Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 2: Feuer und Eis (1)

Gaya schloss die Luke hinter sich, die lautlos wieder zufiel. Sie betrachtete einen Moment lang die eingravierte Schrift und fragte sich, ob die Quelle ein Werk von Menschenhand war oder ob die Menschen nur den Eingang versiegelt hatten, so dass sie bloß den Zauberern zur Verfügung stand. Doch wie konnte man so etwas phantastisches erschaffen? Selbst mit der mächtigsten Magie der Welt war die Quelle doch ein Werk außerhalb des Raums, ein Teil der Natur und doch von Fremdartigkeit einer anderen Dimension erfüllt.
Vielleicht ist sie ein Werk der Götter, überlegte Gaya. Ihre Ruhestätte, wenn sie auf Erden weilen. Erhaben über den Taten der Menschen... Aber dann waren wir an einem heiligen Ort gewesen ohne es erlaubt bekommen zu haben. Was könnte das für Folgen haben...?
"Gaya, was machst du da?", störte Julian ihre Gedanken. Er klang ungeduldig und sie riss sich von der geheimnisumwobenen Stätte ab, dem irdischen Geschehen zu. 
"Ich komme", rief sie und erhob sich. Dajana und Julian warteten in einiger Entfernung, bis sie sich zu ihnen gesellt hatte. "Ich habe mir nur noch mal die Inschrift angesehen", erklärte sie und rückte den Umhang zurecht, den sie trug. 
"Und, was herausgefunden?", erkundigte sich Julian, während sie wieder auf N’hoa zugingen.
"Nein, nichts." Sie wollte ihre Gedanken nicht mit den beiden teilen, insbesondere weil ihr Julians merkwürdiges Benehmen dort unten noch gut in Erinnerung war. Außerdem bezweifelte sie, dass Dajana den Ernst aufbrachte, über so etwas zu reden. Andererseits hatte sie geschwiegen, seit sie die Quelle verlassen hatte. Ihr Gesicht trug einen in sich gekehrten Ausdruck, die grünen Augen wirkten verhangen. Gaya hätte zu gerne gewusst, was ihr gerade durch den Kopf ging.
"Was hast du jetzt vor?", fragte sie nach einiger Zeit Julian, als kein anderer das Schweigen lösen wollte.
"Ich weiß nicht. Normalerweise übe ich des Tagsüber oder schaue mich in der Stadt um. Aber so viel hat sie nicht zu bieten, dass man sie sich immer und immer wieder ansehen möchte." Dajana gab ein abfälliges Geräusch von sich, das erste Anzeichen von wiederkehrender Normalität. Gaya wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie schwieg auch weiterhin.
"Also, was dann?" 
"Wir könnten uns in den Läden umsehen...", meinte Julian unsicher. Gaya war alles andere als begeistert. Da redete Dajana auf einmal wieder.
"Ich möchte was über euch erfahren", verkündete sie. Ein neuer Tonfall schwang in diesen Worten mit und beide, Julian und Gaya, blickten zu ihr hin.
"Was ist los, Dajana?"
"Nichts. Ich möchte nur etwas über euch wissen", antwortete sie, hielt die Augen geradeaus gerichtet. 
"Na ja... das könnten wir wirklich machen", sagte Julian nach einer kurzen Pause. "Uns gegenseitig etwas voneinander erzählen... Schließlich werden wir wohl zusammen reisen und so weiter..." 
"Gut, dann... sollten wir wohl nicht in die Stadt zurück gehen." Es war mehr eine Frage von Gaya, sie war etwas verunsichert von den Schwingungen, die von Dajana ausgingen. Das Mädchen hing Gedanken nach, die anscheinend weit über ihren üblichen Leichtsinn hinausgingen. Es ist wohl die Quelle. Für sie muss es das erste mal gewesen sein, dass sie diese... Berührung gespürt hat. Gaya, die die monumentale Stille der Wälder Yasings gut in Erinnerung hatte, verstand Dajanas Geistesabwesenheit. Es war erschütternd zum ersten mal von so etwas gestreift zu werden. Daher überlegte sie einen Moment lang und schlug dann vor zum Fluss zu gehen. Der Vorschlag wurde angenommen.

"Geboren wurde ich im unteren Sunaj", sagte Gaya. "Meine Familie ist für die sonstigen Verhältnisse recht wohlhabend. Sie führen ein Waschgeschäft und verdienen dabei ziemlich gut, soweit ich weiß. Ich habe mit ihnen nicht viel zu tun. Mit acht Jahren bin ich schon zu den Druiden gegangen und hab sie seit dem nur ein mal gesehen, erst vor kurzem, auf meiner Durchreise nach N’hoa."
"Kommst du mit deiner Familie nicht gut zurecht?", fragte Julian interessiert. Gaya zuckte mit den Schultern.
"Ich würde eher sagen, sie kommt mit mir nicht zurecht... Ich bin das einzige Kind meiner Eltern und 
sie haben sich nie damit abgefunden, was ich geworden bin. Sie halten es für eine Schande."
"Ich beneide dich", meinte Julian, woraufhin sie ihn erstaunt ansah. Jetzt war er es, der die Schultern in einer gleichgültigen Geste bewegte. "Ich habe zwei ältere Brüder, die es beide weit gebracht haben. Da mitzuhalten ist nicht gerade einfach." 
"Ich denke, dass deine Familie stolz auf dich sein kann", meinte sie, aufmunternd lächelnd. "Schließlich wirst du das ganze Land befreien!" Er lachte auf. 
"Du hast ein gesundes Selbstvertrauen, Gaya! Wir passen gut zusammen."
"Wie ist das bei dir, Dajana?", wandte sich Gaya schnell an das Mädchen, um nichts auf seinen letzten Satz erwidern zu müssen.
"Ich habe keine Familie", sagte sie.
"Wie meinst du das?", wollte Julian stirnrunzelnd wissen.
"Meine Mutter verdient ihr Geld, indem sie sich an Männer verkauft, deshalb habe ich meinen Vater nie gekannt. Ich trage den Familiennamen meiner Mutter, Stromsyard. Ich habe unzählige Halbgeschwister, zu denen ich keinen Kontakt halte, und das auch nicht will. Ich kenne sie nicht einmal alle! Kann man das Familie nennen? Ich denke nicht." Sie strich mit den Fingern durch ihr dichtes Haar und sah die beiden herausfordernd an. Was sagt ihr jetzt?
"Wie bist du denn aufgewachsen?" fragte Gaya bestürzt.
"Wie Kinder nun mal so aufwachsen. Es ist unwichtig." Sie wandte den prüfenden Blick von ihren Gefährten ab und beobachtete stattdessen die ruhigen Fluten des Königsflusses. Dunkelblau, an manchen Stellen türkis, strömte er dahin, von Sunaj aus an N’hoa vorbei bis zur Mündung in das Meer der Sehnsucht. In einiger Ferne erstreckte sich die dunkle Linie des Celine-Waldes, der N’hoa völlig einschloss. 

Die Nacht verbrachten sie wieder auf dem Hügel. Auch diesmal begegnete ihnen niemand und Gaya fing an zu glauben, dass der Feuerzauberer tatsächlich eine Erfindung der Stadtbewohner war. Aber bei einem kleinen Rundgang entdeckte Dajana zwei Leichen von Antellis-Hexern. Der eine war bei lebendigem Leibe verbrannt worden. 
Die Sonne war vor einer Stunde aufgegangen und die Drei verließen ihren Schlafplatz, unausgeruht, aber guter Laune. Wenigstens wussten sie jetzt, dass der Zauberer tatsächlich existierte. 
"Ich habe es doch gesagt!", sagte Julian, während sie das feuchte Gras des Hügels runter rutschten. "Ich weiß nicht, wieso wir ihn nicht bemerkt haben, aber er ist kein Gerücht!"
