Alles begann an einem schwülen Junitag. Ich hatte mich mit
meinen Eltern gestritten, wegen was weiß ich heute nicht mehr, denn
das, was an diesem Abend geschah, stellte alles in den Schatten. Was ich
weiß, ist, dass ich einfach aus dem Haus gegangen bin, um meine Ruhe
zu haben. Ich war vielleicht eine halbe Stunde unterwegs, als es anfing
zu schütten. In der Nähe gab es keinen Unterstand, also rannte
ich in den Wald, in der Hoffnung, dort etwas Schutz zu finden. Es war ein
ungewöhnlich düsterer Wald, aber obwohl die Bäume so dicht
standen, dass kaum Licht auf den Waldboden fiel, bot er kaum einen Schutz
gegen den Regen. Die Tropfen bündelten sich und fielen dann gesammelt
auf den Boden - oder eben auf mich. Ich musste an die Gerüchte über
diesen Wald denken; Mörder und Diebe sollten sich hier versteckt halten,
und letztes Jahr um diese Zeit soll ein zwölfjähriges Mädchen
hier vergewaltigt und anschließend ermordet worden sein. Jetzt erst
fiel mir die Stille auf, sie war geradezu lauernd, bis auf das Geräusch
der schweren Tropfen, die sich, wenn sie auf den weichen Waldboden fielen,
anhörten wie Schritte. Mir war kalt. Plötzlich krachte es und
ein weißer Blitz fuhr neben mir in die Erde. Das war zuviel, ich
rannte los und vergaß alles um mich.
Ich wollte nur noch entkommen, nur weg von diesem schrecklichen
Ort. Ich rannte ohne hinter mich zu sehen und ohne auf die Äste zu
achten, die mir ins Gesicht schlugen. Als ich nicht mehr konnte, ließ
ich mich einfach auf den Boden fallen und begann zu weinen. Ich hatte keine
Ahnung, wo ich war, ich hatte nicht einmal die Spur einer Ahnung, in welche
Richtung ich gerannt war. Ich hörte es donnern. 'Na toll', dachte
ich mir, 'in ein paar Jahren werden sie meine Leiche finden und sich eine
passende Horrorgeschichte dazu ausdenken. Sie werden nie darauf kommen,
dass ein 16-jähriges Mädchen so enden musste, weil sie vor einem
Gewitter Angst hatte!' Keine Chance, ich war viel zu tief im Wald und hatte
keine Ahnung, wo der Ausgang war. In zwei Tagen würde ich wahrscheinlich
immer noch hier sein, weil ich im Kreis gelaufen war. Ich stieß meinen
Kopf gegen einen Baum bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
Ich stand auf und sah mich um, es war so dunkel, dass ich kaum die
Umrisse der Baumstämme erkennen konnte. "Na Prima, wenigstens ist
es hier halbwegs trocken", flüsterte ich und wischte mir die Tränen
am Ärmel ab. Irgendwo links von mir schimmerte es hell und ich beschloss,
darauf zuzugehen, was blieb mir auch anderes übrig?
Die Umgebung war mir nach wie vor nicht geheuer, aber ich beschloss,
mich durch nichts und niemanden mehr in Panik versetzen zu lassen. So tastete
ich mich im dunkeln vorsichtig an Baumstämmen und Steinen entlang.
Ich weiß nicht, wie lange ich lief, aber inzwischen hatten sich meine
Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ich wurde zuversichtlicher. Das
Licht kam näher und näher. Froh, den Ausgang gefunden zu haben,
ging ich schneller und stand plötzlich im Licht. Zu sagen, die Sonne
schien mir ins Gesicht, wäre sicher übertrieben, aber nach der
langen Dunkelheit blendete mich das Licht. Ich schloss die Augen und war
glücklich. Auch wenn ich immer noch nicht wusste, wo ich war - alles
war besser, als der Wald, und irgendwo musste ich auch Menschen finden.
