Die Drachenwächter von Lacerta
Der Auftrag

Ich ging wieder in die große, runde Halle. Merlin saß auf seinem Bett und wartete schon ungeduldig auf mich. Ich funkelte ihn nur böse an. 
"Um gleich zum Thema zu kommen, die Sache mit dem Armreif hatte einen Grund", begrüßte er mich.
"Ach im Ernst", antwortete ich gereizt.
"Na hör mal, wenn du in meiner Lage wärst, würdest du einen Menschen dann so einfach weggehen lassen? Ich meine, wenn ich dich gehen lasse, rennst du gleich zu den nächsten Menschen und sagst ihnen, was du gesehen hast, oder?"
"Nein, die würden mich in eine Anstalt bringen, wenn ich so was erzählen würde."
"Na gut, aber du würdest sie hierher locken, oder etwa nicht? Die Gefahr besteht zumindest, und dann kommen sie mit Maschinenpistolen und Betäubungsgewehren und Atombomben, um mich zu töten. Also, was würdest du tun, wenn du zusätzlich noch seit drei Wochen kein richtiges Stück Fleisch zwischen die Zähne bekommen hättest, so wie ich?"
"Ich kann mich leider nur schwer in einen Drachen hineinversetzen", antwortete ich bockig, ich konnte ja schlecht sagen, dass ich den Menschen essen würde.
"Was ich versuche, dir klar zumachen, ist, dass der Reif die beste Lösung für uns beide ist. So bleibst du am Leben und ich bekomme mein Essen."
Ich verstand kein Wort.
"Ich lasse dich gehen, und dafür besorgst du mir mein Fleisch. Ich denke, mit Rind könnte ich mich abfinden, wenn es auch nicht ganz angemessen für einen 2000 Jahre alten Ritter nicht minderen Standes ist." Er besah sich seine Krallen.
"Das Alter ist ein Witz, oder?" staunte ich.
"Na gut, in Wirklichkeit sind es 2019 Sonnenjahre und elf Monde, kein besonderes Alter." Seine erhobene Kopfhaltung verriet ihr, dass es durchaus etwas besonderes war, auch unter Drachen. Er senkte seinen riesigen Schädel wieder und sah mich an. "Ich habe also Erfahrung mit euch Menschen, ihr haltet euch nicht an euer Wort. Deshalb hast du jetzt diesen Ring um dein Handgelenk, mit dem kann ich dich dazu bringen, das zu tun, was ich will. Ein paar Raben werden mir berichten, was du tust. Solltest du mich enttäuschen, wird das passieren:" Er sah mich an. Nichts passierte und ich hätte fast angefangen zu lachen, aber da begann der Reifen warm zu werden. Ich schob den Ärmel meiner Jacke zurück und sah auf mein Handgelenk. Der Armreif leuchtete in einem kalten Weiß und mein Handgelenk begann zu schmerzen. Der Schmerz zog den gesamten Arm hinauf und wurde immer stärker. Bald konnte ich mich kaum noch beherrschen, Tränen traten mir in die Augen.
"Das ist das, was ich tue, um mich bemerkbar zu machen, wenn du in Verzug bist. Du willst sicher nicht erfahren, was passiert, wenn du gegen die Regeln verstößt, oder? Der Reif lässt sich nicht von Menschenhand ablösen, bei einem Versuch wirst du sterben."
Seine Stimme klang hart und entschlossen, aber irgendwie schien es ihm auch leid zu tun.
"Glaub mir, ich mag es auch nicht, solche Methoden gehören normalerweise zu euch Menschen."
"Was soll ich tun? Soll ich dir bis an mein Lebensende dienen? Und woher bekomme ich das Rindfleisch?" Ich war verzweifelt.
Der Schmerz ließ nach und ich rieb mir den geschundenen Arm.
"Ihr habt einen Bauern im Ort, du nimmst dir drei von seinen Schlachtrindern, die Krähen zeigen dir den Weg hierher. Außerdem packst du dir eine Tasche mit allem, was du für eine lange Reise brauchst und was du tragen kannst. Erzähle niemandem von mir und verab..., ach, vergiss es. Du hast eine Woche Zeit. Das ist mehr als genug." 
"Was verab...?"
"Nicht wichtig. Iss noch etwas und dann mach dich auf den Weg."
"Ja, aber was hast du danach vor mit mir? Warum soll ich mich für eine lange Reise fertig machen? Du meinst doch nicht dass, - ich meine, ich werde meine Familie und Freunde doch wiedersehen, wenn du, wenn du mich entlassen hast, oder so? Ich werde doch wieder nachhause zurückkommen, oder?"
Er drehte mir den Rücken zu. "Ich will jetzt nicht darüber reden, das wirst du alles noch erfahren."
"Aber, so grausam kannst doch nicht mal du sein! Oder...?"
"Guten Appetit, weck mich, wenn du fertig bist." Damit legte er sich endgültig auf den Bauch und sprach kein Wort mehr mit mir.
Ich aß langsam und dachte nach. Was würde nur mit mir passieren? Ich würde auf keinen Fall aufgeben. Ich verstand mich mit meinen Eltern zwar nicht besonders gut, und wirkliche Freunde hatte ich eigentlich auch nicht, aber ich würde sie trotzdem alle vermissen. Und ich wollte auf keinen Fall der Kammerdiener eines Drachen sein und bis an mein Lebensende diese Beerenpampe essen müssen. Würde ich für immer in einer Höhle leben und Kühe stehlen? Wenn ich versuchen würde, den Ring loszuwerden, würde ich dann wirklich sterben? War das nicht nur eine leere Drohung, um mich gefügig zu machen? Würde ich es riskieren? Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich nicht lieber tot sein wollte, als hier leben zu müssen. Oh Gott, das war doch alles ein langer böser Traum! Ich konnte nicht glauben, dass ich gestern morgen noch zuhause in meinem Bett aufgewacht war und mich über den ersten Ferientag gefreut hatte. War es wirklich gestern gewesen? Wie lange war ich überhaupt schon hier in dieser unwirklichen Umgebung? Das alles und noch viel mehr ging mir durch den Kopf.