"Woher willst du eigentlich wissen, dass es ein Er ist? Wieso keine Sie?", fragte Gaya und stützte sich mit ihrem Stab, um nicht abzurutschen, während Dajana versuchte, die Grasflecken von ihrer Bluse wegzuwischen.
"Es heißt doch Zauberer und nicht Zauberin." Gaya zuckte mit den Schultern und gähnte. Sie fühlte sich auf eine wohltuende Art müde und wollte nicht mit Julian streiten. 
"Was machen wir denn jetzt?", fragte Dajana und stolperte. Gaya fing sie auf und wäre beinahe selbst hingefallen. "’Tschuldigung", murmelte das Mädchen und ging vorsichtig weiter. 
"Also, ich denke, wir müssen nicht wieder in die Gaststätte gehen oder? Irgendwie nervt es mich langsam", sagte Julian und ging mit sicheren Schritten voraus. Auf seiner Rüstung glänzte feiner Tau. Gaya erinnerte sich an ihre Gedanken bei der Quelle.
"Ich finde wir sollten unsere Ausrüstung verbessern. Dajana müssen wir einen Dolch beschaffen und ein paar Tränke wären auch nicht schlecht. Oder einfach nur leere Flaschen. Dann sollten wir eine Landkarte kaufen und planen, wo lang wir eigentlich gehen wollen. Außerdem muss Dajana eine Vorstellung von Cinhyal bekommen, wenn wir es doch durchqueren wollen."
"Ja, das sollten wir wirklich alles machen", nickte er. "Ich habe mir überlegt, dass wir am besten durch den Celine-Wald gehen sollten, das ist die kürzeste Strecke nach Sunaj. Danach...Tja, das werden wir ja noch sehen. Vielleicht finden wir in Sunaj noch einige Freiwillige, die mitkommen wollen. Ich finde wir drei sind etwas zu wenig, um ganz Cinhyal zu befreien!"
"Ich habe aber ziemlich üble Sachen über Celine gehört", warf Dajana ein. "Man sagt sich, dass sich da Oegwin und schlimmeres rumtreibt, Schlangenmenschen und so. Gibt es keinen ungefährlicheren Weg?"
"Ja, aber dafür bräuchten wir eine Woche, weil wir das Chetas-Moor umgehen müssten. Und außerdem – wollten wir nicht kämpfen? Wieso nicht gegen Schlangenmenschen?" Er lachte. 
"Die... die sollen aber wirklich sehr gefährlich und stark sein, Julian. Ist das nicht zu viel für uns?"
"Dajana, du kannst dir deine Gegner nicht aussuchen! Und wir können nicht mit den schwächsten Kreaturen anfangen und uns dann vorarbeiten. Sind wir nun Kämpfer oder nicht?"
"Ich - nicht", sagte Dajana, aber so leise, dass er es kaum verstehen hätte können. Gaya äußerte sich nicht dazu. Klar hatte sie einige haarsträubende Geschichten über den Wald Celine gehört, aber es gab solche Geschichten über alle Gegenden! Soll doch kommen, was kommen will!
"Erinnert ihr euch an diesen jungen Mann von dem Laden gestern? Cycil oder so. Wieso kaufen wir uns die Tränke nicht bei ihm?", schlug sie vor.
"Wieso denn?", fragte Julian.
"Keine Ahnung. Fiel mir nur so ein." In Wirklichkeit erinnerte sich Gaya nur zu deutlich an seine Blicke auf Dajana. Vielleicht würde er uns seine Ware ja billiger verkaufen... "Außerdem ist der Laden am nahesten von hier aus oder?" Weder Julian noch Dajana hatten Einwände, also gingen sie zu dem Laden.
Er hieß "N’hoas Bestes" und lag ziemlich weit vom Zentrum der Stadt entfernt. Ein kleines, unscheinbares Haus mit großen Fenstern und kärglichen Verzierungen. Die alte, von Rost angefressene Tür stand offen und führte in einen erstaunlich geräumigen Raum. An den Wänden entlang zogen sich vollgestellte Regale hin, auf denen Flaschen glänzten und merkwürdig gefärbte Flüssigkeiten zischten.
Es herrschte ein angenehmes Dämmerlicht, obwohl draußen das Morgenlicht erstrahlte, und von der 
Decke hingen einige sich windende Pflanzen herab. Der Geruch nach trockenen Gräsern hing in der Luft und brachte Gaya zum Niesen. Die Theke, überhäuft mit allen möglichen Kräutern und Pergamenten, wies keine Spur von Leben auf. Der Laden schien leer. Gaya ging zu einem Regal und untersuchte die Tränke. Sie waren guter Qualität, bewundernswert frisch und nicht angeschimmelt, wie in so vielen Läden. Die Gläser selbst waren ein wenig unförmig, aber fest. Sie entdeckte einige verzauberte darunter, die sehr alt zu sein schienen.
"Willkommen!", erklang da unerwartet eine Stimme aus einer Ecke. Eine füllige Gestalt löste sich aus dem Schatten und kam an den Ladentisch. Es war eine ältere Frau, mit braunen, ordentlichen Haaren und einem sympathischen Gesicht. Sie hatte viele verschiedenfarbige Flecke an der Schürze und der Kräutergeruch ging ganz besonders stark von ihr aus. Ein freundliches Lächeln offenbarte drei Zahnlücken. "Was wünschen der Herr und die Damen?"
"Ähm... wir suchen einige nützliche Tränke für eine Reise", erklärte Gaya und nahm eine der verzauberten Flaschen zur Hand. "Was bewirkt dieser Trank?", fragte sie die Frau. Diese kniff die Augen zusammen, als ob Gaya in einigen Metern Entfernung stehen würde, und dachte kurz nach. 
"Ich weiß nicht genau... ich glaube, das ist der für die Heilung von Wunden. Ist er grün?"
"Nein, lila", antwortete Gaya und wunderte sich. War die Frau blind?
"Ach, ich verwechsele die beiden Farben wirklich ständig!", rief sie kopfschüttelnd. "Und in dieser Dunkelheit auch noch... Tss, das muss dann der Stärkungstrank sein. Falls sie mal eine Krankheit ausbrüten... oder nein, was rede ich da..." Sie verstummte und überlegte. Dann schüttelte sie wieder den Kopf und lächelte. "Ach, mit diesen Verzauberten kenne ich mich nicht so gut aus, war auch nicht meine Idee sie zu verkaufen, müsst ihr wissen... Cycil! Würdest du mal bitte herkommen, Junge?"
"Was ist, Ella? Du weißt doch, ich bin beschäftigt", erklang eine gedämpfte Stimme aus dem Nebenraum. Gaya erkannte sie als die des jungen Mannes von gestern.
"Kunden... Kunden, Cycil! Du weißt doch ich alte Henne sehe so gut wie nichts, also komm her und hilf den netten, jungen Leuten!" 
"Schon gut, aber meckere dann nicht, dass ich mit diesem Trank nicht fertig geworden bin!" Eine Tür knarrte und schnelle Schritte waren zu hören. Dann öffnete sich eine schmale Tür und Cycil betrat den Raum. Mit einem schnellen Blick erfasste er das Geschehen. "Hallo, ihr seid das ja!", sagte er lächelnd. "Ella, du kannst dich wieder hinsetzen, ich mache das schon." 
"Ja, meine armen Beine tun mal wieder höllisch weh... Stört es dich, wenn ich heute Abend baden gehe?"
"Nein, natürlich nicht. Aber vergiss bitte nicht Frau Gängelwald nach der Milch zu fragen."
"Ich doch nicht." Ella watete bedächtig zur Tür rüber und verschwand. Cycil wandte sich den Dreien zu.
"Toll, dass ihr noch mal her kommt. Aber diesmal hoffentlich ohne Pfeile in das Ladenschild?"
"Nein, nein. Wir suchen ein paar nützliche Tränke fürs reisen", wiederholte Gaya. 
