Ein Sonnenstrahl auf ihrem Gesicht weckte
Gaya. Sie öffnete die Augen und sah auf einen sturmgrauen Himmel,
auf dem die Wolken wie luftige Schafe vorbeieilten. Neben sich hörte
sie Dajanas gleichmäßigen Atem. Gaya drehte sich um und sah
direkt in ihr hübsches Gesicht, das von Strähnen ihres weizenfarbenen
Haares teilweise verdeckt wurde. Wenn sie schläft, wirkt sie wie
ein Engel. Sie richtete sich halb auf und entdeckte Julian unweit.
Er lehnte sich gegen einen großen Baum und sah in die Ferne. Die
Rüstung hatte er ausgezogen - Gaya meinte sich zu erinnern, dass es
in der Nacht ziemlich heiß geworden war - und sie konnte nicht übersehen,
was für ein muskulöser Körper sich unter dem blauen Hemd
abzeichnete. Sie befahl sich ärgerlich damit aufzuhören ihn anzustarren.
Er
interessiert mich nur so sehr, weil ich seit etlichen Jahren nicht mit
Männern meines Alters zutun hatte! Na ja, in den Wäldern schon,
aber da ist enger Kontakt sowieso strengstens verboten... Gaya wandte
sich schnell ab und stand endgültig auf. Sie brachte ihre Kleidung
zuerst in Ordnung und ging erst dann zu Julian rüber.
"Guten Morgen", sagte er und sie erwiderte
den Gruß halb gähnend.
"Und - hat er sich blicken lassen?" Er schüttelte
den Kopf.
"Ich werde nächste Nacht wieder herkommen
müssen. Langsam fängt es an mich zu nerven. Und die Leute müssen
mich für verrückt halten Nacht für Nacht hier oben zu verbringen."
"Ja, noch ein merkwürdiges Geschehnis
in N’hoa, ein weiteres Gerücht, das sie sich erzählen werden
- 'Habt ihr schon von dem verrückten Ritter gehört? Er geht jede
Nacht auf den kahlen Hügel hinauf und hält Wache, um einem sagenhaften
Zauberer aufzulauern...'" Julian lachte, aber es klang gezwungen.
"Langsam denke ich wirklich, dass er nur eine
erfundene Person ist! Warum zeigt er sich nicht?" Er schüttelte verständnislos
den Kopf. Gaya zuckte mit den Schultern und hielt es für besser ihn
auf andere Gedanken zu bringen.
"Was machen wir nur mit Dajana? Ich weiß
wirklich nicht, wozu ich sie diesem Söldner abgenommen habe, sie macht
nur Schwierigkeiten!"
"Ich habe auch keine Ahnung. Ich bezweifle,
dass ich sie mit ins Team aufnehmen kann oder was denkst du?"
"Nein, es sei denn wir benutzen ihre scharfe
Zunge anstatt eines Bogens oder sie als Lockvogel."
"Gar keine schlechte Idee! Sie könnte
vor uns hergehen und so tun als würde sie die Kriegerin sein, während
wir uns von hinten heranschleichen." Er grinste wieder so jugendlich und
sie fragte sich, wie alt er wohl war.
"Ich habe einen wahnsinnigen Hunger und ich
muss Dajana zum Rathaus bringen. Gehen wir?", fragte sie.
"Klar. Ich komme mit zum Rathaus." Gaya ging
zu der schlafenden Dajana rüber und rüttelte sie.
"Dajana Stromsyard, wach auf! Es ist Zeit
den Bürgermeister zu besuchen!" Das Mädchen murrte etwas unverständliches,
schlug Gayas Hand beiseite und drehte sich demonstrativ um. Gaya riss daraufhin
mit einem Ruck den Mantel unter ihr weg, so dass Dajana auf dem nassen
Gras landete. "Steh endlich auf, Schankmädchen!"
"Kein Schankmädchen... Kriegerin...",
murmelte sie noch halb in einem Traum versunken, machte aber dann die Augen
auf.
"Lass mich in Ruhe, Druidin!", sagte sie laut
und deutlich.
"Ich nehme an du bist jetzt wach!", erwiderte
Gaya und ging zurück zu Julian. Er hatte sein Schwert rausgeholt und
führte ein paar Angriffe gegen die Luft. Gaya bemerkte gleich seine
hervorragende Technik, obwohl es ihr seit ihrer Kindheit verboten war ein
Schwert auch nur zu berühren. Mit der gleichen Konzentration,
mit der er einen richtigen Gegner angegriffen hätte, hieb Julian Stich
für Stich auf seinen unsichtbaren Gegenüber ein und bewies dabei
eine Geduld, die Gaya nie fähig wäre aufzutreiben. Sie schaute
ihm eine Weile fasziniert zu und beobachtete seine geschmeidigen Bewegungen.
Wieder mal beneidete sie die Leute, die mit einem Schwert umgehen konnten.
Ein Stab war einfach nicht das gleiche. Sie wurde von hinten geschubst
und wäre fast mit der Nase auf den Boden geknallt.
"Wach auf, Gaya Asearien! Sonst fallen dir
noch die Augen raus!", zischte Dajana. Gayas Hieb mit dem Stab konnte sie
noch entwischen und zeigte ihr die Zunge. Gaya blickte schnell zu Julian,
aber es war zu spät, er hatte seine Übungen schon abgebrochen
und steckte das Schwert zurück in die Scheide., was Gaya doch ziemlich
bedauernd fand. Wenigstens hatte er nichts bemerkt. Mit einer ruckartigen
Bewegung schüttelte sie sich die Haare aus dem Gesicht, fasste ihren
Stab fester und ging ihren Mantel aufheben.
"Gehen wir jetzt?", fragte Julian.
"Wenn die Druidin soweit ist!", erwiderte
Dajana gehässig und Gaya verfluchte sich wieder dafür die Göre
mitgenommen zu haben.
"Immer doch, Kleine!", sagte sie und
freute sich Dajanas Wut zu sehen. Zufrieden vor sich her lächelnd
machte sich Gaya an den Abstieg.
Es dauerte nicht lange und sie waren in N’hoa.
Zu der frühen Zeit waren noch nicht viele Bürger auf den Straßen,
aber die wenigen sahen Gaya und Julian misstrauisch und Dajana verständnislos
an. Aber keiner wurde offen feindlich. Das muss mit dem Gerücht
zu tun haben, dass es hier eine Quelle gibt, von der nur Magier wissen.
