die Beine eng an den Körper gezogen und die Arme darum gelegt hatte er lange da gesessen und in sich hineingehorcht. Er hatte die Macht, die Kraft seiner Muskeln ganz deutlich gespürt, doch noch etwas anderes war da gewesen, was lautlos in seinem Unterbewusstsein herumpirschte und dessen Gestalt beinahe unergründlich war. Rotglühende Augen waren verrückte Funken gewesen, die er kurz erblickt hatte, dann waren seine Gedanken wieder klar und frei gewesen, denn das Böse war untergetaucht. Das heißt, er wusste nicht einmal, ob der Schatten in ihm etwas Gutes, oder Böses war, aber er fühlte, dass es hungrig war. Und er war nicht gewillt, seinen Hunger zu stillen, obgleich nach was der Dunkle verlangte. Oft hörte er Stimmen, wenn das Schattenwesen mit ihm sprach, Stimmen, die kalt wie Eis waren und ihn Dinge tun ließen, die er nicht tun wollte.
Hunger!
Es war dieses unersättliche Verlangen nach etwas fremdartigen, das er noch nie gespürt hatte, was dieses Wesen so gefährlich machte. Er versuchte sich abzulenken und sah hinaus auf den Horizont, dort, wo die Stadtmauer dunkel und schwarz; die Silhouette vor der Mittagssonne war, die im Süden ihren Lauf nahm. Vor den zerbröckelten Steinen des Schutzes waren die Wohnhäuser und Warenlager, die Bierhäuser und Bauernhöfe zu betrachten, die sich dort an der gepflasterten Straße eng aneinander reihten. Er sah keine Dämonen oder andere Wesen Melwioras, nur die Schatten, die von den prächtigen Bauten geworfen wurde, die in allen Regenbogenfarben zu schimmern schienen, so dicht war ihre Farbenpracht aus Vogelperspektive. Direkt vor ihm führte ein steiler Hang aus Schutt und halbverschonten Steinfiguren hinab und tief unten standen die Ruinen der Kirche, die halb von dem Staub und den vielen Steinquadern zugeschüttet war. Die Trisholer Burg war direkt an den zerklüfteten Hang eines Berges gebaut und erhob sich deshalb stark von der Niederlassung dieses Stadtviertels. Noch gestern Nacht hatte es geregnet, jetzt war bereits der Frühling eingekehrt und hatte den Winter so gut es ging vertrieben, doch würde dieser wiederkommen, in genau einem Jahr, darin lag die Gewissheit. Und das war das Beängstigende daran. Auch die Monster des tiefen Waldlandes würden wiederkommen, bei Einbruch der Nacht, und sich wie eine zweite Schicht aus steingrauen Felsen über die Stadt legen. Trajan fragte sich, wo die Wesen sich wohl die Nacht über verstecken mochten.
Nach einiger Zeit der Langweile glitten seine Augen hinüber zu den anderen und instinktiv suchten sie Rykorn. Der schlanke, drahtige Mann stand stocksteif auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, gelehnt in den Schatten eines Bücherregals und sein Blick war unsicher und das kurze Haar zerzaust, während Trajans Haar bernsteinfarben im Sonnenlicht funkelte. Jener schien nicht von den teuflischen Symptomen befallen zu sein, denn seine Züge verrieten nur Nachdenklichkeit, keine Angst oder verbotenes Wissen. Das blaue Gewand hing an ihm, kaum beschädigt, nur getränkt von Schweiß, den die Hitze und die Anstrengung hervorgetrieben hatte.
Dann besah er sich Palax, den griesgrämigen Zwerg, der ebenfalls an einem der Tische saß und las, doch die Sprache und die Schrift der Hochländer schien ihm Schwierigkeiten zu machen, Schwierigkeiten, die man bei der Suche nach Etwas nicht brauchen konnte. Noch immer suchten sie nach den Geheimgängen des Schlosses, denn es war immerhin möglich, dass sich König Meridian in einem der Tunnel befand, die so zahlreich und in Hülle und Fülle vorhanden sein sollten.