"Ihr wollt N’hoa verlassen? Schade. Aber kann ich euch nicht verübeln, die Stadt ist wirklich das reinste Schlafmittel." Er bemerkte das Glas in Gayas Hand. "Der bewirkt, dass man nicht so schnell ermüdet, bei langen Bergwanderungen oder ähnlichem."
"Ja, ich habe schon bemerkt, dass das ein ziemlich stark verzauberter Trank ist. Wie lange wirkt er denn?"
"Fünf Stunden ungefähr. Aber er ist leider nicht zum Verkauf freigegeben – ist eine Bestellung", erklärte Cycil und Gaya stellte das Elixier wieder hin. 
"Na ja, wir wissen noch nicht genau, was wir brauchen... um ehrlich zu sein, kennen wir uns alle nicht so besonders gut mit Tränken aus. Könntest du uns nicht einfach ein paar aufzählen?"
"Klar", sagte er und sah sich nachdenklich um. "Also, womit fange ich an? Der Blaue neben dem Violetten ist nicht verzaubert, aber er wirkt gut gegen die Sumpffäulnis. Falls ihr mal ins Moor gelangt... Braucht ihr zufällig einen Schlaftrunk? Nein? Der liegt hier seit gut einem halben Jahr herum... lässt sich einfach nicht vermarkten. Aber ich kann euch ein gutes Anti-Hunger Elixier geben, es sorgt dafür, dass ihr einen ganzen Tag lang keinen Hunger verspürt, egal wie lange ihr schon nichts gegessen habt... Falls ihr mal nach Beneth kommt – dort gibt es Anti-Hunger Tränke, dass ihr einen ganzen Monat lang nichts essen wollt. Aber wegen denen sind schon ziemlich viele gestorben, haben einfach vergessen, dass sie trotz des Trankes noch essen müssen..."
Ohne ein einziges Mal zu stocken, erzählte ihnen Cycil von allen möglichen Tränken, ihrer Wirkung und Nachwirkung, von Verzauberungen und Mischmöglichkeiten und von verschiedenen Kräutern, die sie ergänzten. Es war beeindruckend, was er alles darüber wusste und wie gut er es sich merkte. Ein paar Mal ließ er auch noch gute Länderkenntnisse durchscheinen, und Gaya wunderte sich. Woher wusste er das alles? Ihm schien es nicht einmal aufzufallen, wie erstaunt sie alle waren, er sprach ganz locker weiter und ging dabei von Regal zu Regal. Er warf ihnen einen kurzen Blick zu und lachte plötzlich los. "Wenn ihr euch jetzt sehen könntet! Sagt mir doch einfach, dass ihr kein Wort versteht! Wenn ich erst mal angefangen habe, kann ich stundenlang über sämtliche Tränke sprechen, die je gebraut wurden! Das ist so ’ne Gewohnheit. Aber ich will euch ja nicht zu Tode langweilen. Andererseits – du hast doch gesagt ich soll ein paar aufzählen!"
"Ein paar... Es ist nicht direkt langweilig, aber ich glaube, das ist einfach zuviel Wissen auf einmal", sagte Julian und grinste. Gaya bemerkte, dass Cycil den Augenkontakt mit Dajana mied.
"Irgendwelche zur Stärkung wären gut, zum Heilen oder so", sagte sie und ließ den Blick wandern. 
"Das müssen dann wirklich alle verzauberte Elixiere sein", bemerkte er nachdenklich. "Ich fürchte, so starke Verzauberungen habe ich hier gar nicht... Aber wie stark muss der Heiltrank sein?"
"Blutverlust stoppen, Gift aus dem Körper entfernen, Entzündungen verhindern können, so etwas in der Art. Der Trank muss hauptsächlich eine Verschlimmerung von Verletzungen verhindern, bis wir in die nächste Stadt kommen", erklärte Gaya.
"Da hätte ich schon etwas, aber es hilft vielleicht mal für zwei Tage, nicht länger. In Beneth machen sie hervorragende Heiltränke, die helfen zwei Wochen lang. Aber sie kosten auch ein Vermögen..." Er seufzte und zeigte ihnen dann eine kleine, unscheinbare Flasche, gefüllt mit einer schimmelig grüner Flüssigkeit. Er reichte sie Gaya. Sie sah sich das Elixier an und roch daran. Es duftete nach Kräutern und frischem Gras. 
"Wie viel willst du dafür?", fragte Julian und sah ihn prüfend an. Cycil überlegte.
"Sechzig Silber", antwortete er schließlich. Gaya vermutete, dass das nur die Hälfte vom üblichen Preis war, auch wenn es ziemlich teuer war. Julian runzelte die Stirn und besah sich das Fläschchen noch mal an.
"Für so ein kleines Elixierchen?" Cycil zuckte mit den Schultern.
"Es gibt einen zweiten Händler in der Stadt, geht doch zu ihm. Da werden’s dann hundertfünfzig Silber sein."
"Angenommen, aber er wirkt doch hundertprozentig oder?", fragte Gaya und Cycil sah plötzlich sehr gekränkt aus. 
"Wenn ihr meint wir verkaufen hier gefälschte Ware, dann verzieht euch gleich!", sagte er beleidigt.
"Nein, schon gut, das war nur so eine Frage", sagte Gaya beschwichtigend.  "Wir nehmen ihn." Sie gab ihm das Geld und er steckte es in eine kleine Büchse auf dem Tisch. Dann neigte er den Kopf etwas zur Seite und musterte die Drei eingehend.
"Ich könnte euch einige Tränke zusammenbrauen, auf Bestellung sozusagen. Dann müsstet ihr nicht den ganzen Laden durchstöbern. Das würde aber ein paar Tage dauern, von den Kosten ganz abgesehen."
"Ein paar Tage..." Gaya sah zu Julian rüber. Wie lange hatte er noch vor in der Stadt zu bleiben?
"Übermorgen will ich aufbrechen", sagte der Ritter entschieden und Cycil zuckte mit den Schultern.
"Das würde vielleicht reichen. Ich arbeite gerade an einem Panzerzauber - er bewirkt, dass die Haut sich so stark verhärtet, dass sie einem Panzer gleicht. Ich könnte ihn bis übermorgen fertig kriegen."
"Wäre nicht schlecht - oder was meint ihr?", fragte Julian. Gaya nickte. 
"Hört sich nützlich an", sagte Dajana – der erste Satz, den sie im Laden sagte.
"Gut, würdest du den Trank dann für uns aufheben?"
"Klar." Eine Weile besprachen sie noch weitere Tränke, die sie brauchen könnten. Das hieß, Gaya besprach sie mit Cycil, während Dajana sich langweilte und Julian gelegentlich ein Wort einwarf. 
"Wir kommen dann übermorgen noch mal vorbei und holen alles ab", sagte Gaya schließlich. Cycil nickte und schrieb sich etwas auf.
"Ähm - unter welchem Namen soll ich das alles eintragen?", fragte er.
"Gaya Asearien", antwortete sie und sah zu, wie er in einer schönen, präzisen Schrift ihren Namen niederschrieb. 
"Dann war’s das erst mal. Ich beeile mich damit", versprach er und sie verabschiedeten sich. Cycil begleitete sie bis zur Tür und als Gaya sich noch mal umdrehte, sah sie, dass er ihnen nachdenklich nachschaute. Und aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass seine Gedanken sich nicht nur mit Dajana beschäftigten. 
"Schön, jetzt wo wir das erledigt haben - können wir endlich essen gehen? Ihr könnt ja irgendwelche 
Supermenschen sein, aber ich falle gleich um vor Hunger!", sagte Dajana klagend und Julian lachte.
"Ich bin leider kein Supermensch - ich habe auch Hunger!"
"Dann gehen wir in den Gaul und machen aus uns wieder Supermenschen", stimmte Gaya grinsend zu. 

