Das Schiff, Wintermond, war das gleiche, das
Gaya nach N’hoa gebracht hatte. Cycil stand am Schiffsdeck und lehnte sich
gegen die Reling. Der Wind frischte auf und die Segel waren bereits fast
alle gesetzt. Nicht mehr lange, dann würde Wintermond in See stechen.
Das blaue Wogen der unruhigen Wellen erinnerte an das Meer. Leichter Nebel
hing über den stillen Hängen des Celine-Waldes und der Wind schaffte
es nicht, die Spitzen der ewiggrünen Bäume zum Schaukeln zu bringen.
Die rauen Rufe der Seeleute überlagerten sich mit dem Dröhnen
der Brandung. Von einem unverständlichen Kummer erfüllt, ließ
Cycil das Wasser sich kräuseln und einen kleinen Strudel dicht am
Rumpf des Schiffes bilden. Plötzlich hörte er etwas, das nicht
in die ruhige Atmosphäre passen wollte: den Ruf einer bekannten Stimme,
den Klang seines Namens. Er drehte sich überrascht um. Dajana blieb
stehen und atmete tief durch. Er sah ihr an, dass sie gelaufen sein musste.
"Hey. Was machst du hier?", fragte er sie
vom Deck her. Sie sah zu ihm hoch, ihre grünen Augen funkelten schelmisch.
"Ich gehe nur spazieren! Besser gesagt ich
laufe spazieren." Sie lachte. "Was denkst du denn, was ich tue? Dich suchen
natürlich!" Sein Herz verkrampfte sich. Da hatte er sich schon von
allem verabschiedet und dieses Mädchen kam angerannt und brachte all
seine Standhaftigkeit durcheinander. Dabei kannte er nicht mal ihren Namen!
Für kurze Zeit war er sogar ärgerlich auf sie - aber diese Zeit
war sehr, sehr kurz.
"Nun, hier bin ich. Also?" Sie bedeckte mit
einer Hand ihre Augen vor der Sonne.
"Also. Eigentlich wollte ich mich für
unser Benehmen entschuldigen. Erst beschuldigt dich Julian, dann greift
er dich an und wir versuchen auch noch dir vorzuschreiben was du zu tun
hast! Du musst ja denken, das Wort Höflichkeit sei uns fremd. Es war
wirklich nicht fair. Deswegen... deswegen wollte ich mich nur noch mal
entschuldigen, bevor du verschwindest." Er konnte ihr Gesicht nicht lesen,
wenn sie es so verdeckte, aber ihr Tonfall klang ehrlich. Und das heiterte
ihn auf.
"Keine Sorge, ich bin nicht sauer!", sagte
er und stellte fest, dass er es tatsächlich nicht war. "Jeder Mensch
hat die Freiheit, das zu tun, was er will." Wenn man ihn lässt.
Die bitteren Gedanken schob er möglichst weit von sich. Sie wollte
noch etwas sagen, das merkte er ihr an.
"Ähm. Das mag sich jetzt zwar verquer
anhören, aber falls... falls dir mal Beneth zu langweilig wird, bist
du jederzeit bei uns willkommen. Wir würden uns freuen." Er konnte
nichts dafür, dass ihm bei ihren Worten ganz warm wurde, das hatte
er nun wirklich nicht unter Kontrolle. Ganz plötzlich war er froh,
dass sie durch die Sonne ebenso wenig sein Gesicht sehen konnte, wie er
ihrs, sonst hätte sie die Röte vielleicht noch als etwas ausgelegt,
was er nicht wollte.
"Ich... Danke. Ich werde es mir überlegen,
falls es schief gehen sollte. Ich wünsche euch viel Glück."
"Ich dir auch. Bei deinem Kräuterladen",
sagte sie und nahm die Hand doch noch weg, so dass er ihr ernstes Gesicht
noch einmal sah. Ihre goldenen Haare wehten ihr ins Gesicht und sie verzog
den Mund, versuchte gleichzeitig seinen Blick nicht zu verlieren und die
lästigen Haarsträhnen zu verscheuchen. Cycil verspürte plötzlich
den völlig irrationalen Impuls alle seine Pläne und Bedenken
über den Haufen zu werfen und ihr bis ans Ende der Welt zu folgen.
Verrückt.