Schließlich entschränkte er seine Arme und begann mit dem Abstieg des Schutthügels, der, wie aus der Burg, auch in die Burg führte. Die Wand war eben auf beiden Seiten eingestürzt. Er verließ seinen Wachplatz nur, um mit den anderen zu reden, sich mit ihnen zu unterhalten, denn er merkte, dass alle langsam ungeduldig und leicht reizbar wurden. Der junge Rune wollte unbedingt seinen Vater wiederfinden, denn er glaubte nicht daran, dass dieser in die Hände der Tiefländer gefallen sein sollte. Schon oft hatte er seinen Vater von den Wegen unter den Böden und hinter den Wänden reden gehört und es hatte bei ihm Gehör gefunden, nur war nach den langen Jahren seiner Ausbildung als Prinz und Waldläufer und letztendlich als Kriegsveteran das Wissen über sie abhanden gekommen. Es war verschwunden, verschmolzen in der Wand, die sein Kurzzeit- von seinem Langzeitgedächtnis trennte, es war noch da, zum Greifen nah, doch es verschwamm, wenn er sich näher heranbeugte, um etwas Genaueres zu entdecken. Wünsche von der Lösung verließen seinen Geist so schnell wie sie gekommen waren, als er etwas neues fand, was ihm hätte helfen können. Sein Blick war scharf auf die Lettern gerichtet, die auf dem vergilbten Papier standen und nur noch schlecht zu lesen waren, da die Buchrücken mit Spinnweben verhangen und die Tinte auf dem Pergament verblichen waren. Immer noch spürte er in sich dieses Wüten, das er gespürt hatte, als der Schleim in seien Kopfhaut eingedrungen war, seinen Körper am nächsten Tag auf die natürliche Weise verlassen, aber in ihm etwas hinterlassen hatte. Etwas unnatürlich Dunkles und Unheimliches, doch sein inneres Selbst wehrte sich nicht dagegen, es schien es sogar freudig zu empfangen, doch dieses Empfangen brachte Schmerzen mit sich, ein Wehklagen, das geblieben war, auch als das Wesen seine letzte Abwehr durchdrungen hatte. Nun schlich es in ihm herum und er spürte, dass es bei dem hünenhaften Trajan genauso war, eine vage Wahrnehmung einer Existenz, die sich in einem zu vermehren schien. Es war verrückt und unnatürlich, dennoch war es da und breitete sich rasend schnell aus. Die Schmerzen kamen nun ständig und unablässig, doch sie rasten an ihm vorbei und es blieb nur die Erinnerung wie an einen Nadelstich, dessen Wirkung noch im Körper verklang, es war, als wären ihm nicht nur die Füße, sondern der größte Teil seines Körpers gleich mit eingeschlafen. Das Kribbeln in ihm wurde von Mal zu Mal stärker, wenn er sich dagegen aufbäumen wollte, doch es verschwand nicht, es reizte seine Haut von innen und gerbte sie wie altes Leder. Eine Schicht der Absonderung wuchs von innen nach außen und um ihn herum und blieb hart wie eine Wand aus Stahl. Der Unbekannte in ihm wollte verhindern, dass man ihn sah, verhindern, dass man wusste, dass er existierte, und er wollte auch, dass man verstand, verstand, warum er da war und warum man ihm nichts tun sollte.
So blätterte Rune Seite für Seite um, die Bücher um ihn herum häuften sich und Staub legte sich erneut auf sie, Pollen, die auf den Strahlen der Sonne ritten. Die anderen um ihn herum begannen zu reden, während der Nachmittag eintrat und die Sonne sich von ihrem höchsten Stand langsam herabsenkte, begann sich langsam unter den dröhnenden Schlägen der Nacht geschlagen zu geben.
Und so siegt die Dunkelheit über das Licht, verbirgt es in den Schatten und löscht es aus wie eine flackernde Kerze.
Was wollten ihm diese Worte sagen? War es ein Hinweis auf das Kommende, eine Fingerzeig auf das Grauen, das noch bevor stand? Waren die Dämonen nicht schon genug? Reichten sie nicht als dominierende Macht? Sollte noch mehr erobert und zerstört werden, von einer Macht, die direkt aus dem schwarzen Turm kam?
Erschrockene Leere breitete sich in ihm aus, als er ohne weiteres Erhoffen plötzlich auf die Lösung, auf das Ergebnis stieß, das sie auch den zerfledderten Seiten auf der rauen Oberfläche des Tisches vor ihm zeigte...
Ich ließ Gänge anlegen, Gänge, die das Reich vorübergehend schützen sollten, und in die ich mich zurückziehen konnte, wenn Gefahr drohte.