Im "Müden Gaul" war noch so gut wie keine Kundschaft und deswegen schien der Wirt sich zu freuen die Drei zu sehen. Dajana fand zwar nicht gerade seine Zustimmung, dafür behandelte er Julian fast ehrfürchtig. Sie bestellten sich ein üppiges Frühstück und machten sich daran ihren Hunger zu stillen. Während Gaya das gekochte Gemüse aß, dachte sie, dass Julian über ziemlich viel Geld verfügen musste, wenn er ihre ganze Reise finanzieren wollte. Wieder einmal zerbrach sie sich den Kopf, wer er war und auf wessen Befehl er handelte. Und wieder einmal gab sie es auf. Irgendwann einmal wird er es uns sagen.
"Das ist köstlich!", rief Dajana begeistert, als sie den Entenauflauf probierte. "Als ich hier gearbeitet habe, habe ich nicht geahnt, dass der alte Geizkragen so gutes Essen verkauft!" Der Wirt - der anscheinend nichts anderes tat, als rumstehen und zu lauschen - warf ihr einen finsteren Blick zu und murrte etwas. Sie ignorierte beides und aß munter den Teller leer. Gaya kicherte und hätte sich beinahe verschluckt. Sie nahm schnell noch einen Schluck des verdünnten Weins - ausnahmsweise mal hatte sie es sich erlaubt morgens Wein zu trinken.
Das Schankmädchen kam zu ihnen rüber, sichtlich nervös.
"Ähm - ich... ich soll euch etwas ausrichten... von... von dem... Meister am Tisch da drüben." Sie zeigte flüchtig, welchen Tisch sie meinte. "Er will mit euch sprechen... geheim... sehr wichtig... und zwar sofort." Sie warf einen erschrockenen Blick nach hinten und machte sich schnell davon. 
"Geheim und wichtig? Hört sich interessant an", meinte Julian und warf einen Blick auf den Tisch, den das Mädchen gezeigt hatte. Der Mann daran machte den Anschein eines wohlhabenden Bürgers, der den ganzen Tag nichts tat und zu viel aß. Er hatte hell-braunes, öliges Haar, kleine Augen und einen ziemlich vollen Umfang. Gaya hob skeptisch die Augenbrauen, als sie sich wieder den anderen beiden zuwandte. Sieht aber sehr wichtig und geheim aus.
"Wer weiß, kann ja wirklich... wichtig sein", sagte Julian, aber er selbst klang zweifelnd. Also gingen die Drei zu dem "Meister" rüber, wie ihn das Mädchen genannt hatte. Seine wässerig-blauen Augen huschten schnell hin und her und überhaupt machte er aus der Nähe einen leicht gehetzten Eindruck. Neben dem hochgewachsenen, imposanten Julian wirkte er besonders klein und dick. Vor ihm auf dem Tisch stand ein voller Bierkrug.
"Se-setzt euch bitte", sagte der Mann und versuchte einladend zu blicken, was ihm jedoch nicht besonders gut gelang. Zögernd nahmen sie auf der anderen Seite des Tisches Platz. "A...also ich habe gehört, es sei ein Ritter in der Stadt und... und ich nehme mal an das seid ihr, nicht? Ja, habe ich mir schon gedacht..." Er kicherte nervös. "Ähem, ihr könnt doch sicherlich Geheimnisse für euch behalten? Und es ist ein sehr wichtiges Geheimnis... nein, ich meine, ein sehr wichtiger geheimer Auftrag. Sehr wichtig und sehr geheim, versteht ihr?" Julian nickte, aber Gaya konnte hinter seinem ernsthaften Gesichtsausdruck ein Lachen aufsteigen sehen, das sie selbst auch unterdrückte. 
"Ich werde euch gut bezahlen, wenn ihr das hier heimlich nach Sunaj bringt", fuhr er fort und zeigte ihnen kurz einen weißen Umschlag, den er dann schnell wieder in der Tasche verschwinden ließ. "Ich... ich gebe euch zehn Goldstücke dafür." Dajana wechselte einen ungläubigen Blick mit Gaya. Zehn? Für einen einfache Zustellung? Julian schien genauso überrascht zu sein, auch wenn er es gut verbarg.
"Ihr könntet es für ein paar Silberstücke der Schiffspost geben", sagte er und der Mann winkte ungeduldig ab.
"Denen kann man nicht vertrauen. Ihr aber seid ein Ritter... und wenn ihr mir euer Wort gebt, diesen Brief nicht zu öffnen und dieser Person in Sunaj zuzustellen, dann gebe ich euch das Gold schon jetzt." 
"Wir... wir müssen uns beraten", sagte Julian und winkte Dajana und Gaya mitzukommen. Beim Rausgehen sah Gaya, wie der Mann den Umschlag zärtlich streichelte. 
"Also, was haltet ihr davon?", wurden sie draußen von Julian gefragt.
"Der Typ ist verrückt", sagte Gaya ohne Umschweife.
"Das mag ja sein, aber wenn wir wegen seiner Verrücktheit um zehn Goldstücke reicher werden, ist doch nichts dagegen zu sagen oder?", sagte Dajana. 
"Ja, und ich wollte sowieso zuerst nach Sunaj", sagte Julian.
"Wieso beraten wir uns dann noch?", wollte Dajana wissen. "Nehmen wir das Geld, den Brief und hauen ab! Zehn Goldstücke durch drei sind... sind..." Sie runzelte angestrengt die Stirn. "Na ja, auch egal, jedenfalls ist es sehr viel!" Sie sah die beiden anderen aus flehenden, großen Augen an. Gaya seufzte.
"Gehen wir rein und sagen es dem Kerl."
Der Mann war sehr erfreut, als er erfuhr, zu welchem Entschluss sie gekommen waren. 
"Danke! Danke! Es ist wirklich sehr wichtig! Der Name... der Name der Frau, der ihr das bringen sollt, lautet Sorèndyo. Alay Sorèndyo. Sie wohnt am Rande des unteren Sunaj, in dem großen Palast. Ihr müsst ihr den Brief so schnell wie möglich geben, es geht möglicherweise", er lehnte sich vor, "um Menschenleben." Er nickte mehrmals und gab Julian dann den Umschlag, den dieser vorsichtig in seiner Tasche verstaute, so als ob er gleich explodieren würde. "Das Geld... hier bitte. Zehn Goldstücke. Ah ja, noch etwas, wenn sie fragt von wem der Brief ist, sagt ihr er ist von Azur, klar?" Nachdem sie ihm mehrmals versichert hatten, dass sie alles verstanden hatten und ihm ihr Ehrenwort gegeben hatten, dass sie den Brief mit ihrem Leben verteidigen würden, verließ er den "Müden Gaul", immer wieder beteuernd, wie wichtig und geheim das Ganze sei. Als er endlich raus aus dem Wirtshaus war, lachte Dajana los.
"Das war der seltsamste Typ, dem ich je begegnet bin! Ich wette, dass..." Als sie merkte, dass weder Gaya noch Julian in ihr Lachen einfielen, unterbrach sie sich abrupt und sah sie fragend an. "Was ist los? Ihr macht solche ernsten Gesichter, als sei jemand gestorben!"
"Das kommt daher, dass Alay Sorèndyo die große Zauberin von Sunaj ist, die Meisterin des Lichts", erklärte Julian und starrte den Umschlag mit sichtbarem Widerwillen an.
"Niemand in Sunaj hat je ihren Palast betreten", sagte Gaya und seufzte. "Denkt ihr, wenn wir einfach sagen wir haben einen Brief von Azur, wird sie uns einlassen?" Er zuckte mit den Schultern und fuhr sich durch die Haare.
"Verdammt, ich will nichts mit ihr zu tun haben! Ich mag Magie nicht besonders", gab er zu. "Oh, ich habe nichts gegen solche Magie wie deine, Gaya, aber diese Göttermagien jagen mir einen Schauer über den Rücken!" Gaya legte ihre Hand auf seine.
