Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 2. Buch
Der schwarze Laurus 4 - Der Wachturm von Pakin

Und das Wunder geschah, als ihn die felsigen Seiten des roten Passes zu umschließen begannen, sich große Klippen aus massivem Gestein um ihn erhoben, auf deren Hängen sich silberweiße Stämme und blutrote bis goldene Blätter wie Flammen um die Äste säumten. Das rote Herbstland war plötzlich um ihn herum und die frischen Lüfte der Nachwinterzeit waren den lauwarmen der herbstlichen Tage gewichen, mit einem Schlag hatte sich die Vegetation völlig geändert, nachdem er den hohen Stein des Hórenfels-Abdün überquert hatte und sich um ihn herum alles in Schale und Farbe geworfen hatte. Wieder war dieses seltsame Rascheln und Tuscheln in den Bäumen, das er vor etwa einer Stunde schon einmal mitten im Gebirge wie von fern vernommen hatte. Und wieder kam ihm dieser seltsame Gedanke, dass der Wald lebte.
Leben ist in der Luft, in der Erde, im Wasser...
Riechst du es?
Spürst du es?
Siehst du es?
Hörst du es in den Wäldern?
Ja, er hörte es. Und es machte ihm Angst. Die plötzliche Gewichtigkeit des Temperaturumschwungs zog ihn herab und er hing nur noch schwer im Sattel. So gebot er seinem Gaul etwas langsamer zu laufen. Ramhad war jetzt nicht mehr das Problem. Es lauerte auf ihn in der Natur. Er fühlte es, roch es, sah es jedoch nicht. Dennoch wusste er, dass es hier war und dass es gekommen war, um zu schützen, sein Reich. Er bemerkte jetzt erst, wie durchgeschwitzt das pechschwarze Tier war und wie angespannt er selbst, sein Atem und der des Pferdes verhallten sogar zur gleichen Zeit, während ein unnatürlicher Wind durch die Blätter fuhr. Während es langsam ganz zum Stillstand überging, wendete er sich halb im Sattel und sah nach hinten. Er hatte das Gefühl, dass er stehen bleiben musste, wo er war, und sich nicht rühren sollte, es war, als wäre eine unsichtbare Wand hinter ihm erschienen, die ihn schützte. Bemerkt hatte er es erst, als der Wetterumschwung gekommen war und es war für ihn gewesen, als ob es genau an dem gleichen Punkt gewesen war, wo er sich jetzt diesen imaginären Schutzschild vorstellte.
Und dann erblickte er Ramhad.
Er stand da, in der Mitte des Passes, jetzt mehr Schattenwesen als Mensch, die Laterne funkelte noch immer wie ein Irrlicht zwischen seinen Fingern und sein Blick war, als würde er Josias etwas zugestehen, nicken und sagen, dass er ein würdiger Gegner gewesen war. Aber sonst geschah nichts. Der Dunkle war umhüllt von seiner Magie, von den hellen Strahlen der Laterne und der tiefschwarzen Nacht und er stand nur wenige Schritte vor dieser unwirklichen Mauer. Kajetan stockte der Atem, als er sah, wie sich die Schattenwesengestalt Ramhads zurück zu verwandeln schien, das Dunkle glitt zurück in den grotesken Körper eines Menschen, durch den sich Narben wie breite Furchen gezogen hatten. Es war gewesen, als ob die Leere in ihm mit den Schatten gefüllt war, die sein wahres Äußeres beherrschten, die Schwarzen waren hervorgetreten und hatten sich wie ein schützender Umhang um ihn gelegt und glitten jetzt wieder vorsichtig hinein, tasteten ihren Weg an der rotgesichtigen Gestalt entlang, die noch immer stand und deren Augen unendlich tief zu funkeln schienen. In ihnen verbarg sich etwas. Es war nicht die Gestalt eines Menschen, die er steuerte, sondern seine Eigene, die er sich aus Magie und totem Fleisch geschaffen hatte, zusammengefügt und die Nahtstellen bildeten jetzt Verletzungen. Es war eine Hülle, die er sich übergestreift hatte und die seine Macht fassen konnte. Er war kein Wandler, sondern etwas schlimmeres, denn er musste töten, um die Gestalt eines anderen anzunehmen. Josias starrte noch einige Augenblicke lang auf diese höllische Ausgeburt, bis er bemerkte, dass das Schattenwesen den sehnigen Kopf gehoben hatte und in den Schatten der Berge stierte. Kajetan folgte seinem Blick, gefasst auf alles, gefasst auf jeden riesigen Schatten, der sich dort zeigen mochte, um ihn zu zermalmen.