Ich atmete tief ein und öffnete die Augen. Das erste, das ich sah,
war ein großer Fels, der vor mir wie eine große Speerspitze
aus dem Boden stach. Die Bäume hinter mir waren gleichmäßig
wie in einem großen Kreis um ihn herum angeordnet. Ich lief wieder
und wieder um den Felsen herum und wollte es nicht wahrhaben: die Bäume
nahmen kein Ende, ich stand auf einer Lichtung. Ich kann nicht sagen, was
ich empfand, alles in mir war betäubt. Ich ging zum Felsen, er fühlte
sich kalt und erstaunlich glatt an. Langsam setzte ich mich und wartete.
Ich saß einfach da, an den Felsen gelehnt und sah der Sonne zu, wie
sie unterging. Es wurde noch kälter und ich zog meine Jeansjacke enger
um mich. Nicht, dass es etwas genutzt hätte, sie war ja noch nass.
Der Mond ging auf und ich hörte irgendwo einen Uhu. Die Nacht war
erstaunlich klar. Es hatte keinen Sinn, jetzt noch mal in den Wald zu gehen,
also legte ich mich hin und versuchte es mir in dem hohen Gras so bequem
wie möglich zu machen. Die Zeit verging. Der Mond wanderte an mir
vorüber und zum ersten mal bemerkte ich, wie sehr sich auch die Sterne
bewegen.
Irgendwann muss ich wohl doch eingeschlafen sein, denn eine leichte
Berührung an der Nase weckte mich am nächsten Morgen. Alles musste
ein schlimmer Alptraum gewesen sein, ich würde die Augen öffnen
und mein gemütliches Zimmer sehen. Etwas berührte meine Stirn
und wanderte dann weiter bis zu meinem rechten Ohr. Ich sprang auf und
stand auf einer großen Lichtung, um mich die dunklen Bäume.
Etwas hing an meinem Ohr, ich schüttelte den Kopf und schlug gegen
dieses etwas. Es war die größte Spinne, die ich je gesehen hatte.
Sie fiel auf den Boden, blieb einen Moment sitzen und krabbelte dann davon.
Ich konnte sie sogar noch im hohen Gras erkennen. Ich begann zu zittern
und setzte mich wieder. Spinnen waren für mich bis dahin das widerlichste
und schrecklichste, das ich mir vorstellen konnte. Mir wurde übel
und ich musste mich übergeben. Verzweiflung stieg in mir hoch.
Das konnte doch nicht das Ende sein, oder doch? Die Bäume um mich
schienen dunkler zu werden und näher zu kommen. Meine einzige Chance
war, wieder in den Wald zu gehen und einen Ausweg zu finden.
Also machte ich mich auf. Das Fehlen eines Gewichtes auf meinem
Rücken machte mich nervös. Ich hatte weder Nahrung, noch irgendetwas,
mit dem ich mich notfalls hätte verteidigen können. Die Helden
und Heldinnen in meinen Büchern hatten immer einen Rucksack, oder
fanden in ihren Taschen etwas, das ihnen weiterhalf, aber ich hatte nichts,
nicht einmal mehr ein Taschentuch. Es musste mir aus der Tasche gefallen
sein, als ich vor dem Gewitter davongerannt war. Ich durchsuchte noch einmal
alle Taschen, aber ich fand nichts. Ich kam mir so verloren und hilflos
vor wie ein Baby. - Ohne Besitz kommen wir in die Welt und ohne Besitz
gehen wir von der Welt. - Wo hatte ich das nur gehört?
Nein, ich würde nicht ohne Besitz von der Welt gehen, jedenfalls
nicht jetzt, sagte ich mir und ging los.