Ich hatte schon eine ganze Weile finster in die große Schüssel gestarrt, als mich Merlin fragte, ob ich bereit sei. Erschrocken fuhr ich auf.
"Sicher", sagte ich, "für was auch immer." Ich sah ihn nicht an.
"Gut, dann werde ich jetzt Hugin und Munin rufen, die Raben."
Er stieß ein hohes langgezogenes Pfeifen oder Trillern aus. Nichts geschah.
"Geduld, sie werden kommen." Eine Minute verging, vielleicht noch eine, ich begann schon zu hoffen, sie würden überhaupt nicht kommen, und der Drache würde mich freilassen. Merlin saß einfach nur still da und schien kein bisschen beunruhigt zu sein. 
Ich hatte nichts gehört, doch Merlin sah auf einmal auf. Ich beobachtete die dunklen Schächte, und einen Moment später glitten zwei schwarze Punkte lautlos durch die Luft.
Sie kamen näher, und mir fiel auf, wie groß sie für Raben waren. Nicht, dass ich mich mit Vögeln ausgekannt hätte, aber diese Größe war auffällig. Sie segelten immer weiter nach unten und ließen sich schließlich rechts und links auf den Schultern (wenn man es denn so nennen konnte) des Drachen nieder. War denn hier alles so riesig?
Merlin begann sich leise mit ihnen zu unterhalten, jedenfalls nahm ich das an. Für mich hörte sich das eher an, als hätte ein Wellensittich eine Halsentzündung, aber die Raben saßen still da und schienen ihm zuzuhören. Hin und wieder sah einer der beiden zu mir herüber. Sie waren mir unheimlich und machten mir Angst, wenn sie so lautlos ihre Flügel bewegten oder mich mit ihren
kalten Blicken ansahen. Seit sie da waren, hatten sie keinen Laut von sich gegeben und verbreiteten irgendwie eine düstere Atmosphäre. Ihr Gefieder war weder stumpf, noch glänzte es, es war einfach tiefschwarz wie Samt, oder wie das Weltall vielleicht ohne Sterne ausgesehen hätte. 
Ob ich sie wohl beide erledigen könnte, um mich zu befreien?