Er sah etwas großes, das klobig und steil in den Himmel ragte, auf einer Anhöhe erbaut war, die sich mitten aus den roten Wäldern erhob, und die noch auf einem auslaufenden Bergkamm stand. Es war ein riesiger, diagonal zu der Steinwand nach oben ragender Tintenfleck auf einem noch tieferen Schwarz, das er sah, und das an der oberen Stelle in Zinnen endete. Der Wachturm von Pakin erhob sich wie ein fremdartiges Wesen aus dem Massiv des Hórenfels-Abdün, um das gesamte Grenzland zu sichern. Der Truppführer hatte von ihm gehört, ihn jedoch selbst nie zu Gesicht bekommen, jetzt, das wusste er, war es das erste Mal, dass er ihn aus der Nähe sah und es würde nicht das Letzte sein. Sein Blick senkte sich wieder und er lächelte Ramhad zu, der plötzlich verschwunden war, wieder eingetaucht in das Dunkel, wie vor weniger als zwei Duzend Stunden, verschwunden im Nichts des weiten Landes.
Er saß immer noch breitbeinig im Sattel, als plötzlich eine schlanke Gestalt an einem der Klippenränder westlich von ihm auftauchte und auch sie war ein dunkles Nichts vor einem heller werdenden Hintergrund. Sie starrten sich an und im nächsten Moment war Josias umzingelt von mehreren Wesen, die ihre Bögen bis zum zerreißen gespannt auf ihn gerichtet hatten. Es waren Elfen. Sie trugen Kleider in den Farben des Waldes und ihre Bögen waren aus hellem Eschenholz, die Sehnen knarrten und die Pfeile darauf pulsierten. Ihre Gesichter und Züge waren unverkenntlich, die meisten glichen Rone bis auf wenige äußere Merkmale und überwiegend viele waren hellhaarig und hatten junge Gesichter, die Ohren wie angespitzt und etwas abstehend. Sie trugen Ledergürtel und Westen aus Seegras1, silberbestickte Waffenröcke und Ragón-Mäntel2, die sie mit jedem Material der Erde verschmelzen ließen.
Kajetan sah sie und verstand. Er war in ihr Reich eingedrungen, war jedoch nicht als Bedrohung gesehen worden und wurde zur näheren Begutachtung eingelassen. Erst das, was jetzt folgte, würde seine weitere Reise bestätigen. Er versuchte seine freudigste Mine aufzusetzen, obgleich es schwer war, da er verschwitzt wie sein Pferd war und dass er geschlagene zwei Stunden dem Tod ins Auge geblickt hatte, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Mit schnellen, fast schwebenden Schritten kam die Gestalt des Elfen den Hang hinunter. Sein Haar war nussbraun und einige Strähnen waren zu kleinen Zöpfen gebunden, während der Rest lang und seidig seine Schultern übergoss. Seine Züge waren hart und bestimmt, in seinem Arm lag Kraft und seine Finger hielten einen Dolch umschlossen, der dem sehr ähnlich sah, den er selbst trug.
"Wer seid Ihr, Fremder? Nennt mir euren Namen!" Die Stimme des Elfenführers war fest und befehlend, seine Augen schimmerten meergrün.