Die Bürger wollen keine Geheimnisse in ihrer Stadt. Das Rathaus
hatte Gaya schon gestern gesehen, aber diesmal wartete keine lange Menschenreihe
vor der Tür. Gaya nahm Dajana sicherheitshalber bei der Hand, was
diese mit einem funkensprühenden Blick quittierte, und klopfte.
Die Tür wurde von einem Türposten
mittlerer Jahre mit einer Glatze geöffnet. Er musterte Gaya und Dajana
wie Insekten und Gayas Nackenhaare sträubten sich.
"Wir wollen zum Bürgermeister, wegen
eines Unrechts", sagte sie in dem eisigen Ton, den sie so gut beherrschte.
Seine Arroganz schrumpfte sichtlich.
"Der Bürgermeister ist äußerst
beschäftigt. Ihr könnt später wiederkommen." Gaya setzte
ein frostiges Lächeln auf und ließ ihre Finger wie unbewusst
mit dem Stab spielen.
"Später haben wir leider keine Zeit.
Würdest du dem Bürgermeister bitte ausrichten, dass es eine Angelegenheit
von größter Wichtigkeit ist. Ich bin sicher er wird einer
Dienerin der Großen Göttin schon etwas Zeit schenken." Sie hatte
das magische Wort gesagt. Jetzt hatte der Türposten eindeutig Angst.
"Ja... natürlich", sagte er schnell und
verschwand. Dajana warf ihr einen anerkennenden Blick zu.
"Ich verstehe wirklich nicht, wieso die Leute
so eine große Angst nur beim Erwähnen der Druiden bekommen.
Als würden wir friedliche Menschen ihnen was antun", sagte Gaya betont
unschuldig. Sah sie da ein verstecktes Grinsen in Dajanas Augen? Schneller
als sie erwartet hatte, tauchte der Mann wieder auf.
"Er erwartet euch, Ladys."
"Vielen Dank", sagte Gaya mit einem süßen
Lächeln.
Sie ging mit Dajana ohne sich zu beeilen in
den nächst gelegenen Raum. Er war vollgestopft mit Schränken
und die Füße ertranken in einem blutroten Teppich. Das Zimmer
wurde von einem gewaltigen Tisch beherrscht, in einem prunkvollen Sessel
dahinter saß ein fettleibiger, älterer Mann. Der Bürgermeister.
Er sah nicht auf als sie hineinkamen und widmete sich weiterhin seinen
gestapelten Papieren. Gaya sah jedoch, dass er nervös war und schloss
daraus, dass er das ganze nur abzog, damit sie verunsichert wurde. Das
würde natürlich nicht passieren, aber wie konnte er das wissen?
Gaya bedeutete Dajana stehen zubleiben, ließ ihren Arm los und ging
geräuschlos zum Tisch rüber. Einen kurzen Augenblick sah sie
auf den Bürgermeister nieder und knallte dann ihren Stab mitten auf
die Papiere. Er blickte sie erschrocken an und sah direkt in ein freundliches
Lächeln.
"Guten Morgen, Bürgermeister. Mein Name
ist Gaya Asearien, Druidin des heiligen Ordens der Mutter. Dies
ist Dajana Stromsyard. Wir wollten euch wirklich nicht stören, Bürgermeister,
aber unser Fall ist außerordentlich wichtig und kann nicht bis später
warten." Er sah ziemlich unschlüssig aus, doch sie ließ ihm
keine Zeit zum Überlegen. Ohne zu zögern setzte sie sich direkt
auf den Tisch, legte den Stab senkrecht, so dass seine Spitze wie durch
Zufall auf des Bürgermeisters Gesicht zeigte, und winkte Dajana zu
sich. "Bürgermeister, dies ist ein Fall, den ich kraft eines Versprechens
übernommen habe, um beiden Beteiligten Gerechtigkeit walten zu lassen.
Es geht dabei um dieses Mädchen. Ihr ist gestern ein kleines Missgeschick
passiert und der Betreffende, ein Söldner, hat das gleich als versuchter
Diebstahl ausgelegt. Der ungehobelte Kerl wollte sie also zusammenschlagen
und vielleicht schlimmeres antun, als ich dazu gekommen bin und sie sozusagen
gerettet habe. Ich musste ihm versprechen, dass ich das Mädchen zu
euch bringe, damit ihr als ein gerechter Mann die Sache regelt. Ich denke,
dass dieses Missverständnis eine Angelegenheit von Sekunden ist, denkt
ihr nicht?" Gaya beendete die kurze Rede und sah den Bürgermeister
weiterhin unschuldig an.
"Ja, das wäre sie tatsächlich, aber
das Mädchen ist schon zum vierten Mal wegen Diebstahl hier", sagte
er bedächtig. Gaya warf Dajana einen vernichtenden Blick zu. Und davon
erfuhr sie erst jetzt? Schnell wie eine Fregatte wechselte sie die Taktik.
"Tatsächlich?" Sie sah das Objekt des
Gesprächs finster an. "Nun, dann habe ich wohl kaum eine andere Wahl
als sie mitzunehmen."
"Mitzunehmen?", fragte der Bürgermeister
mit gerunzelter Stirn.
"Mitzunehmen?", fragte Dajana entrüstet.
Gaya wies ihr mit einer Geste an zu schweigen.
"Jawohl, mitzunehmen. Wenn sie so ein hoffnungsloser,
unverbesserlicher Fall ist, könnt ihr nichts dagegen tun, Bürgermeister.
Das ist eine Sache, mit der ich mich persönlich als Druidin befassen
muss. Wir in unserem Orden wissen, wie man mit solchen undisziplinierten
Kindern verfährt, um sie wieder auf die rechte Bahn zu führen."
Ein Muskel zuckte in Dajanas Gesicht bei dem Wort Kindern, aber
sie blieb stumm. Gut für sie, dachte Gaya.
Der Bürgermeisterte sah abwechselnd Gaya
und Dajana an. Dann Gayas Stab, unbehaglich. Sie sah ihn überlegen,
wartete geduldig ab.
Schließlich seufzte er.
"Ich habe von dem Orden der Druiden genug
gehört, um sagen zu können, dass ihr ehrenvoll seid und das tut,
was ihr versprecht. Ich wüsste sowieso nicht, was ich mit diesem Mädchen
anfangen sollte. Sie ist eine Unruhestifterin. Also nehmt sie mit, zum
Wohle der Stadt und ihrem eigenen." Gaya nickte ernst.