Das Tagebuch seines Vaters, die niedergeschriebene, originale Form, unverändert und unabänderlich. Er las die Worte und hörte die raue Stimme seines Vaters dabei, warm, und er fühlte sich geborgen, dort, auf den Seiten, zwischen den Buchstaben, die sein Vater in seiner Schrift hinterlassen hatte. Ein eisiges Kribbeln durchfuhr ihn und stille Freude hielt ihn fest. Doch was Rune nicht wusste, war, dass dieses unterstützende Gewicht auf seinen Schultern nicht seine eigene Erregung über den Fund war, sondern der Schatten Allagans, der sich groß und dunkel hinter ihm erhob, ein rauchiger Umriss, der seine Hände fest in seine Schultern gegraben hatte, um das in ihm wütende Biest für eine kurze Zeit wenigstens zu unterdrücken, und es hinter die starken Bande seiner Magie zu bannen. Senragor war noch immer tätig, lebte als stilles Wesen in den Geisterwesen, die Haut bleich, die Farben seines Haares nachtschwarz, schulterlang und wirr, die Züge stark und die Augen blutunterlaufen. Seien Miene war ernst und streng, doch keiner sah ihn, man konnte ihn nur spüren, spüren, als Veränderung der Luft, ein Unsichtbarer, dessen Form und Gestalt anders war, als man es sich hätte vorstellen können. Er war ein Rauschen in der Luft, eine Luftspiegelung, die sich ihre Kräfte zunutze machte, um zu helfen und aufzuerlegen, was getan werden musste. Allein er war ihr Antrieb und er musste auf sie vertrauen, wie er nur auf die legendären Krieger von Rohan vertrauen konnte. Oh, ja, er kannte die Zukunft. Und das besser als die meisten. Doch nun würde er sich zurückziehen, nach Osten reisen und auf den Auserwählten warten. Er würde in die blutenden Wasser eintauchen und in von dort die helfende Hand ausstrecken, um zu heilen, zu helfen und um zu empfangen...
Mir schwindet die Kraft, ich werde gehen, und meinen Söhnen sagen, dass sie nicht auf mich warten sollen. Ich werde mich dem stellen, was das Land bedroht und ich hoffe, dass sie meine Entscheidung bestehen werden, schließlich liegt in ihrer Macht das, was mich so lange am Leben gehalten hat. Mut, Hoffnung und Stärke, die Elemente, aus denen ein Krieger gemacht wurde. Wie auch mein Schwert, Azraìl, die Klinge, die das Land schützt. Ich werde sie mitnehmen und nach Osten reisen. Dem General werde ich befehlen, das Schwert gut zu bewahren, denn er allein kennt um seine geheime Macht. Doch ich höre bereits die schweren Rammböcke an den Toren und sehe die blutrünstigen Augen der Wesen, die mich niederringen wollen. Doch ich kämpfe dagegen an, ziehe Azraìl aus seiner Scheide und halte es gegen das Licht der zwei Monde. Silbern schimmert die Klinge und ich streiche mit der Hand über das Jugendliche Gesicht meiner Tochter. Dann drücke ich ihr einen Kuss auf ihre Lippen, die sich voll und glatt wie Marmor anfühlen, in ihren zarten Augen spiegelt sich das Versteck meiner Seele, in das ich immer mehr von etwas dunklem gezerrt werde und schließlich nachgebe und gehe, während die Stadt fällt und sich Totenstille über die leblosen Auen ausbreitet, die Wiesen des Hochlandes in dem Fluch des Eises und dem Schnee und der Kälte untergehen, während der Osten einweiteres Mal ruft, doch ich gehen in die Schatten, das Gesicht nach Westen gewand...
Ein Rätsel.
Die Aussage entsandt so klar und deutlich in Runes Kopf, dass es so war, als ob dies ihm jemand zugesprochen hätte. Jemand, dessen Stimme kalt und fast nur ein Zischen war, das zusammen mit dem Wind verhallt und sich mit dessen Jaulen mischt. Die Tochter. Soweit sich Meridian daran erinnerte, hatte er keine Schwester, also was mochte sein Vater mit dieser seltsamen Niederschrift gemeint haben? Und warum endete er plötzlich so abrupt?
Stein.