"Ich bin Josias Kajetan, Abgesandter der Menschen. Ich wünsche euren Herrn zu sprechen." Er saß noch immer breitbeinig im Sattel seines Tieres, das Gesicht leicht arrogant erhoben und so sah er auf die schlanke Gestalt des Elfen herab, über dessen Schulter einer ihrer seltsamen Mäntel geworfen war.
"Manch seltsames Pack schleicht sich um diese Zeit durch den Pass. Habt Ihr irgendwelche Beweise, dass Ihr keiner des fahrenden Volkes3 seid?" Er sprach das Wort fahrendes mit leichter Abscheu aus, während Kajetan fieberhaft überlegte. Nein, er hatte keine Beweise und so würde er auch nicht passieren können. Schließlich stieg er ab und stellte sich vor den Elfenhauptmann. Sie sahen sich streng in die Augen, waren fast auf gleicher Augenhöhe und ihre Blicke von der gleichen Gewandtheit. Sie waren sich ähnlich, vielleicht ähnlicher als es von Außen her schien. Das Pferd wieherte nervös, angesichts der mit Gift überzogenen Pfeilspitzen, die auf sie gerichtet waren und schließlich streckte der Elf Josias seine Hand zum Gruße entgegen und seine Augen glommen, so, als ob er lächeln würde, doch seine Lippen blieben stumm, wie gestochen ebene Züge verbargen das Freundliche, was jedoch dahinter stecken musste. "Mein Name ist Irmin Bar Óus Eszentir." Sie schüttelten sich die Hände. "Kommt mit, ich bringe Euch an einen Ort, an dem Ihr Euch ausruhen und wärmen könnte. Dabei könnt Ihr mir Euer Anliegen vortragen."
Kajetan war zu schwach, um zu antworten, und so nickte er nur bekennend, denn Müdigkeit brannte in seinen Muskeln und die Einladung Irmin Bar Óus’ war besser als jede andere, die er sich hätte vorstellen können. Der Elf würde ihm sogar helfen können. Es war immer gut einen Verbündeten auf seiner Seite zu haben, wenn das Anliegen das Aussenden einer Armee beinhaltete.
Und so gingen sie...
Die Luft war kühl und trocken, als sie den Turm erreichten, die steinerne Fassade war wie mit Moos versiegelt und der Mörtel bereits an vielen Stellen herausgebrochen. Das Tor war etwas mannshoch, breit und dicke Steinblöcke drängten sich dort übereinander, bildeten einen Torbogen. Der Stein war schwarz und rau, voller Unebenheiten und Löchern, dennoch schien von diesem eindrucksvollen Gebilde aus eine besondere Macht ausgestrahlt zu werden, eine Kraft, die alles Böse von ihm fernhielt und sich drohend zwischen Fels und Mauer erhob. Bäume und schlanke Büsche, in denen der Wind rauschte, der den Geruch von Feld, Feuchtigkeit und Tannen mit sich brachte, umrankten den schwarzen Turm, den Wachturm von Pakin. Die Zinnen waren breit und hätten einem Angriff mit Leichtigkeit standhalten können, dennoch war hier alles, als hätte es in ruhigem Frieden und Freude gelebt.