"Ich danke euch für euer Verständnis.
Bei mir wird sie in guten Händen sein." Sie hob ihren Stab auf, wobei
der Stein darauf kurz grün aufleuchtete, um den Mann an die Macht
zu gemahnen, derer sie gebot. Ein knappes Nicken als Abschied, dann schob
sie Dajana demonstrativ grob aus dem Raum. Der Türposten wich
respektvoll zur Seite, als sie an ihm vorbeikamen.
Draußen erwartete sie schon Julian,
die Sonne spielte in seinem Haar. "Sind wir sie los?", fragte er ohne Umschweife.
Gaya musste ihn enttäuschen.
"Nein, tut mir leid. Ich habe dem Bürgermeister
versprochen, ich würde mich als Druidin mit diesem hoffnungslosen
Fall von Mädchen befassen und sie mitnehmen."
"Mitnehmen", wiederholte er tonlos. Gaya zuckte
entschuldigend mit den Schultern.
"Ich hätte es auch lieber anders..."
"Moment!", unterbrach Dajana. "Ich will nirgendwohin
mitgenommen werden! Hast du schon mal an mich gedacht, Gaya?! Ich weigere
mich partout diese Stadt zu verlassen!"
"Ach, willst du lieber gehängt werden?",
fragte Gaya lakonisch.
"Ge-gehängt?"
"Natürlich. Oder was denkst du, was der
Bürgermeister mit dir machen würde, wenn du hier bliebest?"
"Ins Gefängnis sperren?", schlug sie
vor.
"Bei vierfachem Diebstahl?"
"Versuchtem Diebstahl", korrigierte
sie automatisch.
"Vierfach?", unterbrach Julian ungläubig.
Dajana errötete leicht.
"Ich bin auch nur ein Mensch!", sagte sie
trotzig und verschränkte die Arme ineinander.
"Das übersteigt mein Fassungsvermögen.
Wie kannst du viermal versucht haben zu stehlen?"
"Ich brauche halt noch ein wenig Übung",
gab Dajana zu.
"Nichts da!", widersprach Gaya schnell. "Keine
Übung mehr! Ich will nicht noch mehr Schwierigkeiten! Du wirst dich
benehmen, klar?"
"Hör auf dich so aufzuspielen", murrte
Dajana.
"Soll das heißen, dass wir sie jetzt
wirklich nicht mehr loswerden?", erkundigte sich Julian.
"Sieht so aus." Er schüttelte den Kopf.
"Vielen Dank, Gaya. Wirklich vielen
Dank."
"Dem kann ich mich nur anschließen",
meinte Dajana. Beide sahen Gaya finster an, die verlegen lächelte.
"Man kann es jetzt nicht mehr ändern,
also hört auf euch zu beschweren. Dajana, du hast sowieso keinen Grund
dazu. Ich habe dir sozusagen den Hals gerettet."
"Darüber kann man sich streiten", murmelte
diese, aber Gaya ignorierte sie.
"Also, wie wär’s, wenn wir alle Streitigkeiten
vergessen und stattdessen frühstücken gehen?"
"Vorschlag angenommen!", sagte Dajana prompt.
Julians Mundwinkel zuckten.
"Gut", willigte er ein und sah Gaya dabei
an. "Aber du wirst bezahlen. Wegen dir muss ich die da mitnehmen!"
"Einverstanden", sagte Gaya.
Sie verzichteten darauf in "Zum müden
Gaul" zu gehen und gingen lieber zur zweiten, kleineren Gaststätte.
Sie hieß "Silberknauf" und war erstaunlich leer.
"Die Meisten bevorzugen es in den Gaul zu
gehen", erklärte Dajana und handelte sich einen bösen Blick vom
Gastwirt ein. "Stimmt doch!", verteidigte sie sich. Die Drei setzten sich
an den Tisch am Fenster.
"Was wünschen der Herr und die Damen?",
fragte sie eine pummlige Frau und ließ dabei ihre glänzenden
Augen nicht von Julian. Gaya verkniff sich ein Grinsen.
"Haben sie Fisch?", fragte sie. Die Frau nickte
und Gaya bestellte daraufhin gebratenen Fisch mit Salat. Dajana nahm nur
Salat und Julian Rindbraten. Zu Trinken wollten Gaya und Dajana Rotbeere
und Julian Bier.
"Gleich kommt’s", sagte die Frau, lächelte
Julian zu und ging davon. Gaya und Dajana wechselten einen Blick und lachten.
"Du ziehst ja wirklich Blicke auf dich, wie,
Herr Ritter?", neckte ihn Gaya.
"Ja, sehr witzig. Du hast ja gut lachen, Gaya!
Ich bin ohnehin noch sauer auf dich, also solltest du damit aufhören",
sagte er, lächelte aber auch. Er konnte nicht nachtragend sein, hatte
Gaya den Eindruck.
"Ich denke, das ist genau der richtige Moment,
um sich zu erkundigen, wo ich hier eigentlich hineingezogen wurde", bemerkte
Dajana. Gaya fand, es war genau der falsche Moment, aber sie sagte nichts,
denn einerseits konnte sie das Mädchen verstehen. Irgendwie.
"In eine Mission", erklärte ihr Julian.
"Mission?"
"Ja. Ich habe mir nämlich vorgenommen
einen Trupp fähiger Leute zusammenzustellen, so dass wir zusammen
die Ordnung in Cihyal wiederherstellen."
"Was verstehst du darunter – die Ordnung wiederherstellen."
"Nun." Er überlegte. "Es gibt da diese
Bestien, die die Kraterberge unsicher machen und kleine Dörfer angreifen.
Keiner unternimmt etwas dagegen, aber etwas sollte getan werden. Ich könnte
mir vorstellen, dass solch eine Gruppe fähig wäre der Angst der
Menschen dort ein Ende zu bereiten und die Kreaturen zu töten."
"Du meinst, du willst umherziehen und Heldentaten
vollbringen, damit du Ehre und Ruhm erlangst?", schloss Dajana. Er runzelte
die Stirn, lauschte den Worten.
"Das hört sich an wie ein Märchen",
meinte er dann. "Ich brauche weder Ehre noch Ruhm. Was ich brauche, ist
– Erfahrung." Gayas überraschter Blick ließ ihn leicht erröten.