Wieder war es das Heulen des sanften Windes über ihm, der die Wolken antrieb und ihm seine Geheimnisse verriet. Es war unheimlich. Unheimlich, wie die bedrückende Schwere, die immer noch auf seinen Schultern ruhte und einen tiefen Drang in ihm zurückhielt. Doch sein Unterbewusstsein verriet ihm nicht was, nur, dass es schädlich und gierig war und er erinnerte sich an die Sucht, von der er erfüllt war, die jetzt allerdings durch etwas anderes gestillt wurde. Er wandte sich wieder dem Rätsel zu. Er war der Lösung so nah und doch so fern, die Antwort steckte wie hinter den dichten Schleiern von Nebel. Seine Lider brannten, er spürte es, zu lange saß er schon so da und las. Die scharfgestochenen Buchstaben mit ihren dünnen, langen Verzierungen schienen zu verwischen, wurden zu dem Nebel in seinem Geister. Für einen Moment schloss er die Augen, sog die Luft um sich herum behutsam und langsam ein, fing den Geruch von Nässe und Trockenheit zugleich ein und wiegte ihn in seinen Nasenhöhlen. Er spürte, wie die Sonne, ein erbarmungslos brennender Ball von oben auf ihn herab prallte und ihm den Schweiß in den Nacken trieb. Aber etwas hatte sich plötzlich schützend davor gelegt und spendete ihm die Kühle des Schattens. Es war kein Ding, welches Umrisse hatte, eher etwas, dass das Licht verschlang und dort nur noch Schwärze blieb, die vom Golde des Tages eingebettet wurde und sich darin badete, wie eine durchsichtige Gestalt, die dennoch Raum einnahm. Die Helligkeit traf Runes Nacken, doch die Hitze wurde von dem Wesen geblockt, das sie auf seine Schultern stützte und sich über ihm beugte. Wieder kam ihm dieses seltsame Rätsel in den Kopf, das der König hinterlassen hatte, um keine ungebetenen Geste auf seiner Fährte zu wissen. Stein... Er wiederholte das Wort im Geiste. Tochter... Was war das? Er fügte die Worte zusammen, weil sich die Worte magisch anzuziehen schienen und seine Verwunderung war groß, als sich die Bruchstücke wie längst auseinandergetriebene Magneten wiederfanden. Die steinerne Tochter, eine Statue aus Stein. Nein, er wollte fast laut loslachen, eine Statue. Die Statue. Gänge. Er erinnerte sich und es war ein unerwartetes Wiedererkennen. Die aus Marmor gemeißelte Frau in der Halle, die den Arm wie zum Gruße erhoben hatte, der Abschiedswink.
"Des Rätsels Lösung!" Das erste Mal seit Tagen hellten sich seine Züge auf und er klappte das Buch zu. Als er sich aufsetzte, trat der Schatten einige Schritte zurück und legte dann seinen weiten Mantel erneut um Meridian, sodass die Bestie weiterhin gefangen war. Sie durfte keine Behinderung für ihn sein, dachte er und beschwor erneut seine geheimnisvolle Energie herauf, um den Dämon in die Knie zu zwingen.
Trajan sah auf und sein Gesichtsausdruck war verwegen wie immer. "Hast du gefunden, was du wolltest?" Er stand am Rande des mit Staub überzogenen Schutthaufens und nur wenige Yard entfernt. So nahe, bemerkte Meridian, denn er hatte den Riesen nicht bemerkt, als er sich ihm genähert hatte. Hatten sich wohl auch andere auf die gleiche Weise genähert? Er rang die Frage herunter und blickte auf den Zwerg, während er sich daran machte das Tagebuch in seinen Rucksack zu verstauen.
"Das ist nichts für mich!", sagte jener und legte das Buch beiseite. "Zwerg sind nicht dazu geschaffen die scharfgestochene Runenschrift der Hochländer zu übersetzen!" Auch er machte sich bereit und Rune sah wieder zu dem hünenhaften Kerl hinüber. Seien Augen blitzten wie immer in diesem geheimnisvollen, wissenden Glanz und der Druidenmantel wirkte wie ein Schutz von innen und außen um ihn herum, sodass das Böse es nicht schaffen konnte, ihn einzunehmen. Bei Trajan war es bereits zu spät. Er hatte gekämpft und verloren, der Dämon die Oberhand übernommen und genau deswegen durfte er bei Rune nicht siegen. Der Breitschultrige würde verenden. Nicht sofort, sondern langsam, aber in naher Zukunft. Zwar wusste der Geist, was sich abspielen würde, doch auch seine Visionen waren nur ungenau und das Ende von Allem lag noch unentdeckt hinter einer Mauer aus Magie und Nacht, die gespickt war mit den eisigen Kristallen der Macht Melwioras. Die Eisfrau war allgegenwärtig, ihre Spiegel ihre Portale, Torwege und Sichtfenster in eine andere Welt.
"Die Statue", begann Rune schließlich und hob leicht das kleine, abgegriffene Taschenbuch in die Höhe, "ist nach den Angaben meines Vaters nicht der Eingang zu den Gängen, sondern der Schlüssel, der die Tür öffnet und uns somit den Weg bereitet."
"Den Weg wohin?", fragte Rykorn und seine Gestalt war schlank und in das Blau des Vorabends gewandet. "Ich bin nicht gewillt, mich lange unter der Stadt aufzuhalten." Ein dämonisches Funkeln stand in seinen Augen und auch der Zwerg war wie verändert.