Die Sonne ging hinter mir auf und ihre Strahlen leuchteten in das
Dunkel vor mir, so dass ich die Umrisse der Bäume und der verstreuten
Steine erkennen konnte. Das machte mir etwas Mut, ich lief schneller. Um
nicht im Kreis zu gehen, legte ich mir Zeichen aus Ästen und Steinen
an einige Stellen, doch ich zweifelte schon damals, dass sie mir etwas
bringen würden. Mit der Zeit bekam ich Durst und Hunger. Der Wald
war immer noch feucht, aber ich hörte nirgendwo ein Plätschern
oder sah auch nur eine Pfütze. Der Gedanke an Essen verging mir, als
ich an meine Spinne dachte. Der Waldboden war weich und eben, so dass man
gut auf ihm gehen konnte. Die Bäume standen weit genug auseinander
und ich musste mir keinen Weg durchs Geäst bahnen. Ich hatte schon
wieder etwas Hoffnung geschöpft, als plötzlich der Boden unter
meinen Füßen verschwand. Ich schlug um mich und versuchte mich
irgendwo festzuhalten, doch ich glitt in ein tiefes schwarzes Loch und
hatte das Gefühl, die Erde würde mich verschlucken. Ich raste
immer weiter abwärts wie durch einen Tunnel aus glatten Steinen. Ich
schrie, aber wie zum Dank wurde ich plötzlich gegen eine Wand geschleudert.
Bevor ich mich festhalten konnte ging es in einer Linkskurve weiter. Der
Stein wurde uneben und die kleinen Risse und Kanten schnitten mir in die
Beine und den Bauch. Die Tortur war zu Ende, als die Steine um mich herum
verschwanden und ich für einen Moment im leeren Raum hing. Dann fiel
ich mit dem Rücken zuerst nach unten. Ich landete auf etwas, das sich
etwa so anfühlte wie eine dicke, geflochtene Matte.
Mit geschlossenen Augen blieb ich liegen, mein Herz raste, und wenn
meine Arme und Beine nicht so geschmerzt hätten, dann hätte ich
nicht geglaubt, dass ich diese Achterbahnfahrt wirklich überlebt habe.
Ich versuchte, wieder normal zu atmen und öffnete die Augen. Ich befand
mich in einer riesigen unterirdischen Halle! Von irgendwoher kam ein warmes
Licht, das die groben Felswände bis in den letzten Winkel gleichmäßig
ausleuchtete. Nur einige Löcher in der Wand viele Meter über
mir waren vollkommen schwarz. 'Durch ein solches Loch muss ich wohl gekommen
sein', dachte ich. Erst als ich auf den Boden sah, merkte ich, dass ich
mich auf einer Art Erhebung befand. Ich drehte mich, um zu sehen, wie ich
von dort herunter kommen sollte, und blickte direkt in zwei überdimensionale,
bernsteinfarbene Schlangenaugen. Ich schrie und sprang einen Schritt zurück.
Dabei verlor ich den Halt und fiel von dem Plateau. Mitten im Fall fing
mich eine riesige Klaue auf.
"Nanu, was fällt denn da vom Himmel auf meine Nase?" fragte
eine tiefe Stimme, die die ganze Höhle vibrieren ließ. Mein
Herz setzte fast aus, als ich sah, dass ein gigantischer Drache mit mir
sprach, und ich verlor das Bewusstsein.
Mit einem Ruck war ich wieder wach. Ich lag auf dem Rücken auf
etwas weichem. Der Drache lag vor mir und sah mich fasziniert an. - So,
wie man einen besonders lecker hergerichteten Eisbecher ansehen würde,
fand ich. Hektisch sah ich mich nach einem Fluchtweg um.
"Keine Chance, mein Kleines", brummte das Ungeheuer belustigt. Es
war dunkelgrün geschuppt und wie mit einer dünnen Schicht Gold
überzogen, das in diesem seltsamen Licht bei jeder Bewegung glitzerte.
Ich konnte nur still dasitzen und es anstarren. Das war mehr als
ich begreifen konnte.
"Es gibt doch gar keine Drachen", flüsterte ich kopfschüttelnd,
"das sind doch nur Märchen."