"Tritt ein, Fremder, und begutachte die Bauweise der Elfen.", sagte Irmin Bar Óus in leicht befehlendem Ton und seine Züge blickten streng, während sie näher an das eindrucksvolle Gebirge herantraten. Sein nussbraunes Haar wurde vom Wind wie Seide bewegt, war jedoch ohne Glanz, nur silberner Schmuck umfing einen kleinen Teil seiner geflochtenen Strähnen und er wirkte gepflegt, der Bogen auf seinem Rücken war der Langbogen eines erfahrenen Jägers und seine Gestalt schlank leicht gebräunt, das Gesicht energisch und doch verständnisvoll. "Der Wachturm von Pakin stammt noch aus der Zeit vor den ersten großen Kriegen. Er wurde erbaut, als die Nordländer wie wilde Hunde und Rudel von Wölfen einfielen, um sie zu sichten, bevor sie kamen." Während die anderen Elfen flink und leichtfüßig im Geäst der silbern und blutroten Akazien, welche die Stätte umsäumten, verschwanden, dämmerte der Himmel und das helle Blau wich einem diesigen Grau, das sich bis zum Horizont erstreckte. Es waren Elfenjäger, die sich darauf verstanden, aus dem Schutze des Waldes anzugreifen und blitzschnell wieder zu verschwinden, Schatten in der Nacht und Lichtblitze am Tag, ungewöhnlich schnell und scheinbar ohne Widerstand glitten sie in die feurigen Kronen ein und ihre Ragón-Mäntel schützten ihre Gestalten vor den neugierigen Blicken der anderen Waldbewohner. Füchse zogen umher, schlichen in Geäst und auf langen Ebenen von See- und Hochgras umher, ihre Erscheinungen rot bis goldbraune Farbtupfen in einem Meer aus waberndem Grün, bewegt vom Sturm.
Nun öffnete der geheimnisvolle Elf die schwere Tür, die aus verrostetem Metall und dickem, trockenem Holz bestand, sie war schwer und musste mit ganzer Kraft aufgeschoben werden, ein zerrendes Knarren erhob sich kurz und legte sich dann wieder, als sie drinnen und die Türen zu waren. Ein großer Riegel an Ketten wurde vorgeschoben, an eisernen Einlassungen an der Wand befestigt, das Rasseln des Stahls hallte laut, als es sich um den Balken und den Knauf der Tür legte. "Wir legen großen Wert auf Sicherheit.", erklärte Irmin Bar Óus und nahm eine blakende Fackel aus einer Halterung.
Kajetan drehte sich mit dem Schein des Feuers um und ihm gingen die Augen über. Die erste Halle des Turmes war breit und zog sich noch lange in den Berg hinein, schlanke Säulen und steinerne Stützpfeiler hielten die pechschwarze Decke, unter der sich der Rauch und der Ruß der Feuer sammelte. Es roch nach Schwefel und durch ein kleines, beinahe zu winziges Fenster - ebenfalls kurz unter jener - drang das fahle Licht der Dämmerung, erhellte nur vage die aus hellem Holz geschnitzten Tische und Bänke zwischen den Figuren und Balken. Die Einrichtung war karg, doch die Wände bunt bemalt, Bilder von Wald und Wiese waren zu sehen, das helle Blau des Himmels, über den schleierhaft die Wolken zogen, Bäume mit sattgrünen, ledernen Blättern und silbergrauen Stämmen verkörperten den Eindruck, dass man der Natur nahe war. Um die Pfosten aus Schiefergestein war ein kleines, kreisrundes Beet angelegt, aus dem Farne und Efeuranken schossen, die sich mit Blättern in den Farben des Herbstes darum schlossen und bald auch die hohe Decke überspülen würden. Die Luft war nicht stickig, wie man bei dem Anblick der vielen Fackeln vermuten mochte, nein, die Pflanzen im Inneren des Turmes sogen die schlechten Gerüche auf und gaben sauberer Luft ab, die sich frisch und leicht feucht zwischen den Steinen ausbreitete. Auch hier saßen einige Jäger herum und unterhielten sich in gedämpften Tonfall, während sie den Met aus ihren feingearbeiteten Krügen tranken. Vorsichtig und unsicher blickten sie auf und verstummten fast augenblicklich, als sie die hünenhafte Gestalt Josias’, gefolgt von Eszentir sahen. Fast augenblicklich erkannten sie den Elfen, dessen Blick immer noch leicht griesgrämig war, nickten ihm voll Ehrfurcht zu, während sie den Truppführer aus kalten Blicken maßen. "Er gehört zu mir.", erläuterte Irmin Bar Óus, seine Augen funkelten befehlend. Er war es gewohnt zu kommandieren und auch, dass er bekam, was er verlangte, bemerkte der Feldherr, doch er sprach es nicht aus, sondern erwiderte die Blicke der anderen genauso achtungslos. "Wir gehen nach oben." Der schnittige Elf ging voran, schritt direkt auf eine Treppe zu, die sich glatt und in dem eigentümlichen Glanze schimmernd aus einer dunklen Ecke des fast völlig runden Turmes erhob.