Er nahm die Streitaxt in beide Hände und umklammerte sie fest, kampfbereit und breitbeinig stand er da in der Rüstung seines Volkes. "Genau, Meridian, wo willst du uns hinführen?" Die leichte Missgunst in ihren Stimmen war nicht zu überhören, jedoch war es nicht normal. Rune kannte seine Gefährten nicht so. Diese hier waren herzlos, angespannt und ohne jegliches Vertrauen auf die Fähigkeiten des Anderen. Offensichtlich begannen auch sie etwas zu spüren. Und so stand er den Dreien gegenüber, ein Moment des Schweigens entstand, während rasendschnelle Kämpfe in der Luft ausgefochten zu werden schienen. Körperloses Druidenfeuer krachte auf dunkle Wesen und gegen Wände aus Eis und versuchte sie zum Schmelzen zu bringen.
Verrat!
Hexenmagie!
Schattenwesen.
Rune wollte schreien. Nicht vor Hass, Wut oder Angst, sondern vor Verzweiflung. Er wusste nicht, was er ihnen sagen sollte. Würden sie die Wahrheit verstehen?
Eis brennt wie Feuer.
Und Feuer brennt wie Eis.
Nebel hüllt Gestalten ein, trübe ist der Laternenschein, wo der dunkle Mann ist gegenwärtig.
Doch durchbricht ein einziges Korn aus Körper, Geist und Seele den feurigen Laternenschein und zerstört mit blauen Bahnen was erschaffen wurde.
Der Singsang des Dunklen wurde heller, schwoll an zu einem wahren Tenor und aus den Händen barsten Flammen, die einhüllten, was sich dort aufgereiht hatte, dunkle Magie und Geister des kalten Feuers. Und jetzt antwortete Meridian ganz ohne Zwang und ohne zu zögern und seine Stimme war klar und wurde nicht von dem Brausen des Windes eingehüllt, wie die Lügen eines scheuen Redners, dessen Gelächter sich noch lange nach dem Scherz vernehmen lässt. "Wir werden den General der Stadtwache aufsuchen. Und mit seiner Hilfe werden die Zeiten der Unterdrückung und des gesenkten Kopfes verblassen, das Hochland wird aus den kalten Fängen Riagoth's gezogen werden und die Welt wird sich in Frieden wenden."
Wie mit einem Mal wich das Höhnische aus den Blicken und Gesichtern der anderen und Trajan lächelte, die Arme vor der Brust überschränkt. "So sei es dann, Hochländer.", sagte er. "Aus unserem Rückzug wurde Kraft und verborgenes Wissen gewonnen. Lasst uns nun aufbrechen, denn es ist die Nacht, deren Geheimnisse uns alle bedrohen."
"Ich werde mitgehen, Rune.", erklärte Rykorn und hatte die Stirn wie immer in Falten gelegt, die seinem Gesicht etwas Väterliches gaben. "Soll unsere Freundschaft uns auf ewig binden!" Er lächelte.
Der Zwerg murmelte etwas verlegen von Büchern und Rune lächelte. Er bedankte sich bei dem Wesen, das ihn geholfen hatte, das Böse und den Unglauben aus seinen Freunden zu treiben, bevor sie ganz der Macht Melwioras zu Füßen gefallen wären.
Der Nachmittag war heiß und trocken, doch die Winde brachten eine kühle Abwechslung, und graue Dunstschleier hatten sich am Horizont erhoben, überdeckten das Hochland und schützten es vor den Einblicken von Wesen, die höher als die Wolken flogen, und deren alleinige Gegenwart einen ganzen Landstrich hätte auslöschen können. Über der Trisholer Burg lag allerdings ein blassblauer Schemen, der sich in leuchtenden Bahnen als Wetterleuchten über den dunkler werdenden Himmel zog. Und während die Nacht langsam und kühl hereinbrach, erholte sich der Vorfahre Thronns und seine Gestalt war unscharf und beinahe durchsichtig. Er saß da auf der verzierten Erhöhung eines Dachgiebels und blickte in die Welt hinaus. Tatsächlich würde er nun verschwinden. Die anderen brauchten ihn nicht mehr. Doch er würde ihnen mehrere Male noch erscheinen und mit ihnen in seiner Art reden, er würde ihnen Bilder zeigen, Traumbilder, die von der völligen Zerstörung und der völligen Vernichtung des Landes künden würden. Und dann würde er ihnen das Gegenteil senden. Es würde ihnen zeigen, wie es sein könnte und wie es sein wird, doch sie würden nicht erkennen, welches echt war, denn wer weiß schon, was die Zukunft bringt?
 
© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 11. Kapitel (1. Kapitel des 2. Buches): "Die Nacht"

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