Das war es in der Tat. Als er bemerkte, dass sie unter den Wasserspritzern
ganz nass wurde, ließ er sie an ihr zurückspringen und die Wellen
scheuchte er ein wenig zurück, damit ihre Stiefel nicht feucht wurden.
Als ihr das auffiel, lächelte sie ihn dankbar an, auf eine Weise,
die ihn fast zum Herzstillstand verleitet hätte.
"Dann... bis irgendwann", sagte sie schließlich.
Cycil konnte das nicht mehr aushalten. Er hätte sich in dem Moment
lieber umgebracht, als sie so auf dem Land zurückzulassen, alleine
und so wehrlos. Obwohl ihm sein Verstrand ganz klar sagte, dass sie ganz
sicher nicht allein oder wehrlos war, hatten derzeit die Gefühle die
Oberhand und die ließen sich nicht mit Logik zurückdrängen.
Cycil seufzte innerlich, als er merkte, dass sich die unweigerlichen Worte
den Weg raus bahnten. Das ist doch einfach nicht zu glauben!, dachte
er resigniert und hörte sich selbst machtlos zu.
"Weißt du, ich habe es mir doch noch
anders überlegt. Einen Laden aufmachen kann ich auch später,
aber wann kriegt man schon die Gelegenheit bei so einer selbstmörderischen
Mission mitzumachen?", rief er. Sie strahlte.
"Wirklich? Du kommst mit? Das ist ja toll!"
Über die Freude in ihrer Stimme schüttelte der eine Teil Cycils
schwermütig den Kopf und der andere wollte am liebsten auf der Stelle
hüpfen.
Er erklärte dem Kapitän, dass es
doch noch eine Planänderung gab und bekam sein Gold zurück. Immer
noch fassungslos darüber, was er da gerade tat, ging er über
den Steg und auf sie zu. Sie lächelte ihn an.
"Du wirst schon sehen, es wird klasse! Du
wirst es nicht bereuen, Cycil!" Seine Laune konnte wieder nicht anders
als sich zu heben, und er lächelte zurück.
"Ganz bestimmt nicht." Das Schiff brach hinter
ihnen auf und mit ihm Cycils ganze Hoffnung auf so etwas wie eine normale
Zukunft.
Dajana betrachtete ihn eingehend und wunderte
sich insgeheim. Gaya hatte tatsächlich recht gehabt. Er war doch noch
mitgekommen. Aber die Frage, die sie sich stellte, war: Wieso?
Gaya war erleichtert, als sie sah, dass ihr
Plan von Erfolg gekrönt war, aber andererseits gefiel es ihr nicht
so recht. Schließlich hatte er es ja nicht gewollt! Was für
ein Recht hatte sie, ihn - indirekt -
dazu zu zwingen? Julian schien von solchen
moralischen Zweifeln nicht geplagt zu werden. Er machte einen bewusst unschuldigen
Eindruck und "wunderte" sich, als er Dajana mit Cycil ankommen sah.
"Cycil? Läuft dein Schiff nicht ab?"
"Ist schon weg." Cycil machte eine wegwerfende
Geste. "Ich denke, ich hätte doch noch nichts
dagegen, bei eurer selbstmörderischen
Aktion mitzumachen. Schließlich lebt man nur einmal." Täuschte
Gaya sich oder hörte sie Töne der Resignation in seiner Stimme?
"Das ist gut", sagte Julian und reichte ihm
die Hand. "Dann willkommen an Bord." Cycil schüttelte die Hand des
Ritters kräftig.
"Danke. Aber ich weiß immer noch nicht
wie ihr alle eigentlich heißt."
"Stimmt. Habe ich ja ganz vergessen. Ich heiße
Julian Drewen, das sind Gaya Asearien und Dajana Stromsyard." Cycil nickte.
"Ich bin Cycil Whynneyar." Das folgende verlegene
Schweigen, wurde von Dajana unterbrochen.
"Ist ja alles schön und gut und ich will
nicht die Stimmung kaputt machen, aber ich muss euch leider wieder daran
erinnern, dass es Zeit fürs Frühstück ist!" Gaya
und Julian lachten.
"Tut mir leid, Dajana! Das nächste Mal
erinnere ich mich ganz bestimmt daran!" sagte Julian grinsend. "Dann lasst
uns wieder mal den Gaul besuchen!"