"Du bist ja goldig", antwortete der Drache und pustete mir eine
warme Rauchwolke aus seinen großen Nüstern ins Gesicht. Dabei
zog er eine Grimasse, die ein bisschen aussah wie ein Lächeln.
Jetzt herrschte eine gespannte Stille. Scheinbar hatte der Drache
es nicht eilig, mich zu verspeisen. Ich zwickte mich, ohne den Blick auch
nur einen Moment von diesen riesigen Augen abwenden zu können.
"Du kannst mich ruhig anfassen, wenn du immer noch nicht glaubst,
dass es mich gibt", sagte er.
Natürlich fasste ich ihn nicht an. Stattdessen begann ich nur
unkontrolliert zu zittern.
"Schwache Nerven, das Kind", brummte er und drehte sich um, "was
mache ich jetzt nur mit dem Menschlein?" Er ging quer durch die Halle auf
einen Seitengang zu. "Schmackhaft, ohne Zweifel, wenn auch ein bisschen
schmutzig, aber..."
Murmelnd verschwand er in dem Gang und ließ mich allein in
der großen Höhle zurück. Vielleicht würde ich ja jetzt
einen Ausgang finden. Ich sah mich um, auf einer Seite führten drei
Gänge aus der Halle heraus. In dem mittleren war der Drache verschwunden.
Ich beschloss, den rechten zu nehmen, bevor er wiederkam. Schwankend versuchte
ich aufzustehen, alles drehte sich um mich. Ich stützte mich an der
Felswand ab und stolperte vorwärts. Jetzt sah ich auch, was der Halle
dieses besondere Licht gab: gleichmäßig bis zur gewölbten
Decke waren kleine leuchtende Steine oder Kristalle eingelassen. Ich sah
zurück. Das Weiche, auf dem ich gelegen hatte, musste das Bett des
Drachen gewesen sein. Eine Art Kissen lag auf der den Ausgängen zugewandten
Seite des Bettes, so dass er sie bequem beobachten konnte. In der Mitte
des Raumes gab es noch einen kleinen See. Das tiefblaue Wasser wurde leicht
bewegt, obwohl ich keinen Luftzug spürte. Ich hatte einen unheimlichen
Durst und konnte einfach nicht anders, als die Wand loszulassen und auf
das genau kreisrunde Becken zuzugehen.
Der Weg kam mir ewig lang vor, und ich hatte Angst, dass dieses
Monster bald zurückkommen könnte, aber schließlich erreichte
ich mein Ziel und ließ mich am flachen Rand des Sees nieder. Skeptisch
beobachtete ich das Wasser. Ob ich es wohl trinken konnte? 'Ha, als ob
das jetzt eine Rolle spielen würde', dachte ich und tauchte beide
Hände ein. Es war eiskalt und erfrischend, ich beugte mich darüber
und nahm zwei tiefe Schlucke. Zu sagen, ich fühlte mich wie neu geboren,
wäre wohl übertrieben, aber es ging mir besser und die Welt hörte
endlich auf, sich um mich zu drehen.
Der Ausgang war nicht mehr weit, und ich konnte jetzt schneller
gehen. Als ich davor stand, sah ich, dass er in einer Rechtskurve verlief.
Ich konnte das Ende nicht sehen. Der Gang war zwar etwas beleuchtet, aber
mir wurde trotzdem mulmig. Was würde mich als nächstes erwarten?
"Da kommst du nicht raus!" Dröhnte die tiefe Stimme des Drachen
so laut, dass der Boden unter mir bebte. Ich wirbelte herum. Er stand nur
wenige Meter hinter mir.
"Ich ähm, äh nicht dass ich, also, was ich...", stammelte
ich.
"Iss erst mal was. Du hast seit gestern morgen nichts mehr bekommen."
Wie konnte er das wissen?
"Die Vögel haben es mir erzählt", schien er meine Gedanken
zu lesen.
"Die Vögel", sagte ich ungläubig.