"Sie wird uns schon nichts tun. Und wenn du willst, können ich und Dajana es übernehmen", sagte sie leichthin und lächelte ihn beruhigend an. Sie merkte, dass er sehr angespannt war und wunderte sich. Er hat wirklich Angst. Wieso?
"Du hast recht. Es ist Blödsinn. Wir werden es gemeinsam machen", sagte er entschieden und wurde wieder zum unerschütterlichen Ritter, aber seine Anspannung blieb. Sie zog ihre Hand zurück und umklammerte fest ihren Stab. Fange ich wirklich an mich in ihn zu verlieben? Nein, er ist gar nicht so mein Typ. Andererseits weiß ich gar nicht, was mein Typ ist und was nicht.
"Ich will ja nicht diese rührende Szene unterbrechen", sagte Dajana ungeduldig. "Aber ich will das Gold sehen!" Gaya musste grinsen und die Spannung verschwand. Julian lachte und holte den Beutel mit den Goldstücken raus.
"Hier hast du dein Gold!" Sie griff nach dem Beutel und ihre Augen glänzten, als würden sie die Münzen reflektieren. 
"Oh. Soviel Gold habe ich noch nie auf einen Haufen gesehen", sagte sie begeistert. Julian und Gaya wechselten erstaunte Blicke. Gaya hatte auch noch nie so viele Münzen auf einmal gesehen - in den Wäldern benutzten sie kein Geld - aber sie blieb ruhig, und Julian war an solche Geldsummen gewöhnt. Sie hatten aber beide nicht bedacht, dass Dajana einer sehr armen Familie entstammte, so dass für sie jedes Silberstück unendlich wertvoll war. Könnte das ein Problem werden?
Als das Mädchen ihr Staunen bemerkte, wurde es bis über die Ohren rot.
"Ich wollte nur mal kurz gucken", murmelte sie und schob die Börse zu Julian. Gaya konnte ihre Gedanken fast hören. Jetzt denken sie bestimmt, ich bin irgend so ein armes Mädchen aus dem Hinterland, dem beim Anblick von Geld die Kinnlade herunterfällt! Sie verschränkte die Arme ineinander und sah sie  - auf ihre typische Art und Weise - herausfordernd an. Gaya beschloss, dass es das Beste war überhaupt nicht zu reagieren und wechselte schnell das Thema.
"Also jetzt können wir doch so richtig einkaufen gehen, oder? Und vergesst die Landkarte nicht!"

Den ganzen restlichen Tag verbrachten sie damit ihre Ausrüstung zu verbessern. Gaya schaffte sich eine leichte Kettenrüstung an, die sie kaum spürte, die im Falle eines Bogenangriffs aber ihr Leben retten konnte. Dajana kaufte sich einen billigen Dolch und Gaya versprach ihr sie im Umgang damit zu schulen, bis sie einen Bogen kaufen konnten. Julian bestand darauf, dass sie ihrem jüngsten Teammitglied Stiefel und neue Kleidung kauften. Obwohl sie sich wehrte, trug Dajana letzten Endes doch noch bequeme Hosen und ein gepolstertes Hemd. Sie schmollte und wechselte kein Wort mehr mit Julian, während er sich neue Handschuhe aussuchte und eine kleine Landkarte erstand. 
In mancher Hinsicht benimmt sie sich noch wie ein Kind! dachte Gaya, als sie Dajana dabei beobachtete, wie sie an den ungewohnten Hosen herumzupfte. 
"Sag mal, Dajana, wie alt bist du eigentlich?", fragte sie.
"Lass mich überlegen - achtzehn, glaube ich. Ja, achtzehn." Gaya nickte. Nur drei Jahre jünger - und was für ein gewaltiger Unterschied! Das muss an meiner strengen Erziehung liegen. Ich habe nie für Geld arbeiten müssen - Julian bestimmt auch nicht. Wir beide wurden fürs Kämpfen aufgezogen. Dajana musste nur überleben. Kein Wunder, dass sie so stur geworden ist.
"He, Leute!", rief Julian schon von weitem und strahlte. "Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe - ich musste ein Weilchen um die Karte feilschen. Aber jetzt können wir los." Dajana stöhnte genervt.
"Sag bloß nicht, schon wieder zu diesem Hügel! Das reicht doch jetzt wirklich! Können wir nicht zur Abwechslung mal in richtigen Betten schlafen?" Anscheinend war ihr Widerwille gegen eine erneute Nacht draußen so groß, dass sie sogar ihr Schweigegelübde Julian gegenüber vergaß.
"Hör zu, es ist sehr wichtig für das ganze Team, dass wir diesen Zauberer finden! Denkst du, wir Drei können ganz Cinhyal  befreien? Wir brauchen starke Kämpfer, erfahrene Krieger, wir brauchen-"
"Männer?", schlug Dajana trocken vor. 
"Na ja, nicht unbedingt...", sagte er verlegen, aber beide Frauen wussten, was er meinte. Warum erinnert mich das bloß an meinen Vater...?
"Sag es ruhig, Herr Ritter. 'Männer sind besser fürs Kämpfen geeignet', das denkst du, nicht wahr?", fragte Gaya, gutmütig lächelnd. "Du kommst dir bescheuert vor, mit einer Gruppe aus dir und zwei Frauen auf Abenteuersuche zu gehen. Du willst männliche Unterstützung, damit du etwas hast, worauf du dich verlassen kannst, weil du auf unsere Kraft nicht vertraust. Du denkst, wir würden ängstlich davonlaufen, sobald es nur das leiseste Anzeichen einer Gefahr gibt und wenn du statt uns zwei starke Männer haben könntest, würdest du ohne zu zögern tauschen. Leugne nicht ab, ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht! Das ist allgemein als männliche Vorurteile bekannt oder noch besser - als männliche Arroganz. Keine Sorge, das werden wir dir noch abgewöhnen, nicht, Dajana?" Immer noch mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht schritt sie an ihm vorbei und übernahm die Führung. Dajana holte auf.
"Gut gemacht", sagte sie leise. "Das musste er einmal gesagt bekommen."
"Ich bin gut in so etwas", grinste Gaya und wurde schnell wieder ernst. "Er ist nicht schlecht, er wurde bloß so erzogen wie alle Männer. Aber Julian hat noch eine Chance sich zu bessern. Und ich helfe ihm dabei."
Julian holte sie nach einer Weile auch ein. Er hatte einen verschlossenen Gesichtsausdruck und Gaya bekam fast Mitleid mit ihm. Es ist sein Stolz, mit dem er zu kämpfen hat. Das kann ein sehr hartnäckiger Gegner sein.
"Wohin gehen wir?", fragte er brüsk, als Gaya ihre Schritte wendete.
"Zur Quelle", antwortete sie einsilbig.
"Wieso denn das?"
"Weil ich mir Gedanken gemacht habe. Dieser Zauberer war bestimmt schon bei der Quelle, bei den ganzen Gerüchten, die in der Stadt umhergehen. Und statt nächtelang bei den Hügeln zu verrotten, spüren wir ihn bei der Quelle auf, wo er sich wenigstens nicht vor uns verstecken kann."
"Hört sich logisch an." 
"Sag ich doch." Erleichtert sah sie, dass er lächelte. Sie hatte schon befürchtet, er wäre jetzt für immer eingeschnappt.
Die Höhle des Zauberquells war unverändert. Es erschien Gaya zwar fast als Gotteslästerung, aber die Drei machten es sich auf dem wogenden Boden, in einer Ecke der Höhle, gemütlich. Sie brauchten nicht einmal ein Feuer anzumachen, schließlich war die ganze Höhle beschienen wie das Innere eines Juwels.
"Ich will verdammt sein, wenn ich es schaffe hier einzuschlafen", murmelte Dajana, aber die Wände verstärkten ihre Worte als Echo und sie zuckte zusammen. "Mein Gott, ist das unheimlich!" Gaya war ganz ihrer Meinung und hütete sich ein Geräusch zu machen. 