"Ich... bin noch nicht lange Ritter und hab nicht sehr viel Praxis hinter
mir. Das muss sich ändern und zwar schnell."
"Ist da nicht der König für zuständig?",
erkundigte sich Dajana. Die Antwort interessierte Gaya ebenfalls. Julian
zögerte.
"Eigentlich schon. Aber ich will mit König
Frederique nichts zu tun haben." Eine mutige Aussage. Gaya setzte schon
an, das laut zu sagen, als wieder die Bedienstete auftauchte, in der Hand
ein vollgeladenes Tablett.
"Bitte schön." Mit diesen Worten stellte
sie es auf den Tisch, warf Julian einen koketten Blick zu und ging betont
hüftenschwingend davon. Er achtete jedoch kaum auf sie und wich genauso
Gayas Blick aus, der ihn nicht loslassen wollte. Dajana interessierte das
Thema nicht, welches bei Gaya und Julian so widersprüchliche Gefühle
wachrief, also griff sie unbekümmert nach der Schüssel mit ihrem
Salat, einem Becher und goss sich Saft hinein.
"Du bist also auf Frederique nicht gut zu
sprechen, Julian?", kam Gaya wieder darauf zu sprechen, als die Frau außer
Hörweite war. Darüber zu sprechen war ihm sichtlich unangenehm,
doch Gaya als Druidin kannte keine Nachgiebigkeit.
"Ja, ich schätze ihn nicht besonders",
erwiderte er schließlich.
"Wie kommt es, dass du mit dieser Einstellung
königlicher Ritter bist?", erkundigte sie sich ruhig.
"Mm", war seine Antwort, denn er hatte hastig
nach seinem Essen gegriffen und gab nun vor sich ganz darauf zu konzentrieren.
"Julian", fing Gaya an, einen bedrohlichen
Unterton in der Stimme – Geheimnisse waren das Letzte, das sie gebrauchen
konnte -, doch Dajana verhinderte einen Streit, indem sie auf das zurücklenkte,
was für sie von Belang war.
"Noch mal zurück zu dieser Gruppensache",
sagte sie und wurde somit zu Julians Rettung. "Wen hast du denn schon alles
mit dabei?"
"Nun – mich. Gaya. Und wie es scheint, dich."
"Das ist alles?"
"Ich bin noch nicht lange auf der Suche!",
verteidigte er sich. Dajana beachtete diesen Einwand nicht.
"Du willst so viel erreichen und deine ganzen
Pläne und Vorstellungen stützen sich auf eine Druidin und mich?"
"Also..."
"Und damit willst du ganz Cinhyal befreien?
Mit uns?" Julian sah Gaya hilfesuchend an, doch die war jetzt verstimmt
und beschäftigte sich demonstrativ mit ihrem Fisch. Damit blieb ihm
Dajana aufgebürdet, die ihn immer noch entgeistert anstarrte, von
der Vorstellung entsetzt, was da auf sie zukam.
"Es wird mehr Leute geben", sagte er. "Wenn
wir erst mal diesen Zauberer gefunden haben..."
"Den es vielleicht nicht gibt", ergänzte
Dajana.
"... und uns bei den Söldnern umhören..."
"Die alle in Sunaj, beim König, sind."
"... wird schließlich eine ganz passable
Gruppe zusammenkommen", beendete er endlich seinen Satz und sah sie wütend
an. Was ihr nicht das Geringste ausmachte, denn sie schüttelte nur
unzufrieden den Kopf und nahm einen Schluck Saft.
Eine Weile beschäftigte sich jeder mit
seiner Mahlzeit und seinen finsteren Gedanken – und finster waren sie alle,
denn keinem von ihnen gefiel die Situation, in die sie da geraten waren,
obwohl jeder aus verschiedenen Gründen damit nicht einverstanden war.
Dajana überlegte, wie sie heil aus dieser
Sache rauskommen sollte, und kam zu dem Entschluss, dass mit Gaya nicht
zu spaßen war. Wenn die Druidin versprochen hatte, sie mitzunehmen,
dann würde sie es auch tun, denn sonst wäre sie ja keine Druidin.
Also würde man sie nicht gehen lassen und sie musste bei diesen Verrückten
bleiben, die augenscheinlich vorhatten auf ehrvolle Weise Selbstmord zu
begehen.
Gaya wusste, dass Julian nicht reden wollte.
Doch irgendwie musste sie herausfinden, was er verbarg! Wie sollte sie
sich sonst auf ihn verlassen? Und das musste sie können, wenn es tatsächlich
zu irgendwelchen Kämpfen kommen sollte.
Julian seinerseits hasste es zu lügen
und wenn Gaya ihn wieder fragte, würde er lügen müssen,
denn erzählen konnte er ihr nichts, was ihm ebenfalls auf die Nerven
ging, da er ansonsten ein offener und ehrlicher Mensch war. Es war eine
verzwickte Situation, die den ganzen Tag zu ruinieren drohte.
Da fiel Dajana etwas ein, woran sie bisher
überhaupt nicht gedacht hatte und was die Zukunftsaussichten etwas
erhellte. Eine Frage:
"Was ist mit der Bezahlung?" Julian hielt
inne und sah sie schief an.
"Wie meinst du das?", erkundigte er sich vorsichtig.
"Es muss doch gewiss eine Bezahlung für
diesen Schwachsinn geben! Würde sonst jemand freiwillig mitkommen?"
Gaya sah ebenfalls auf.
"Das ist doch wirklich eine gute Frage", meinte
sie nachdenklich. "Haben wir gestern nicht mal das Thema Geld angeschnitten,
Julian?"
"Du hast nichts von Bezahlung erwähnt",
sagte er schnell.
"Dazu sind wir noch nicht gekommen", verbesserte
sie ihn sanft. "Aber es würde mich wirklich interessieren, wie du
das zu handhaben gedenkst. Wie steht es überhaupt mit deinem
Gold? Dein Plan erfordert ziemlich viel davon, würde ich mal sagen."
"Ich habe genug."
"Aber wir müssen doch bezahlt werden!",
meinte Dajana. "Schließlich begeben wir uns in Gefahr - wegen deinem
Plan!"