"Sieh mich nicht an, als ob ich geisteskrank wäre, schließlich
siehst du hier den Drachen und nicht ich. Ja, die kleinen Vögelchen
haben es mir erzählt, sie sehen viel..."
Er schien zu schmollen. Da saß ein Drache vor mir, starrte
die Wand über mir an, und war sauer, weil ich ihm nicht glaubte, dass
er mit Vögeln redete.
Ich hätte schreien können. Das war doch alles nicht real!
"Komm mit zu meinem Bett, da kannst du dich stärken und mir
erzählen, wie du hier herkommst." Er ging auf sein "Bett" zu und schien
überhaupt nicht daran zu zweifeln, dass ich ihm folgen würde.
Erst jetzt bemerkte ich die große Bronzeschüssel, die er vor
sich her schob, aber im Gegensatz zu seinen Klauen schien sie winzig.
Ich überlegte, was ich tun sollte. Wenn ich jetzt in den Gang
rennen würde, und er wirklich eine Sackgasse war? Und selbst wenn
nicht, der Drache würde mir sicher folgen und mich einholen. Obwohl
er sich bis jetzt sehr behäbig bewegt hatte, zweifelte ich nicht daran,
dass er auch anders konnte.
Ich lief hinter ihm her. Bis jetzt war er ja recht freundlich gewesen.
Er rollte sich auf seinem "Bett", wie er es nannte, zusammen, wobei
er die Schüssel an den Rand stellte und genug Platz für mich
freihielt. Sein Lager sah aus, wie ein großes rundes Kissen, auf
dem ein kleineres lag, das er jetzt vorsichtig aufschüttelte und seinen
Kopf darauf legte, ohne mich zu beachten.
Ich befühlte den dunklen samtartigen Bezug, den ich nicht einmal
bemerkt hatte, als ich vorhin hatte flüchten wollen, und kletterte
auf den großen, weichen Haufen. Als mich der Drache weiterhin nicht
beachtete, kroch ich auf die Schüssel zu und sah hinein. Sie war bis
zur Hälfte gefüllt mit einer roten, scheinbar zähflüssigen
Pampe. Sie roch süßlich.
"Beeren mit Honig", sagte der Drache, der mich jetzt wieder mit
einem Auge von der Seite beobachtete. Ich überwand mich, steckte den
Finger hinein, schloss die Augen und versuchte den Brei. Der Schock blieb
aus, es schmeckte wirklich köstlich. Ich nahm eine ganze Hand voll.
Ich aß, bis ich nicht mehr konnte, und ließ mich dann einfach
nach hinten fallen. Mir war warm, und ich war satt und zufrieden. Der Drache
räusperte sich und holte mich damit abrupt in die Wirklichkeit zurück.
"Nun erzähl schon, was führt dich her?" fragte er.
"Was mich herführt??? Ich bin ganz bestimmt nicht mit Absicht
hier!" Ich war selbst erschrocken über meinen Mut.
"Nein, ich meine, warum du von zuhause weggegangen, ohne etwas mitzunehmen,
und durch den ganzen Wald gewandert bist."
"Ich hatte Streit mit meinen Eltern, danach wollte ich einfach raus
und spazieren gehen. Es fing an zu regnen, und da wollte ich mich im Wald
unterstellen."
"Ach so, und dann bist du vor dem bösen Gewitter weggerannt
und hast die Orientierung verloren", lachte er.
Das war peinlich, ich lief rot an. Um abzulenken fragte ich: "Was
hast du vor mit mir? Willst du mich fressen, und die Beeren waren nur die
Füllung?"
Der Drache schien nachzudenken. "Nein, wahrscheinlich nicht, obwohl
ich wirklich Appetit hätte. Aber du hast mir nichts getan, und außerdem
bist du schmutzig."