Das Frühstuck verlief ruhiger als sonst.
Die Drei erzählten Cycil davon, wie sie sich kennen gelernt hatten,
über ihre Pläne und schließlich auch über den Brief
von Azur. Cycil sah überrascht auf.
"Alay Sorèndyo? Die Alay Sorèndyo?
Ist ja ein Ding. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand sich überhaupt
traut ihren Namen öffentlich auszusprechen", sagte er.
"Woher kennst du sie denn? Warst du in Sunaj?",
fragte Gaya neugierig.
"Kurz. Auf Durchreise sozusagen. Das war noch
vor dem Machtwechsel."
"Wo kommst du eigentlich her?"
"Ich bin in Jera geboren. Das ist östlich
von hier, am Ozean der Kälte", antwortete er und trank das Wasser
aus. Dajana seufzte.
"Alle scheinen von der Welt mehr zu wissen
als ich! Hol mal die Karte raus, Julian. Ich möchte wissen, wo dieses
Jera liegt." Belustigt gab ihr Julian die neu gekaufte Karte. Sie war nicht
besonders groß, dafür aber farbig und es waren alle drei Inseln
von Cinhyal und noch ein Stück von Accipa angezeichnet.
"Hier sind wir. Östlich... Ist das links
oder rechts? Links? Ah, da ist ja Jera. Und das sind die Kraterberge...
Was ist höher - das Hochgebirge oder die Kraterberge?"
"Das Hochgebirge. Deshalb heißt es ja
Hochgebirge
von Royala." Dajana blitzte kurz zu Julian rüber.
"Entschuldigung, aber nicht jeder erhält
eben eine Ritterausbildung! Woher soll ich denn wissen, dass es nicht Hochgebirge
heißt, weil es höher als dieses Tal da ist?" Julian kicherte.
"Daher, dass ein Gebirge immer höher
ist als ein Tal." Verärgert warf sie ihm die zusammengerollte
Karte treffsicher an den Kopf.
"Du bist heute so witzig, Julian!"
"Danke! Was ist heute nur los mit dir, Dajana?
Bist du krank oder so etwas? Normalerweise stehen Komplimente doch nicht
auf deiner Speisekarte." Sie schnaubte empört.
"Wenn du denkst das war ein Kompliment, dann
bist du hier der Kranke!" Gaya lächelte mild.
"Das geht jeden Tag so", sagte sie Cycil,
der sich aus den Unterhaltungen raushielt. "Ich habe mal versucht sie zur
Ruhe zu zwingen, aber sie sind beide zu sturköpfig um auf weisere
Leute zu hören."
"Scheint ja echt lustig bei euch zu sein",
erwiderte er und lächelte leicht.
So in dem Sinne verlief auch der Vormittag.
Die Vier ließen sich auf einer gemütlichen Bank in der Nähe
eines Wasserfalls nieder und Gaya fing mit Julian eine unbekümmerte
Diskussion über Anwendung von Magie an, bei der er die Meinung vertrat
es sei unfair Magie im Kampf zu benutzen, solange der Gegner sie nicht
ebenfalls nutzen kann. Cycil hörte interessiert zu und steuerte von
Zeit zu Zeit auch seine Meinung bei. Dajana erkundete währenddessen
die Karte. Die Sonne hatte den Höhepunkt schon überschritten
und begann mit großen Schritten den Nachmittag zu durchlaufen, als
Cycil plötzlich mitten in einem Satz inne hielt und lauschte.
"Hört ihr das?", fragte er sie angespannt.
Gaya horchte und vernahm nach einer Weile der Stille so etwas wie leise
Knalllaute aus der Ferne.
"Was ist das?", fragte Dajana und legte den
Kopf auf eine kindliche Art zur Seite.
"Hört sich an wie... kleinere Explosionen",
meinte Julian nachdenklich und stand auf. "Schauen wir uns das mal an."