"Erstens sollte keiner mitkommen, wenn er
nicht an diesen Plan glaubt und nur das Gold haben will. Überzeugung
ist gefragt, keine Geldgier. Zweitens würdest du sowieso nichts bekommen,
da du nichts tust um es zu verdienen. Gaya und ich werden kämpfen,
doch du wirst nur zuschauen und die ganzen Zeit über in Sicherheit
sein. Warum sollte man dich dafür bezahlen?"
"Aber ich kann euch im Kampf nutzen!", rief
sie und erntete skeptische Blicke. "Doch! Ich kann nämlich ausgezeichnet
mit dem Bogen umgehen!"
"Ach, tatsächlich?", fragte Julian gedehnt.
Er glaubte ihr ebenso wenig wie Gaya. Dajana hörte das aus seiner
Stimme heraus und wurde wütend.
"Und ob ich es kann! Wie könnt ihr es
nur wagen und daran zweifeln? Schließlich..."
"Beweise es", unterbrach Julian sie
ruhig. Dajana schnappte aufgebracht nach Luft, dann zögerte sie und
gab schließlich kleinlaut zu keinen Bogen zu haben.
"Eine gute Bogenschützin ohne Bogen?",
fragte Gaya vorsichtig. Dajanas Augen sprühten Funken.
"Woher soll ich denn das Geld dafür nehmen?
Schankmädchen verdienen nicht so viel, falls ihr es noch nicht wisst!"
Ihr Zorn war in gewisser Hinsicht lustig, aber Gaya lachte nicht, zeigte
nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. Anscheinend lag Dajana
wirklich etwas an diesem Thema und Gaya fand, dass sie ein wenig Respekt
verdiente. Doch sie konnte ihr immer noch keinen Glauben schenken. Es passte
einfach nicht.
"Wir brauchen Beweise, das ist dir doch klar?",
erkundigte Julian sich und sie nickte, ein wenig besänftigt, weil
die beiden es ernst nahmen.
"Natürlich. Beschafft mir einen Bogen
und ich zeige es euch!" Keiner von ihnen besaß jedoch einen Bogen
- Julian konnte damit nicht umgehen und Gaya durfte nicht einmal
damit umgehen. Dajana sah sich also schnell um, sprang dann auf und lief
unter Gayas und Julians erstaunten Blicken zu dem Nachbartisch, an dem
zwei Männer saßen. Sie sagte kurz etwas zu einem von ihnen,
es wurde herzhaft gelacht und der Mann übergab ihr einen verhüllten
Gegenstand. Sie strahlte ihn an und lief fröhlich zu den Beiden rüber.
"So", sagte sie triumphierend und packte den
Gegenstand aus. Natürlich war es ein Bogen. Es war ein schäbiges
Teil, die Sehne war seit langem nicht mehr geölt worden und das Holz
war rissig. Dajana spannte den Bogen probeweise und war zufrieden. "Was
soll ich treffen?", fragte sie stolz.
Julian sah sich um und zeigte dann auf das
Aushängeschild des gegenüberliegenden Ladens. Es präsentierte
zwei Glasflaschen und mehrere Kräuter.
"Triff die Mitte des Korkens von der grünen
Flasche", sagte er. Gaya maß den Abstand mit dem Auge ab und nickte.
Das war eine gute Bewährungsprobe.
"Von hier aus?", erkundigte sich die angebliche
Bogenschützin. Er bejahte und sie stand auf. Als sie einen Pfeil auf
die Sehne legte, kamen Gaya erste Zweifel. Zwar kannte sie sich damit nicht
aus, aber es sah doch richtig aus. Dajana zielte sorgfältig, zog die
Sehne weit zurück – es sah so aus, als würde sie jeden Augenblick
reißen – und ließ los. Ihre Hand hatte nicht gezittert.
"Gehen wir raus und schauen es uns an", schlug
Gaya vor und die Drei verließen die Gaststube. In dieser Gegend hielten
sich wenige Bürger auf und keiner hatte mitbekommen, wie der Pfeil
sich in das Schild gebohrt hatte. Sie blieben stehen und sahen hoch. Der
Pfeil steckte tief in dem Verschluss der Flasche. Der blauen Flasche.
Dajana schnappte überrascht nach Luft.
"Verdammt! Ich hätte schwören können,
die Flasche war grün..."
Julian machte "hm". Gaya wusste auch nicht
weiter. Hatte Dajana nur die Farben verwechselt oder ernstlich daneben
getroffen?
"Ehrlich, ich dachte das wäre grün.
Ich habe nicht daneben getroffen!", versicherte das Mädchen. Julian
sah sie mitfühlend an.
"Du kriegst noch eine Chance."
"Danke! Danke! Das war wohl wegen der Sonne...
ich habe gedacht die Flasche wäre grün..."
Dajana ging also zurück zum "Silberknauf"
und nahm ihre vorherige Position an. Gaya sah, wie ihre Muskeln sich spannten
und spürte den Luftzug, als der Pfeil knapp an ihr vorbeiflog. Julian
sah hoch und schüttelte mit dem Kopf. Der zweite Pfeil hatte sich
ebenfalls in den Korken der blauen Flasche
gebohrt. "Noch mal!", rief er Dajana zu und
sie zuckte zusammen. Verständnislos schaute sie auf das Aushängeschild
und hob schließlich wieder den Bogen. Nachdem Julian den vorherigen
Pfeil entfernt hatte, schoss sie. Diesmal sah Gaya, dass sie ein anderes
Ziel vor Augen hatte. Trotzdem traf sie auch zum dritten Mal die blaue
Flasche.
"Das kann doch nicht sein!", rief sie verzweifelt
und kam zu ihnen rüber. "Das Schild ist bestimmt verhext! Ich habe
ganz eindeutig auf die andere Flasche gezielt..."
"Und sie verfehlt", schloss Julian. Dajana
blickte zu dem Pfeil hoch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie
tat Gaya leid. Anscheinend bedeutete ihr das wirklich sehr viel. Und sie
kannte sich mit dem Bogen anscheinend auch aus, nur die Zielsicherheit
war nicht ganz... Plötzlich öffnete sich die Tür des Geschäfts,
zu dem das Aushängeschild gehörte, und ein junger Mann trat heraus.
Wütend blickte er auf das Schild.
"Was soll denn das?", rief er. "Seit wann
ist das Schild eine Zielscheibe fürs Bogenschießen?"