Schnell gingen sie hinauf und der Mensch war sich sicher, dass jetzt einer der Elfenjäger zur Treppe gerannt kam, um hinaufzusehen, doch er hört kein Geräusch, das Trippeln leichter Stiefel auf Schiefer oder Granit blieb aus. Allerdings konnte dies auch daran liegen, dass die Elfen viel zu leicht waren, um überhaupt Laute der Bewegungen von sich zu geben. Er fühlte sich leicht benommen, denn seit mehreren Tagen war er nur noch marschiert oder gerannt - den Ritt in den Pass nicht mitgerechnet -, nie war ihm Zeit zur Ruhe oder zum Schlafen geblieben, ständig waren die Mächte des Bösen gegenwärtig gewesen und hatten nach ihm gegriffen, um ihn zu sich herab zu ziehen, hatten versucht seinen Mut und seine Ausdauer zu zerbrechen. Doch er hatte sich gewehrt, mit seinem Schwert und allen Waffen, die ihm zur Verfügung standen. Nun wollte er den Kampf vermeiden. Als er vor Ramhad geflüchtet war, war ihm klar geworden, mit welchen Mächten er focht, wie stark seine Gegner wirklich waren. Der Wandler war schnell gewesen, so schnell wie sein Pferd, war beinahe zwei Stunden hinter ihnen her gewesen - ohne Pause -, und hätten sie den roten Pass nicht rechtzeitig erreicht, bevor der Gaul unter ihm zusammengebrochen wäre, hätte das Schattenwesen ihn zerfetzt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er erinnerte sich, sah die dünnen Platten von Chitin, die sich plötzlich dort aus dem feindlichen Gesicht herauskristallisiert hatten, wo Augenbrauen hätten sein müssen, und wie die Nase plötzlich viel knochiger und hohler gewirkt hatte, die Zähne länger, geschärft, und auf eine gewisse Weise spitz wie Nadeln. Und da hatte sich auch etwas unter dem roten Mantel erhoben, etwas, das sich strecken wollte, eingeengt zwischen all diesen ledernen Sachen, und sich auszubreiten versuchte, wie riesige, düstere Schwingen - vielleicht waren es auch solche gewesen. Bis sie dann schließlich gerettet wurden, durch das Aufkommen einer sonderbaren Magie, einer Schutzmauer aus Nebel, Schatten, Wind und dem Geruch der Wälder, gemengt zu einem teuflisch genialen Sud, der sich über alles wie eine wärmende Decke legte. Er erinnerte sich an das Flackern von dunklen bis olivgrünen Flammen, die aus dem Kanal des Passes empor gezuckt waren und sich schließlich hoch oben in den kälteren Luftzügen verloren hatten. Es war auf eine gewisse Weise betörend gewesen, auf eine Weise, die ihn erschreckte.