"Ich nehme an, wir bleiben sowieso alle wach, aber wir sollten trotzdem die Wachen festlegen", sagte Julian. 
"Wachen festlegen. Wachen festlegen, Wachen...", echoten die Wände.
"Zuerst Dajana, dann ich und als letzte Gaya." Er ignorierte den Widerhall, bei dem es Gaya kalt den Rücken runter lief. Sie erinnerte sich an seine Worte. 'Mir ist es hier irgendwie nicht geheuer', hatte er gesagt als sie beim ersten Mal hier waren. Nun, jetzt geht es mir auch so!
"Ich kann nicht versprechen, dass ich schlafen werde, aber ich bleibe garantiert wach", versicherte Dajana mit einem schiefen Grinsen.
"Na, mehr können wir von einer Wache wohl nicht verlangen!" Gaya klopfte dem Mädchen aufmunternd auf die Schulter. "Wenn’s zu unheimlich wird, weck mich auf." Sie nickte dankbar. Gaya legte sich auf den eigenartig warmen Boden und merkte am Klappern von Julians Rüstung, dass er sich in ihrer Nähe niederließ. Wird es nicht unbequem so zu schlafen...? dachte sie am Rande und war schon eingeschlafen.

Jemand rüttelte an ihrer Schulter. Gaya ächzte protestierend, erinnerte sich dann, wo sie waren und richtete sich schnell auf.
"Was ist los?", zischte sie Dajana zu. Das Mädchen sah sie mit großen Augen an.
"Jemand kommt runter. Weck Julian." Sie nickte und krabbelte zu dem Ritter rüber. Ihr Herz schlug schnell vor Aufregung. War es der lange gesuchte Feuerzauberer? Wenn ja - wie würde er reagieren, wenn er sah, dass sie hier waren? Würden sie kämpfen müssen?
"Julian! Julian!" Sie stieß ihn mehrmals an, bis er endlich die Augen öffnete und sie müde ansah. 
"Waaaas?", gähnte er.
"Dajana sagt, jemand kommt her." Er war sofort wach und griff nach seinem Schwert.
"Still." Gaya hielt den Atem an. Jetzt hörte sie es auch: leise Schritte von oben. Jemand kam die Treppe herunter. Das grüne, funkelnde Licht war einem trüben Dämmerlicht gewichen, so dass die Drei nicht gleich auf den ersten Blick zu sehen waren, jedoch eine gute Sicht auf die Treppe hatten. Gaya verdeckte den Kristall an ihrem Stab, damit er sie mit seinem grünen Leuchten nicht verriet und konzentrierte sich auf die Treppe. Die Geräusche waren jetzt ganz nah, dazu das flackernde Licht einer Fackel und ein verzerrter Schatten auf der Wand. Die Spannung in der Luft war fast ergreifbar und Gaya hörte die Schritte überdeutlich, zusammen mit dem Schlagen ihres Herzens. Die Gestalt eines Mannes erschien am Eingang zur Höhle und im Licht zeichnete sich deutlich sein Gesicht ab.
Es war Cycil.
Gaya spürte die Verblüffung der anderen Beiden genauso stark wie ihre eigene. Cycil, hier?
Vielleicht hatte einer von ihnen einen Laut ausgestoßen, vielleicht sich bewegt oder vielleicht war es ein sechster Sinn, jedenfalls hatte Cycil kaum den Boden der Höhle betreten, als sich sein Blick ihnen zuwandte. Überraschung erschien kurz auf seinem Gesicht, dann verschwand sie spurlos und sein Gesicht wurde ausdruckslos.
"Hallo. Ihr seid das ja wieder", sagte er. Julian steckte das Schwert zurück.
"Hey. Was machst du hier, Cycil?", fragte er misstrauisch. Der andere zuckte mit den Schultern.
"Den Vorrat auffüllen, was denn sonst. Und ihr? Ich meine - ich sehe ja, dass ihr hier ganz offensichtlich übernachtet, deswegen frage ich eher, warum übernachtet ihr hier?" Seine Stimme klang irgendwie seltsam, fand Gaya. Lag das nur an der Akustik in der Höhle?
"Wir warten auf jemanden", antwortete Julian, ohne es näher zu erklären. Cycil sah ihn einen 
Augenblick stumm an, dann zuckte er mit den Schultern und ging zur Quelle rüber. Die Drei 
beobachteten bewegungslos, wie er zwei Flaschen mit dem Wasser auffüllte.
"Ich wusste nicht, dass du Magie hast", sagte Gaya schließlich.
"Es gibt vieles, was ihr über mich nicht wisst", erwiderte er ruhig.
"Wieso kommst du nicht tagsüber her?"
"Woher wollt ihr wissen, dass ich das nicht tue?" Er stöpselte die Flaschen zu und verstaute sie 
vorsichtig in seiner Tasche. Sein Blick streifte sie alle noch mal, dann ging er wieder an ihnen vorbei. 
Und plötzlich wusste Gaya es.
"Viel Spaß noch beim Warten", sagte er und hatte einen Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als Gaya ihn rief.
"Cycil." Er erstarrte. "Wieso hast du es den Bürgern gesagt?" 
Langsam drehte er sich wieder um, die Hand mit der Fackel gesenkt, so dass die huschenden Schatten sein Gesicht verschleierten. Stille legte sich über die Höhle, wie eine Decke.
"Weil sie das Recht hatten, es zu erfahren", antwortete er schließlich tonlos. Julian, der hinter Gaya stand, begriff mit einem Mal, was das bedeutete.
"Du... du hast ihnen gesagt, dass es hier eine geheime Zauberquelle gibt!", rief er fassungslos. "Du warst das! Das gibt es doch nicht! Dafür gehörst du für zehn Jahre ins Verlies!" Ein schmerzlicher Ausdruck lief wie ein weiterer Schatten über Cycils Gesicht.
"Sie hatten das Recht, es zu erfahren", wiederholte er stur. "Es ist ihre Stadt."
"Du hast damit die Antellis-Hexer auf sie gehetzt, ist dir das eigentlich bewusst?!"
"Mehr als du es dir vorstellen kannst. Aber irgendwann hätten es die Hexer sowieso herausgefunden und die Stadt angegriffen. Jetzt wissen die Bürger wenigstens, worum sie kämpfen. Also ich finde das fairer." Julian schüttelte den Kopf.
"Es geht hier nicht um Fairness, sondern ums Überleben! Die Hexer sind zu viele, sie werden die Stadt niederbrennen!"
"Frederique wird ihnen helfen." Er lächelte bitter. "Er bringt es zwar so weit, die Steuern bis ins unermessliche zu steigern und zuzusehen wie die Leute verhungern, aber er wird es nicht zulassen, dass jemand seine Stadt zerstört. Nicht wenn er keinen Nutzen davon hat." Im wechselnden Licht wirkte sein Gesicht wie in Marmor eingraviert.
"Aber... aber die Bürger wissen nicht, dass es diese Quelle gibt. Sie hören Gerüchte darüber, das ist alles. Was nützt es ihnen also?", fragte Dajana unerwartet. Ihr fordernder Blick traf auf Stein in seinen Augen.
"Die Gerüchte mehren sich und gewinnen an Glaubhaftigkeit. Und wenn auch der letzte Skeptiker endlich eingesehen hat, dass es die Zauberquelle gibt, kann ich endlich aus N’hoa verschwinden." Er klang schrecklich resigniert und müde. Sein Gesicht war fahl wie der Tod, und die blauen Augen waren das einzige, das zu leben schien. Hart, entschlossen, unaufhaltsam. Wo war der junge Mann von dem Kräuterladen hin, der ihnen so viel über die Tränke erzählt und Dajana gemieden hatte? Gaya wusste es nicht, aber dieser plötzlicher Wandel machte ihr Angst. Es war als ob hinter Cycil ein ganz anderer Mann zum Vorschein gekommen war.