"Entschuldigt. Wir musste nur dringend die
Fähigkeiten von ihr prüfen", sagte Julian höflich und der
Blick des Mannes wanderte zu Dajana, die immer noch wie erstarrt mit dem
Bogen in der Hand da stand. Sein Gesicht wurde weicher und Gaya las in
seinen blauen Augen aufflammende Bewunderung.
"Sie hat doch ziemlich genau getroffen", meinte
er.
"Ja, aber das Ziel war die grüne Flasche
gewesen", erklärte Julian. Der Mann sah ihn fragend an.
"Welche grüne Flasche?" Gaya, Julian
und Dajana blickten auf das Schild – und tatsächlich waren dort nur
zwei blaue Flaschen abgebildet. Julian wechselte einen verwirrten Blick
mit Gaya, während der junge Mann lächelte.
"Das ist ein Streich, den die Sonne oft spielt.
Es sind zwei blaue Flaschen, doch von weitem können sie einem grün
vorkommen", erklärte er. "Darauf wurde ich schon mehrmals angesprochen.
Sag mal", er wandte sich an Dajana, die plötzlich sehr erleichtert
aussah, "hast du wirklich versucht eine grüne Flasche zu treffen?"
Sie grinste verlegen und zuckte mit den Schultern.
"Mir kam sie gleich so komisch vor, aber ich
hielt sie für grün. Doch ich dachte wirklich, das Schild wäre
verhext - das dritte mal zielte ich nämlich auf die andere Flasche,
nur um sicher zu gehen. Aber sie waren ja beide blau!" Sie kicherte
gelöst. Gaya kam sich ausgesprochen dämlich vor und Julian schien
es nicht anders zu gehen.
"Tja, anscheinend war es wirklich ein Missverständnis.
Tut mir leid, Dajana", sagte Julian und lächelte ein wenig irritiert.
Sie war ihm erstaunlicherweise nicht böse, nur erleichtert, dass sie
sich nicht getäuscht hatte.
"Und, hat sie den Test bestanden?", erkundigte
sich der Mann.
"Oh, ich denke, das hat sie durchaus", erwiderte
Julian und Dajana strahlte förmlich, was ihr weitere bewundernde Blicke
einbrachte. Gaya konnte das durchaus verstehen, denn Dajana sah wirklich
ziemlich gut aus, doch sie ertappte sich dabei, wie sie wünschte,
dass auch Julian sie mal so ansehen möge. Unsinn, schalt sie sich
selbst.
Vom "Silberknauf" erklang auf einmal ein anderes
Geräusch. Sie musste sich erst umdrehen, um es zu erkennen - die wenigen
Gäste klatschten begeistert, unter ihnen auch der Mann, von dem Dajana
den Bogen hatte. Das Mädchen errötete und ihr Lächeln wurde
noch breiter. Sie sah wirklich zauberhaft aus, insbesondere als
sie sich vor ihrem Publikum verbeugte und dann die vollen Haare zurückstrich.
Sie liebt es im Mittelpunkt zu stehen,
dachte Gaya amüsiert, man sieht es ihr an. Wie sehr sie diese Aufmerksamkeit
doch genießt!
Und letztendlich ist es doch kein ruinierter
Tag, dachte Julian, lächelte und konnte nicht aufhören damit,
während er zusah, wie die Leute aus dem Gasthaus stürmten und
eine selige Dajana in Empfang nahmen.
"Dankt den Göttern, dass ihr mich habt",
sagte Dajana später. Die Drei schlenderten die Straße entlang
und beobachteten die Natur, die Stadt, den Himmel. "Sonst hättet ihr
das Essen bezahlen müssen!"
"Nein", korrigierte Julian. "Gaya hätte
es bezahlen müssen. Für uns beide. Schon vergessen?"
"Stimmt. Das heißt, du schuldest mir
noch etwas, Gaya!" Gaya wechselte ihren Stab in die andere Hand, genoss
die Ruhe und war einfach in friedlicher Stimmung. Daher war der Blick,
den sie Dajana nach diesen Worten schenkte, ganz und gar nicht unfreundlich.
"Das warten wir mal ab. Eigentlich sind wir
jetzt eher quitt, denkst du nicht? Ich habe deinen diebischen Hals vor
der Schlinge, du meinen Geldbeutel vom Ausbluten gerettet."
"Mm. So kann man es natürlich auch sehen",
lenkte sie ein und streckte sich genüsslich. Licht fing sich in ihrem
offenen Haar und floss an ihrem Rücken herunter. "Andererseits...
schleppst du mich schließlich auf diese Abenteuer... das musst du
auch noch wiedergutmachen."
"Damit habe ich dich doch vor dem Galgen
gerettet!" Dajana lachte.
"Ist das nicht völlig verrückt?
Aber wisst ihr, ich finde euch gar nicht so schlimm. Ihr seid zwar wahnsinnig
und wollt mich aus N’hoa fortnehmen, aber diese Stadt ist sowieso ein verschlafenes
Rattennest. Viel verpasst man da nicht."
"Schön, dass du auch dieser Meinung bist",
sagte Gaya und lächelte. Ah, es tat gut so im Sonnenschein spazieren
zu gehen, mit Freunden an der Seite, umgeben von reiner Natur... Freunden?
Es wunderte Gaya, dass sie die Zwei so schnell als Freunde bezeichnete,
aber dann erinnerte sie sich, dass es in ihrem Leben bisher noch nie richtige
Freunde gegeben hatte. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, was darunter
zu verstehen war.
Aber es macht Spaß... mit Julian,
trotz seiner Geheimnisse, mit Dajana, trotz ihrer Sturköpfigkeit.
Vielleicht gerade deswegen. Auch wenn ich nicht weiß, was Freundschaft
ist, gefällt mir einfach der Zustand, den wir gerade teilen. Es genügt
mir... voll und ganz.
Während Gaya diese Feststellung machte,
die sie sehr erstaunte, überlegte Dajana, ob sie die Frage stellen
sollte, die ihr schon den ganzen Morgen auf der Zunge lag, seit der junge
Mann vom Kräuterladen - er hatte sich als Cycil vorgestellt - sich
von ihnen verabschiedet hatte und dabei kurz eine Wasserquelle erwähnt
hatte. Da sie alle in so schöner Stimmung schwelgten, entschloss sie
sich dazu direkt zu fragen.
"Julian, gibt es in N’hoa eine Zauberquelle?",
fragte sie also geradeaus. Er sah sie verdutzt an, losgerissen von der
Zählung der Wolken am Himmel.