Die drei schienen mit ihrer Unterhaltung fertig zu sein, denn die beiden Raben flogen auf und setzten sich an beiden Seiten des rechten Tunnels auf den Boden und sahen uns erwartungsvoll an. 
"Komm!" sagte Merlin und schickte mich voraus. Ich kam mir wie in einem Polizeigeleit vor. Als ich den Eingang zu dem Tunnel erreicht hatte, durch den ich vorher hatte flüchten wollen, flogen die beiden Vögel weiter in den Gang hinein, setzten sich aber wieder so auf den Boden, dass sie mich beide im Auge hatten. 
Keiner von uns sagte ein Wort, nur meine Schritte hallten durch den Tunnel, während man die des Drachen nicht hören konnte. Der Weg führte immer weiter nach rechts. Wenn der Drache mich hier hinaus führen wollte, dann hatte er mich ja doch reingelegt! Ich hätte mich ohrfeigen können, dass ich ihm geglaubt hatte. Ich war wütend und tief in Gedanken versunken, so dass ich fast gegen
die Wand gelaufen wäre. Der Tunnel endete abrupt in einer Sackgasse. Ich fragte mich, was das nun wieder sollte. 
"Geh etwas zur Seite, Elisa", brummte der Drache hinter mir und schob seinen Kopf an mir vorbei. Er schloss die Augen und begann zu summen. Der Boden vibrierte und die Felswand vor mir schob sich zur Seite. Würzige Waldluft und kaltes Sonnenlicht schlugen mir entgegen, als ich nach außen trat.
"Hier lasse ich euch allein, Hugin und Munin werden dir den Weg nach hause zeigen, lauf nur hinter ihnen her. Ach so, und übrigens, ich hatte dich nicht angelogen, für dich hätte dieser Weg wirklich nicht nach draußen geführt, weil du die Tür nicht hättest öffnen können. Bis bald, kleines Menschlein!" Damit verschwand Merlin wieder im Tunnel und ließ mich mit den unheimlichen Raben allein. Die Felstür schloss sich hinter ihm.
Einer der beiden stieß einen lauten Schrei aus, und ich zuckte zusammen. 
"Ist ja gut, Munin, oder Hugin?"
Er stieß einen weiteren Schrei aus und flog weg. Ich sah mich erst einmal um. 
Hinter mir ragte ein kleiner Felsen auf, und vor mir sah ich ein dichtes Dornengestrüpp. Die Sonne brach gerade durch die Wolken, und ich überlegte, was für ein schöner Tag das wohl gewesen wäre, wenn ich nicht all das erlebt hätte, und jetzt nicht durch so eine unüberwindliche Hecke hindurch gemusst hätte. Hinter der Hecke standen wieder dicht an dicht die großen dunklen Bäume, die ich gestern oder vorgestern schon kennen gelernt hatte. Der andere Rabe saß immer noch neben mir auf dem Stein und sah mich jetzt auffordernd an. 
"Muss das denn sein?" fragte ich ihn. Er krähte leise als Antwort. Er war etwas kleiner als der andere und ich beschloss, ihn Munin zu nennen. "Also los."
Zum Glück hatte ich eine lange Jeanshose an, denn es war eine Tortour bis ich das Ende endlich erreicht hatte, und ich will nicht wissen, wie es mit einer kurzen Hose ausgegangen wäre. Die Dornen rissen meine Hände und mein Gesicht auf und blieben in meiner Kleidung stecken. Das Gebüsch war höher als ich und ich konnte nichts erkennen, weil ich die Hände zum Schutz vor das Gesicht halten musste. Wenn ich zu weit nach rechts oder links abwich, krähte Munin hinter mir laut, und so lotste er mich schließlich durch das Gebüsch hindurch. Auf der anderen Seite angekommen, setzte ich mich erst mal auf den Waldboden und ruhte mich aus. Hugin kam von irgendwo angeflogen und krähte laut drauflos als er mich am Boden sitzen sah. Hätte er mir nicht so viel Angst gemacht, dann hätte ich einen Stein nach ihm geworfen. Er musste ja nicht laufen und war jetzt blutig und verschrammt. Aber der Rabe gab keine Ruhe und so stand ich schimpfend auf und ging weiter.
Ich hatte das Gefühl, dass sie mich kreuz und quer durch den gesamten Wald führten.
Immer flog einer vor und einer hinter mir her, sie führten mich über verwachsene Pfade und durch dunkle Gänge aus Bäumen und Ästen. Ich hatte mehr als einmal den Eindruck, dass die Vögel völlig orientierungslos waren und mich im Kreis herum führten, aber schließlich erreichten wir den Waldrand und ich sah den Weg vor mir, auf dem ich den Wald vor wenigen Tagen betreten hatte. Ich atmete auf, endlich wieder in der Realität. 
Ich lief einfach los und wollte die Vögel nicht mehr sehen, nun würde alles gut werden, mein Abenteuer war vorbei.
 

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Und schon geht's weiter zum 3. Kapitel: Wieder Zuhause

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