"Dir haben es die Bürger von N’hoa also zu verdanken, dass sie ständig um ihr Leben fürchten müssen?", sagte Julian und seine hellen, blauen Augen glitzerten gefährlich. "Du hattest kein Recht dazu es zu entscheiden!" Gaya bemerkte, dass seine Hand am Schwertknauf lag. Ich muss etwas unternehmen, sonst bringt er Cycil um! Aber sie konnte sich nicht bewegen, nichts sagen, widerwillig gebannt von dieser unheimlichen Szene. Alles schien zu unwirklich, so weit entfernt...
"Du auch nicht", erwiderte Cycil mit dieser verdammten Ruhe. War er überhaupt noch ein Mensch? Julian schien es zu reichen. Er zog sein Schwert - Gaya hörte einen hellen Ton, als es aus der Scheide glitt - und nahm es entschlossen in die Hand.
"Kämpfe, Cycil, und wir werden sehen, wer das Recht auf seiner Seite hat!" Cycil machte eine schwache Abwehrbewegung mit der Hand.
"Ich will nicht kämpfen. Das beweist gar nichts. Schau dir nur den Thron an – bloß weil Frederique eine ganze Armee auf seiner Seite hat, kann er regieren! Heißt das, er ist ein besserer Herrscher als Òdrean? Nein." Gaya fiel auf, wie hasserfüllt seine Stimme klang, als er Frederiques Namen aussprach.
"Heißt das, du kannst nur unschuldige Menschen in den Tod stürzen und nicht kämpfen?" Julians Stimme klang spöttisch.
"Ich habe niemanden in den Tod gestürzt!" rief Cycil und die Gleichmut fiel von ihm ab. Seine Augen flammten.
"Dann beweise es!", rief der Ritter und stieß mit dem Schwert - eher spielerisch als wirklich angreifend - in seine Richtung. Cycil hob die Hand und das Schwert prallte an einer hauchdünnen Barriere ab, die sich vor ihm gebildet hatte.
"Magie! Und du sprichst von Fairness!", knurrte Julian. Cycil sah ihn kalt an.
"Ist es denn fair, dass ein ausgebildeter Ritter gegen einen... Bürger kämpft, der nicht einmal bewaffnet ist?" Gaya spürte eine unbestimmte Autorität von ihm ausgehen, eine von der Art, bei der man sich am liebsten auf die Knie werfen und ewige Treue schwören würde. 
"Jedenfalls fairer, als wenn man hundert Hexer gegen eine ahnungslose Stadt loslässt!" entgegnete Julian, aber sie fühlte ein Zögern bei ihm. Spürte er diese Macht auch?
"Zum letzten Mal: Ich habe niemanden auf die Stadt losgelassen!" schrie Cycil wütend. Wieso hatte Gaya nur das Gefühl, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde? Julian starrte ihm ebenso aufgebracht entgegen und seine Muskeln spannten sich zum nächsten Angriff.
"Das reicht!" fuhr Dajana dazwischen. Gaya konnte sich wieder bewegen, als hätte die Stimme des Mädchens einen unsichtbaren Bann gebrochen, und Julian ließ verunsichert die Klinge sinken. Die Wand um Cycil verschwand so plötzlich wie sie erschienen war und er senkte die Hand. Er zitterte am ganzen Körper. 
"Ach, lasst mich doch einfach alle in Ruhe", sagte er leise und stürmte die Treppe hoch. Die Flaschen in seinem Beutel klirrten zum Abschied.

Die Drei sprachen nicht mehr. Dajana hatte sich als erste wortlos hingelegt, aber Gaya wusste, dass sie nicht schlief. Das tat keiner von ihnen in dieser Nacht. Der Feuerzauberer tauchte wieder nicht auf.

Ungewöhnlich schweigsam entfernten sie sich am nächsten Morgen von der Quelle. Gaya wusste nicht, worüber die anderen nachdachten, aber sie persönlich überlegte, ob es wohl möglich wäre, Cycil in ihr Team aufzunehmen.
Er hat Magie, wahrscheinlich Wasser oder vielleicht Luft. Er kennt sich mit Kräutern und Tränken aus - er kann sie sogar selbst herstellen. Er ist anscheinend kein Feigling und auch wenn er keine Kampferfahrung hat - Dajana hat sie auch nicht. Ich weiß nicht, aber ich denke, er hätte auch nichts dagegen mitzukommen, wo ich doch gerade Dajana erwähne! Das Problem ist - ich fürchte Julian kann ihn nicht ausstehen. Na gut, diese Sache mit der Quelle hat Cycil wirklich ziemlich vermasselt, aber seine Argumente sind auch nicht so schlecht. Je mehr wir sind, desto stärker sind wir doch, oder? Sie blickte zu Julian, aber der Ritter wirkte wieder verschlossen und in seinen Augen konnte sie nichts lesen. Dajana spielte - wahrscheinlich unbewusst - mit ihrem neuen Dolch und ihr Mund kräuselte sich leicht. Verdammt, wir kennen uns alle so gut wie gar nicht! Julian mit seiner Geheimtuerei und Dajana mit ihrer Halsstarrigkeit! Wie soll mit ihnen vernünftig reden, wenn ich bei jedem Wort aufpassen muss, dass ich sie nicht beleidige? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, blieb Julian plötzlich stehen und runzelte die Stirn.
"Ich weiß wirklich nicht, was ihr davon haltet, aber ich bin der Meinung, dass wir diesen Cycil überreden sollten, bei uns einzusteigen", sagte er und Gaya konnte gerade noch einen überraschten Ausruf unterdrücken. Soviel zu dem angeblichen Problem.
"Ja, das denke ich auch", stimmte Dajana zu. "Wie viele kampffähige Leute haben wir in N’hoa schon gesehen? Und zu viert würde es sicherlich leichter und schneller gehen, das zu tun, was auch immer wir tun werden." Die Beiden wandten sich Gaya zu, als ob sie erwarteten, dass sie widersprechen würde, aber sie war zu sehr damit beschäftigt nicht loszulachen.
"Leute, wir haben viel mehr gemeinsam, als ich erwartet habe!", sagte sie schließlich, breit lächelnd. "Was tun wir dann hier noch? Ich finde wir sollten diese Sache noch vor dem Frühstuck geklärt haben." 
Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war Cycils Reaktion.

Als sie den Laden betraten, saß Ella auf einem alten, klapprigen Stuhl in der Ecke und las ein zerfleddertes Buch. Beim Geräusch ihrer Schritte sah sie auf.
"Hallo! Kommt ihr eure Tränke abholen? Aber, soweit ich weiß, sollten sie erst morgen fertig sein, nicht?"
"Nein, wir wollten mit Cycil sprechen. Könnten sie ihn rufen?", fragte Dajana freundlich. Ella blickte die Drei fragend an.
"Cycil? Ich weiß nicht. Vielleicht ist er ja schon weg. Guckt mal hinten nach, kann sein, dass er noch packt." Dann wandte sie sich wieder seelenruhig ihrem Buch zu. Julian zuckte mit den Schultern und sie gingen in den Nebenraum. Er war fast genauso groß wie der Hauptraum und voll gestopft mit Kräutern und Flaschen. Der trockene Geruch war hier noch stärker und es war noch ein anderer vorhanden, ein überaus scharfer, fremdartiger Geruch, der Gaya Tränen in die Augen trieb. Es gab nur ein schmales Fenster, das aber genug Licht durchließ, um die heillose Unordnung zu erkennen. Dajana trat auf eine angeschwollene Pflanze, die daraufhin platzte und eine überriechende, rote Flüssigkeit preis gab. Das Mädchen brachte die neuen Stiefel hastig in Sicherheit und fluchte leise. Gaya hörte ein Blubbern und als sie vorsichtig einen Schrank umrundete, sah sie Cycil. Er hockte auf einem wackligen Stuhl und beobachtete mit konzentrierter Miene, wie ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit darin auf einem kleinen Feuer brodelte. Es spuckte lila Funken und war die Quelle für den unangenehmen Geruch. Er rührte die Flüssigkeit um, ohne dazu einen Löffel zu benutzen - er bewegte ein wenig seine Hand und die Lösung bewegte sich mit ihr. Gaya sah es fasziniert. Das war Wassermagie der höchsten Art! 