Ich hätte eigentlich froh darüber sein müssen, aber
ich war sauer. "Wenn du das mitgemacht hättest, was ich mitgemacht
habe, dann würdest du auch nicht mehr so funkelnd aussehen!" Ich biss
mir auf die Zunge. "Tut mir leid."
"Ist Ok, ich könnte dich ja waschen, aber es wäre irgendwie
barbarisch, wenn ich dich jetzt essen würde. Trotzdem will ich die
Gelegenheit nutzen. Seit 50 Jahren ist kein Mensch mehr durch die Schächte
gefallen. Das war damals auch ein junges Mädchen, sie war sehr nützlich."
Ich schauderte.
"Keine Sorge, sie lebt noch, glaube ich."
'Ja, wahrscheinlich in einer Irrenanstalt', dachte ich. Der Drache
sah mich rätselhaft an.
"Wie heißt du eigentlich, kleines Würmchen?"
"Elisa, und ich bin nicht kleiner als andere Menschen auch. Wie
heißt du?"
"Mein Name ist zu lang und zu komplex, als dass du ihn je aussprechen
könntest. Aber du darfst mich Merlin nennen." Er sah mich an. "Oh,
der Name sagt dir etwas! Erzähl mir, was du weißt!"
"Hm, Merlin war doch der Zauberer an König Artus' Hof, oder?
Aber was hat das mit dir zu tun?"
"Er war ein sehr geachteter Mann in meiner Welt. Aber das ist unwichtig,
komm mit, ich will dir etwas zeigen." Er erhob sich, wobei das Bett so
schwankte, dass ich beinah heruntergefallen wäre. Ich ging hinter
ihm her in den mittleren, kreisrunden Gang. Wie auch die anderen beiden,
war er erleuchtet, verlief aber gerade mit einigen Abzweigungen und riesigen
Türen an beiden Seiten. Vor einer besonders großen Tür
hielt er an. Sie hatte keinerlei Türgriff, oder erkennbare Vorrichtungen
zum öffnen, und ich fragte mich, ob er sie wohl einfach aufbrechen
würde. Doch er senkte den Kopf und begann zu singen. Ich hatte nie
etwas derartiges gehört. Der Gesang ließ alles erzittern, aber
er machte mir keine Angst. Ich verstand die Worte nicht, oder besser, ich
hörte keine Worte, aber ich begriff, dass er von wichtigen Ereignissen
und "ruhmreichen" Schlachten erzählte. Ich sah Menschen und Drachen
vor mir, sie waren glücklich und feierten. Dann wurde die Kriegsbeute
gebracht, ein riesiger Schatz aus glänzendem Gold und funkelnden Edelsteinen.
Nun wurde das Lied düster, es schien von einer Gefahr zu erzählen,
die Menschen brachten den Schatz in Sicherheit und verschwanden aus meinem
inneren Blickfeld. Die Bilder verschwammen und ich war zurück in der
Realität. Die Tür, oder besser das Tor öffnete sich in der
Mitte und die beiden Torflügel schwangen nach innen auseinander. Auch
diese große Halle war erleuchtet; doch nicht von Kristallen in den
Wänden, sondern von einem riesigen Berg aus Gold und Edelsteinen,
der von innen heraus zu glühen schien.
"Fass nichts an, bevor ich gefunden habe, was ich suche!" Befahl
der Drache und sah mir tief in die Augen.
Ich hätte das Gold sehr gerne berührt, hatte aber immer
noch zuviel Angst vor Merlin. Also blieb ich nur staunend stehen und sah
ihm zu, wie er vorsichtig in ein paar Armreifen herumwühlte. Schließlich
brummte er zufrieden und hielt einen silbernen, schlichter als die anderen
aussehenden Reif in die Luft. Er drehte sich zu mir um.
"Probier ihn an Elisa, ich denke, er wird dir passen."
Ich war verunsichert. Wollte er ihn mir etwa schenken? Ich wagte
es kaum, den Reif zu berühren, aber der Drache hielt ihn mir vorsichtig
zwischen zwei Krallen vors Gesicht.