"Was?"
"Du hast schon verstanden. Gibt es in N’hoa
eine Zauberquelle? Bedenke, ich bin in deiner Gruppe und du darfst mich
nicht anlügen!" Er zögerte. Gaya sah zu, neugierig, wie er reagieren
würde.
"Ja, es gibt eine Zauberquelle hier", antwortete
Julian schließlich. Dajana machte große Augen.
"Tatsächlich? Ich... ich habe alles für
ein Gerücht gehalten! Aber wenn es wahr ist... wieso gehen wir dort
nicht hin?"
"Weil nur Zauberer durch die magische Tür
gelangen können...", sagte Julian und stockte plötzlich. Er sah
Gaya an, als erblicke er sie das erste Mal. "Aber wir haben ja jetzt eine
bei uns... Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht, wir können wirklich
zur Quelle gehen!" Gaya sah ihn skeptisch an.
"Wenn du bis jetzt nicht da warst, woher weißt
du dann, wo sie sich befindet?"
"Oh, die Tür habe ich schon vor einigen
Tagen gefunden. Aber um sie zu öffnen, muss man Magie besitzen und
die habe ich eben nicht. Aber du könntest die Tür für uns
öffnen!"
"Ja... könnte ich. Wahrscheinlich", sagte
sie nachdenklich. "Warum also nicht? Führ uns hin." Julian ging schnell
voran, und Gaya und Dajana mussten ihm fast hinterher rennen. Gaya dachte
nach. Was wusste sie von dieser sagenhaften Quelle? Es hieß, dass
man mit dem Wasser dieser Quelle aus einfachen Tränken Zauberelixiere
machen konnte, die sehr mächtig waren, zum Beispiel sollte ein Schimmelpilz
in einem Glas mit diesem Wasser dazu fähig sein alle Gifte im Körper
unschädlich zu machen. Eine Glockenblume sollte vorübergehende
Unverletzbarkeit herbeiführen. Natürlich waren das alles nur
Gerüchte, aber wer wusste schon ob da nicht was dran war. Von irgendwoher
mussten Gerüchte doch kommen! Außerdem suchten die Antellis-Hexer
ebenfalls nach ihr und die mussten sich immerhin damit auskennen.
Julian führte sie am Hügel vorbei,
an dem sie nächtliche Wache geleistet hatten, und etwas weiter eine
grüne Wiese entlang, bis der Wald am Horizont auftauchte. Gaya wollte
ihn gerade fragen ob sie in den Wald gehen mussten, als er stehen blieb.
Sie waren immer noch auf der Wiese, aber ziemlich nah am Rand und direkt
vor ihnen wuchs ein großer Apfelbaum. Dajana sah Gaya fragend an
und die zuckte verständnislos mit den Schultern. Währenddessen
kniete Julian sich hin und fegte die Erde beiseite. Zur Überraschung
der beiden anderen kam eine Luke darunter zum Vorschein.
"Das ist die Tür. Jetzt musst du sie
nur noch aufkriegen", verkündete Julian zufrieden und erhob sich.
"Woher weißt du, dass das der Eingang
zur Quelle ist und nicht einfach nur ein alter Bergbauschacht ist?", fragte
Gaya.
"Weil es da drauf steht", sagte er und zeigte
auf eine verblasste Inschrift.
"Der Weg zum Quell der Magie steht jedem ihrer
Träger offen", las sie. "Und wie soll ich sie öffnen?"
"Du bist hier die Magierin", meinte er und
grinste. "Das ist deine Sache." Sie machte ein finsteres Gesicht und hielt
Ausschau nach einem Riegel oder so etwas, aber es war einfach ein steinernes
Quadrat mit Buchstaben drauf. Sie klopfte mit dem Stab dagegen und ließ
etwas von der Magie der Erde rüberfließen, aber nichts tat sich.
"Kann man da nicht einfach draufhauen?", erkundigte
sich Dajana mit einer Naivität, die nicht überraschte.
"Dann wäre sie ja nichts besonderes mehr,
oder? Außerdem habe ich es schon versucht. Mein Schwert
ist dabei in zwei Teile zersprungen." Gaya
dachte nach.
"Braucht man vielleicht ein geheimes Wort
oder so?", fragte sie.
"Keine Ahnung. Wenn ja, woher kennen es alle,
die zur Quelle wollen?"
"Gute Frage. Hm." Sie sah sich um, aber nichts
in der Umgebung gab ihr einen Hinweis darauf, was sie machen musste. "Das
ist doch bescheuert. Ich bin nicht zum Rätselraten hierher gekommen!
Hey, Luke, würdest du bitte so nett sein und uns durchlassen?", rief
Gaya sarkastisch. Zur allgemeinen Überraschung schob sich daraufhin
lautlos der Deckel beiseite und gab eine gewundene Treppe preis.
"Das war’s?", sagte Julian entgeistert. "Man
musste nur höflich fragen? Ich werde diese alten Zauberer nie verstehen."
"Gehen wir also rein?", fragte Dajana unsicher.
"Ich denke schon", sagte Gaya und stieg als
erste runter, sich am Rande der Luke festhaltend. Es war nicht dunkel,
ein schwaches Licht drang aus den Wänden und kribbelte auf Gayas Haut.
Sie spürte die starke Magie fast körperlich. Die Treppenstufen
waren sehr dünn, es ging steil herab, und Gaya hielt sich an den Wänden
fest und bewegte sich sehr vorsichtig. Hinter sich hörte sie Julian
heruntersteigen und mehrmals stieß er gegen sie, wobei sie fast runtergefallen
wäre. Die Wände waren natürlich gewachsen, wie von einer
Höhle, aber es war sehr ungewöhnliches Gestein, das grün
glitzerte und an manchen Stellen brach etwas goldenes durch und bildete
ein verschlungenes Muster. Sie begriff, dass das wirklich Gold war. Zu
ihrer Erleichterung endete der Schacht schnell und sie betraten eine riesige
Höhle. Erstaunt blieb Gaya stehen und Julian musste sie zur Seite
schieben um selbst durchzukommen.
Es war schwer zu sagen, ob die Höhle
bearbeitet wurde oder nicht. Sie war vollkommen rund ohne den geringsten
Riss, aber weder Hammer noch Meißel hatten eine Spur darauf hinterlassen.