"Setzt Euch.", gebot ihm der Elf und seine helle Hand wies auf einen Stuhl, der ebenfalls aus dem Holz von Kirsche und Eiche gearbeitet war. Das Zimmer, in das sie gegangen waren, war klein, die Wände waren mit Farbe verputzt, die Vorhänge und Gardinen waren weiß und hingen wie Schleier vor dem Fenster aus Buntglas, durch das sich das runenförmige Muster von schmiedeeisernem Metall zog. Es war nicht offen, aber auch nicht zu, nur angelehnt, dennoch drang die Kälte in steten Atemzügen herein und blies gegen die Vorhänge, sodass diese sich bauschten und wie Gespenster im Raum schwebten. Auf der Südseite des Raumes zeigte sich eine feine Täfelung aus dem dunklen Holz von Pinien und Rosskastanien, hob sich düster vor der blütenweißen Wand ab. Angelehnt an diese Farben standen Regale mit vielen Büchern darin, die immer noch - ihre Einbände waren fest und schimmerten leicht - wie frisch gedruckt aussahen. Im Zimmer lag der Duft von Blumen und den rauen und glatten Seiten von Pergament und Papier. Kajetan nahm auf dem Stuhl, der ihm der Elf angeboten hatte, platz und bemerkte das Pult, das aus einem Studierzimmer zu kommen schien und einen einfachen Schreibtisch aus silbernem Herbstlandholz, der direkt zwischen Bett und Fenster stand. Irmin Bar Óus legte seinen Mantel über das Pult, seine Figur wirkte jetzt irgendwie dünner und glatter, seine Umrisse auf geheimnisvolle Art schärfer und deutlicher. Jetzt sah man nur noch den hautengen Waffenrock aus Seegras und die helle Robe darunter, den Bogen und die Pfeile hatte er bereits gleich beim Eintreten an die Wand gelehnt. Er nahm ebenfalls platz, jedoch auf der Matratze des Bettes, die unter seinem Federgewicht kaum nachgab. "Und nun sagt mir, was vorgefallen ist, dass Ihr unser Land so schnell erreichen wolltet." Sein Haupt war ernst erhoben, seine grünen Augen funkelten im Licht der feinen Morgensonne, die durch das Fenster trat, golden, kein Spott oder Missbilligung hatte sich in seiner Stimme gemischt. Er war nicht mehr so, wie Kajetan ihn vor einigen Augenblicken kennen gelernt hatte, sondern wirkte kerniger und auf eine bedrückende Art schwächer.
"Lest dies." Er reichte dem Elfen das Buch, das ihm Timotheus gegeben hatte. Bar schlug es sofort auf, seine Finger glitten kennend und wie über etwas Vertrautes über die Zeilen und die scharfgestochenen, kleinen Buchstaben, seine Blicke huschten schnell darüber und er hörte erst nach ein paar Seiten auf zu lesen. Er klappte das kleine, in gegerbtes Leder eingebundenes Buch zu, das mit goldenen Lettern beschriftet war und reichte es dem Führer wieder zurück.
"Ich kenne es.", sagte er und ihre Blicke trafen sich. "Ich las es in der Nacht zum letzten Mittsommer. Schon damals spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung mit der Welt war. Ich spürte etwas Dunkles aus dem Schatten des Hadesfelsen heraufsteigen und begab mich nach einigen Wochen selbst dort hin. Ich fand die Burg verlassen vor, die Männer waren entweder allesamt verreist, oder getötet und weggeschafft worden..." Er machte eine kurze Pause, maß die Stille zwischen ihnen und bekannte dann: "Ich wusste schon damals, dass es Melwiora war."
Josias schien entsetzt. "Aber warum habt Ihr damals nichts unternommen? Warum habt Ihr Eurem König nichts davon berichtet?"
Irmin lächelte verschmitzt und seine Augen umwölkten sich. "Weil, mein Lieber Freund, der König nichts unternehmen wollte. Er dachte, es wäre ein Irrtum, schickte mich ohne weiteres davon. Nicht glauben wollte er, was sich damals hinter den granitenen Zinnen abgespielt hat." Er hob den Blick wieder. "Woher habt Ihr das Buch?"
"Ich bekam es von einem Freund, der dringend die Hilfe eures Volkes braucht.", antwortete der Feldherr eindringlich. "Burg Krakenstein ist von den Dämonen eingenommen, Trishol überrannt...! Es gibt nur noch wenige Überlebende..."