"Na nimm schon!"
Also nahm ich ihn und sah mir das leuchtende Schmuckstück genauer
an. Er würde mir zu groß sein. Auf der Innenseite befand sich
ein Text in einer Sprache und mit Schriftzeichen, die ich nicht kannte,
die Außenseite dagegen war vollkommen glatt. Merlin stand abwartend
da und sah mich erwartungsvoll an. Ich streifte den Armreif über.
Sofort wurde er heiß und begann sich zusammenzuziehen. Erschrocken
schrie ich auf und versuchte ihn mir vom Handgelenk zu ziehen, doch der
Reif wurde immer enger und schnitt mir in die Haut. Ich hatte das Gefühl,
ich würde verbrennen.
Merlin sah mich ruhig an. "Es wird bald vorbei sein, mein Schatz."
Die Höhle drehte sich um mich und der Schatz verschwamm vor
meinen Augen, ich sank zusammen. So blieb ich weinend liegen, es kam mir
wie eine Ewigkeit vor, bis der Schmerz endlich nachließ und das Silber
abkühlte. Der Ring saß fest, ich konnte ihn keinen Millimeter
hin oder herbewegen. Es war eine Falle gewesen.
"Traue niemandem, kleines Wesen. Sei mir nicht böse, es musste
sein." Er machte eine Pause. Mir fiel auf, dass er mir nicht in die Augen
sah. "Wenn du in den Tunnel kommst, auf der linken Seite ist eine Art Badezimmer
für Menschen. Wenn du willst, kannst du dich da waschen und die anderen
Dinge tun, die Menschen eben machen."
Er ging und ließ mich allein bei dem Schatz zurück. Jetzt
hatte ich keinerlei Verlangen mehr, die anderen Stücke auch noch anzufassen,
also ging ich durch den Gang in dieses "Badezimmer", von dem er gesprochen
hatte. Hier herrschte ein kaltes Licht, das von der Decke zu kommen schien.
Die Wände waren aus glattem, dunkelgrauem Stein. In der Mitte des
kleinen, viereckigen Raumes war ein kreisrundes Becken, in das von oben,
aus einem Loch in der Decke, dampfendes Wasser floss. Das überschüssige
Wasser schwappte über den Beckenrand und versickerte in kleinen Löchern
im Fußboden. Ich schloss die Tür hinter mir, leider konnte man
sie nicht abschließen, aber der Drache würde nicht in diesen
Raum hineinpassen, und wer sollte sonst schon kommen? Ich zog mich aus
und ließ mich in das Becken gleiten. Das Wasser war sehr warm, aber
nicht zu heiß.
Ich wusch mich sehr langsam, denn ich hatte nicht die Absicht, diesem
schrecklichen Drachen so schnell wieder zu begegnen. Dann lehnte ich mich
zurück und atmete die angenehmen Dämpfe ein. Wer hatte das nur
alles geschaffen? Das kleine Zimmer gefiel mir. Es war eckig und hatte
nicht diese riesigen Proportionen wie die anderen Räume. Wieso war
in all diesen Hallen und Gängen, die für einen Drachen gemacht
zu sein schienen, ein Raum, der genau auf die Bedürfnisse eines Menschen
abgestimmt war?
Schließlich stieg ich doch aus dem Becken und tat das, wie
Merlin es so schön ausdrückte, was Menschen sonst noch so machen.
Ich überlegte, ob ich meine Kleider waschen sollte, entschied mich
aber dagegen weil sie Stunden zum Trocknen gebraucht hätten. Ich seufzte.
Früher oder später musste ich ja doch wieder zu Merlin, um zu
erfahren, was er mit mir vorhatte. Vielleicht würde ich doch noch
einen Fluchtweg finden, schließlich musste dieses riesige Ungeheuer
ja irgendwie hier hineingekommen sein. Also zog ich mich an, holte tief
Luft und stieß die Tür auf.
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