Er blickte nicht auf, als sie näher kamen, aber sie wusste, dass ihm ihre Anwesenheit bewusst war. Aus einem kleinen Beutel nahm er eine Brise Pulver und mischte sie zu dem Trank, der sich daraufhin leuchtend gelb verfärbte. Noch ein, zweimal rühren und dann machte er die Flamme aus. 
"Das ist dieser Trank für die Panzerhaut", sagte er endlich und gab ihn Gaya. "Die anderen kriege ich wohl nicht fertig, aber ihr könnt Ella darum bitten, vielleicht würde sie es ja bis morgen schaffen." Er stand auf und griff nach einer mittelgroßen Tasche, die auf dem Boden lag. Etwas raschelte da drin, aber er ignorierte das Geräusch.
"Du gehst weg?", fragte Gaya und tat so, als würde sie nicht bemerken, dass sie den Weg versperrte.
"Ja. Diese Stadt reicht mir. Sollen die ihre eigenen Probleme doch selbst lösen", sagte er und sah sie ungeduldig an. "Würdest du mich bitte durchlassen? Sonst verpasse ich noch mein Schiff."
"Wir müssen mit dir reden", sagte Julian eindringlich. 
"Keine Zeit. Was habe ich heute Nacht gesagt? Lasst mich doch einfach in Ruhe." Er machte Anstalten sich an ihnen vorbei zu drängen, aber Julian ergriff seine Hand und hielt ihn fest.
"Hör zu, es ist echt wichtig. Du kannst doch wohl eine Minute länger hier bleiben oder?!" Cycil begegnete dem Blick des Ritters furchtlos und riss seine Hand los. 
"Was?" fragte er gereizt. Gaya dachte gar nicht daran, es ihm vorzuschlagen. Es ist doch Julians Truppe, also soll er es gefälligst übernehmen! Als Julian begriff, dass es wohl an ihm lag, mit Cycil zu reden, ergab er sich in dieses Schicksal und fing an, Cycil von seiner Idee zu erzählen.
"Nein", unterbrach ihn Cycil. Julian sah ihn verwirrt an.
"Du hast mich nicht zu Ende angehört."
"Ich weiß was du mir vorschlagen willst. Und ich sage gleich nein. Ich denke gar nicht daran bei irgend so einer Gruppe mitzumachen, die ernsthaft vorhat Cinhyal von allen Monstern zu befreien! Kann ich jetzt durch?"
"Einen Moment noch!" Dajana stellte sich dazwischen. "Wieso nicht?" Unter ihrem Blick schien er weicher zu werden.
"Weil das Irrsinn ist. Es ist unmöglich. Man kann nicht einfach diese ganzen Horden ausrotten, das ist als würdest du den Sand aus der Faynea-Wüste rausschaffen wollen! Man muss Bündnisse mit ihnen schließen, sie nicht vertreiben. Schließlich haben sie eine ganz andere Kultur und wer sagt, dass sie nicht das Recht haben in Cinhyal zu leben? Wir Menschen haben das Land doch nicht gekauft!" Ich muss zugeben, dass sich das sogar ein bisschen vernünftig anhört, dachte Gaya beunruhigt.
"Aber es ist doch ungerecht, wenn unsere Städte von Kreaturen angegriffen werden, gegen die sich die Bürger nicht wehren können! Jemand muss dieses Morden doch verhindern!", sagte Dajana aufgebracht. Er seufzte.
"Das muss der König tun. Da wir jedoch diesen Ausbeuter Frederique als Herrscher bekommen haben, bezweifle ich, dass sich da in absehbarer Zukunft etwas ändert."
"Du sagst es! Deswegen müssen wir es tun", fiel Julian ein. Cycil schüttelte den Kopf.
"Ihr könnt es tun und ich wünsche euch viel Glück dabei. Aber ich halte mich da raus. Ich gehe nach Beneth und mache meinen Kräuterladen auf." 
"Ist dir denn das Schicksal der Menschen in Cinhyal egal?!", wollte Julian verärgert wissen und Gaya 
seufzte innerlich. Das lief auf das gleiche raus, wie bei der Zauberquelle!
"Nein", sagte Cycil scharf. Gaya befürchtete, dass die beiden sich wieder an die Kehle gehen würden und schaltete sich ein.
"Nicht aufregen, Leute! Cycil, es ist ja in Ordnung, dass du eher ruhig leben willst, aber wenn dir die Menschen nicht gleichgültig sind, wieso hilfst du ihnen dann nicht?"
"Das ist meine Sache", sagte er, aber aus irgendeinem Grund war die Wut in seiner Stimme verschwunden. Er schaute jetzt ganz ruhig, sogar ein wenig traurig, wie Gaya bemerkte. Zum ersten Mal wirkte er nicht mehr so unnahbar, sondern lebendig... menschlich. Keine Statue aus Stein. 
Es war merkwürdig, aber sie hatte vor diesem Augenblick gar nicht so richtig wahrgenommen, wie er aussah, vielleicht weil er so fern gewirkt hatte, und so unwichtig. Einfach ein Mensch am Rande ihres Lebens. Jetzt bemerkte sie jedoch, dass er ungefähr in ihrem Alter war, aber durchaus älter wirken konnte. Er hatte schwarzes, lockiges Haar und dunkle Haut. Seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten und hatten etwas von einem Raubvogel, einem Adler oder Falken. Diese Wirkung wurde durch seine Augen gemildert, unergründlich blau und doch seltsam offen, mit dichten, dunklen Wimpern und einem samtigen Schimmer in der Pupille. Er lag etwas wechselhaftes in seinem Gesicht, wie strömendes Wasser schien es sich verändern zu können und immer wieder eine neue Gestalt anzunehmen. Gaya wunderte sich kurz, wie so etwas sein konnte – gleichzeitig so kalt und verletzlich auszusehen. Und doch... trotz dieses markanten Äußeren war er nicht auffällig, unterschied er sich nicht von irgendwelchen beliebigen Bürgern N’hoas. Mehr noch, sie war sich plötzlich absolut sicher, dass wenn nicht dieses Erlebnis an der Quelle gewesen wäre, sie ihn in der Menge nicht wiedererkannt hätte. 
So plötzlich diese Klarsicht über Gaya gekommen war, so jäh verschwand sie auch. Cycil stand aufbruchbereit vor ihnen, ungeduldig und verschlossen. Julian sagte gerade wieder etwas um ihn zum Bleiben zu überreden, aber Gaya hörte nicht richtig hin. Es war wieder weg, dieses tiefe Sehen, aber sie spürte seine Auswirkungen noch. Göttin... Mit einmal war Gaya sich sicher, dass es etwas war, was ihr von der Großen gesandt worden war. Aber wozu? 
"Das reicht jetzt aber. Es ist doch meine freie Entscheidung, was ich tue, also lasst mich endlich durch!" Cycil klang wieder ärgerlich und Julian sah wohl ein, dass es stimmte, was er sagte, denn mit einem angedeuteten Kopfschütteln trat er zur Seite und ließ Cycil vorbei. "Danke!" sagte dieser und eilte aus dem Laden, leise vor sich hin fluchend. Und mit einem erneuten kurzen Anflug von Weitblick wusste Gaya, dass er nicht gehen durfte. Sie brauchten ihn, aus welchen Grund auch immer. Es ist zu spät, verdammt noch mal! Jetzt lässt sich ja noch so viel ausrichten! Zufällig fiel ihr Blick auf Dajana, die ihren Stiefel gründlich an dem alten Teppich abwischte, und eine neue Idee kam ihr. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 2. Teil des 2. Kapitels :-)

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