"Krakenstein eingenommen?" Der Elf schien einen Moment ungläubig und linkisch, Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen, schien sich mit den Strahlen der Morgensonne zu mischen. Er setzte sich auf, legte sich seinen Mantel um und griff nach den Pfeilen, um sie sich mit samt dem Köcher und dem Bogen umzulegen. "Seit Wochen sehe ich nur die Truppen der Belagerer, die sich vor den Toren postieren!"
"Ein Trick!", klärte Kajetan fest und sein Blick war wie Stein Irmin gegenüber.
Unglauben hing in dem Blick des Elfen, und entschlossen öffnete er die Tür seines Zimmers. "Ich würde mich gern selbst davon überzeugen!"
"Ihr wollte durch den roten Pass nach Krakenstein und dort eindringen?" Kajetan war entsetzt und seine Stimme schnappte über, während sie den sich langsam erhellenden Flur entlang liefen, direkt auf die breite Treppe in die erste Halle hinunter. "Aber das ist doch völlig irrelevant!"
Er hielt plötzlich mitten im Laufen inne. "Nicht für mich.", sagte er bekräftigend, während seine Hände über die Holzvertäfelung tasten - er schien etwas zu suchen. Dann hatte er es gefunden, lehnte sich gegen die Wand, während er mit den Stiefeln festen Halt am Boden suchte. Der Wachturm von Pakin ist eine Festung, dachte der Truppführer, eine Festung, deren Mauer uneinnehmbar ist, versteckt in den Schatten der Berggipfel.
Auf einmal glitt einer der hölzernen Platten in die Steine hinein, Schwärze entstand, als sich der Geheimgang in den oberen Teil des Turmes öffnete. "Ihr habt mir genug gesagt, Josias.", gab Eszentir zu. "Ich vertraue Euch. Dennoch bin ich um das Wohlergehen meines Volkes besorgt." Sein Blick war voll Kraft und besorgt. Er schob die Vertäfelung ganz beiseite und hastete mit der Fackel in der Hand eine schmale Wendeltreppe hinauf, die eingeengt zwischen Wand und einem großen, runden Stützpfeiler war, der sich in der Mitte des Turmes erhob. 
"Volk?", rief ihm der Große noch verdutzt hinterher, bevor er ebenfalls in dem staubigen, mit Spinnenweben überzogenen Gang nach oben vortrat, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Schatten wurden von dem hellen Gleißen der Sonne durch die Fenster ausgeschlossen, verdrängt aus den Zonen des Lichtes. Die kratzenden Geräusche ihrer Stiefel auf den rauen Steinen war laut, wurde aber stetig leiser, um so höher sie gingen, die Spinnenweben wurden dichter, Trauben von Fledermäusen über ihnen sichtbar, die bei dem Anblick des flackernden Fackellichts kreischten und gestört aufschauten...

- 1: Seegras: Wächst nur in der Nähe von Seen. Eine große Fläche, wo sie in Vielzahl auftreten, ist die Seegraswüste nördlich vom Sirmuschsee, die auch an das Araschgebirge angrenzt. Es sind blaugrüne, dunkle Stängel, die fester und dicker sind als normales Gras. Im Gegensatz zum Hochgras, aus denen ebenfalls Hemden und Westen gemacht werden, ist Seegras schwerer, dafür aber beinahe unsichtbar zwischen den Bäumen und Blattwerk, während das andere hell ist.
- 2: Ragón-Mäntel: Gewoben aus besonderem Material, das nur von den Waldelfen angebaut wird. Es dauert Jahrhunderte, bis ein Ragón-Mantel fertiggestellt wird und man hat nur einen Mantel für ein Leben. Wer einen solchen trägt, ist praktisch unsichtbar anderen Gegenüber.
- 3: Fahrendes Volk: Fahrende sind Zigeuner, Gaukler oder Diebe, die in den Wäldern leben, obwohl sie die Bezeichnung Diebe nicht gerne hören, denn bei ihnen herrschen andere Gesetze.
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 15. Kapitel (5. Kapitel des 2. Buches): "Der Traum"

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