Die Wände waren jetzt völlig grün und glänzten wie
Glas auf das ein Sonnenstrahl fällt. Der Boden war genauso und schien
ein grünes Meer aus Licht zu sein, das sich ständig bewegte und
ein Schwindelgefühl verursachte. Und im Zentrum des Ganzen lief die
Quelle durch. Es war ein einfacher Bach, der unter der Wand anfing, die
Mitte des Raumes kreuzte und im Boden verschwand. Obwohl es keine sichtbare
Neigung gab, strömte er munter vor sich hin und das lebhafte Plätschern
hallte verstärkt von den Wänden wieder. Die Wasserspritzer leuchteten
wie kleine Kristallsplitter und hinterließen keine Spur auf dem grünen
Boden.
"Das ist…unglaublich", sagte Julian beeindruckt
und starrte auf das faszinierende Schauspiel, dass sich ihnen bot.
"Wunderschön", sagte Gaya ihrerseits
und Dajana fügte hinzu:
"Einfach fantastisch." Die Drei blieben an
der Treppe stehen, als würden sie es nicht wagen den schillernden
Boden zu betreten. Gaya bemerkte, dass der Diamant an der Spitze ihres
Stabs leuchtete, als ob er das allgegenwärtige Licht verschlucken
und in Energie umwandeln würde.
"Wie in einem Märchen. Und das befindet
sich die ganze Zeit unter den Füßen der Bürger von N’hoa?",
rief sie wie vom Donner gerührt aus.
"Kein Wunder, dass es jemand rumerzählt
hat", sagte Dajana und in ihren gedankenvollen grünen Augen spiegelte
sich die Quelle wieder. Julian sah sie scharf von der Seite an.
"Es war falsch. Die Bürger von N’hoa
können sowieso nicht hier runter. Sie sind nur misstrauisch geworden
und die Mossheimer Hexer haben bestimmt Wind davon gekriegt, dass die Quelle
hier ist. Wetten, bald kommen sie her und greifen die Stadt an? Bis dahin
sollten wir möglichst weit weg sein."
"Weit weg? Sollten wir den Bürgern nicht
beistehen?"
"Sie haben sich selbst reingeritten, wieso
sollten wir es für sie ausbaden? Es sind außerdem noch andere
Kämpfer in der Stadt, tapfere Männer, die gut mit ihren Waffen
umgehen können. Sie werden N’hoa schon verteidigen."
"Mit Waffen können sie kämpfen,
aber die Hexer werden mit Magie angreifen! Wie sollen sie dagegen ankommen?",
fragte Gaya aufgebracht. Er wollte doch tatsächlich weggehen!
"Gegenfrage: Wie sollen wir dagegen ankommen?
Du bist die einzige, die Magie besitzt und sie sind einige Hunderte. Nein,
wir verschwinden und zwar je schneller, desto besser. Vielleicht wird ja
der König selbst beistehen, schließlich ist N’hoa eine bedeutende
Stadt. Und jetzt - wollen wir nicht unsere Flaschen mit dem Wasser füllen?
Wenn wir schon mal hier sind." Gaya war immer noch wütend, sah aber
ein, dass er recht hatte, und betrat die Höhle als erstes, ohne Julian
einen Blick zu schenken.
Der Boden war sehr hart und eben. Die huschenden
Schatten hatten eine größere Entfernung zur Quelle vorgetäuscht
und ehe sie es sich versah, war Gaya schon angekommen. Die Wasserspritzer
benetzten ihre leichte Rüstung, ohne jedoch bis zum Hemd vorzudringen,
und prickelten angenehm auf der Haut. Sie war sich hundertprozentig sicher,
dass das magisches Wasser war und kniete sich hin. Vorsichtig tauchte sie
ein kleines Glas in den Strom und füllte es bis zum Rand. Als sie
es zustöpselte, nahm es eine blaue Tönung an, blieb aber weiterhin
durchsichtig. Gaya besaß nicht viele Behälter und verstaute
die drei, die sie dabei hatte, behutsam in ihren Bündel. Julian hatte
nur ein bauchiges Gefäß dabei und Dajana überhaupt keins.
Unsere
Ausrüstung lässt wirklich zu wünschen übrig.
"Kann man es eigentlich einfach so trinken?",
fragte Dajana neugierig.
"Ich glaube nicht. Es ist ziemlich stark und
würde dich wahrscheinlich vergiften", antwortete Gaya und tunkte nach
kurzem Überlegen eine Hand in die Quelle. Es fühlte sich kühl
an, aber gleichzeitig nicht wie Wasser, sondern wie Nebel. Nach einigen
genussvollen Augenblicken schoss ein scharfer Schmerz Gayas Arm hinauf
und sie zog ihn schnell raus.
"Es hat mich gebissen", stellte sie erstaunt
fest und zeigte eine kleine, blutende Wunde zwischen Mittel- und Zeigefinger.
Julian sah die unschuldig dahin fließende Quelle forschend an.
"Da!", deutete er aufs Wasser. Den Grund der
Quelle bedeckte ein silbernes, moosartiges Gewächs mit zwei langen
Fortsätzen, die in blattförmigen Spitzen endeten. Sie schlängelten
ruhig im Strom dahin. Hin und wieder zuckte eins und kleine Blitze durchfuhren
die gesamte Pflanze. Dann öffneten sich blitzschnell mehrere purpurne
Blüten und stießen winzige, hell-orange Blasen aus, die sich
im Wasser auflösten. Wenn man genau horchte, hörte man ein leises
Zischen und Blubbern.
"Was ist das?", fragte Dajana fasziniert.
"Keine Ahnung. Aber ich nehme an, dass diese
Dinger die Quelle so magisch machen", sagte Gaya und untersuchte die Wunde.
Sie hatte sich schon geschlossen und tat überhaupt nicht mehr weh.
"Wirklich? Ich habe gedacht sie wurde verhext
oder so...", meinte Julian und zuckte mit den Schultern. "Na ja, ist auch
nicht so wichtig. Ich glaube wir sollten gehen. Mir ist es hier irgendwie
nicht geheuer." Er wandte sich von der Zauberquelle ab und ging Richtung
Treppe davon. Gaya wechselte einen verständnislosen Blick mit Dajana,
dann gingen die Beiden dem Ritter hinterher. Die vollen Flaschen gluckerten
leise in Gayas Tasche.
© Martha
Wilhelm
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