Die Geräusche wurden lauter, je näher
sie der Wiese der Zauberquelle kamen. Eine schreckliche Vermutung stieg
in Gaya auf - hatten die Antellis-Hexer endlich herausgefunden, wo der
Quell sich befand? Eine ähnliche Vermutung musste auch Julian haben,
denn er sah Cycil zornig an und fing dann an zu laufen. Die anderen mussten
wohl oder übel hinterher rennen. Gaya verfluchte seine spontanen Einfälle,
packte ihren schweren Stab fester und versuchte nicht allzu weit hinten
zu bleiben. Ein heller Feuerblitz stieg gegen den Himmel auf und hinterließ
eine Spur sprühender Funken. Ist es...? Julian beschleunigte
und baute seinen Abstand zu den anderen weiter auf. Cycil lief knapp vor
Dajana, die in den ungewohnten Stiefeln nicht so gut vorankam. Gaya musste
darauf achten, den Stab in Gleichgewicht zu halten und hatte nicht den
Wunsch noch schneller zu rennen. Es war allerdings nicht weiter notwendig.
Als sie eine Gruppe Apfelbäume umrundet
hatte, blieb Gaya abrupt stehen, genauso wie die anderen Drei vor ihr.
Ein Kampf spielte sich vor ihnen ab, der von Magie nur so strotzte.
In der Mitte der Lichtung, auf einer kleinen
Erhöhung, stand ein Mann, umgeben von Flammen. Gaya konnte nicht viel
von ihm erkennen, nur dass er anscheinend rote Haare hatte und einen Stock
hielt, an dessen Ende etwas scharfes glänzte. Ein Speer? Um ihn herum,
außerhalb der Feuerrings, standen ungefähr zwei Dutzend in Grün
gekleidete Gestalten. Es waren ausnahmslos dürre, hochgewachsene Männer
mit einem unbekannten Symbol auf der Brust - ein Kreis, halb durchbohrt
von einem Pfeil, umkreist von Blitzen. In ihren Händen hielten die
meisten Stäbe, aber sie waren dünner als Gayas, und die Edelsteine
darauf hatten eine blutrote Farbe. Es brauchte Gaya niemand zu erklären,
dass das die berühmten Antellis-Hexer waren.
Sie führten einen gruppierten Angriff
durch. Dünne Stränge weißer Energie wirbelten durch die
Luft und verbanden sich miteinander, so dass ein weites, strahlendes Netz
entstand, das sie über den Mann in dem Feuer zu werfen versuchten.
Er hob eine Hand und aus der Handfläche schoss ein Ball aus Feuer
hervor, der das Netz mühelos durchbrach. Es fing an zu brennen und
löste sich auf. Jemand brüllte scharfe Befehle. Gaya entdeckte
einen Hexer, der etwas abseits von den anderen stand, und offenbar ihr
Anführer war. Eine lodernde Peitsche schlug in seine Richtung, prallte
jedoch an einem unsichtbaren Schutzschild ab. Die Hexer formierten eine
Kugel, einen riesigen, weißen Ball, der das Licht der Sonne reflektierte
und in den Augen schmerzte. Diesmal griffen sie nicht den Feuerzauberer
– denn wer sonst konnte es sein – direkt an, sondern ließen den Ball
auf seinen Feuerschutz niedersausen. Die Flammen loderten noch mal zum
Himmel empor und erloschen dann zischend. Die Hexer stürzten sich
alle wie ein Mann auf den Zauberer.
"Los!", rief Julian und lief auf das Schlachtfeld.
Der Rest folgte ihm eher widerstrebend, aber sie hatten keine Zeit darüber
nachzudenken. Durch den Überraschungseffekt schaffte es Julian mit
dem Schwert zwei gleichzeitig niederzustrecken und kämpfte sich weiter
zum Feuerzauberer vor, der verzweifelt versuchte sich einer Übermacht
von einem knappen Dutzend Hexer zu erwehren, während zwei andere ihn
mit Blitzen aus der Luft attackierten.
Gaya hatte jedoch nicht die Zeit sich weiter
diesen spektakulären Kampf anzusehen, denn kaum hatten die Hexer gemerkt,
dass vier neue Gegner zu ihnen gestoßen waren, ließen sie ihnen
kaum genug Zeit um Luft zu holen. Dajana kreischte erschrocken auf, als
eine Miniaturausgabe des Lichtballs auf sie zusteuerte, und duckte sich.
Der Ball prallte an bläulichen Schild ab, der plötzlich über
Dajana schwebte. Cycil schaffte es gleichzeitig den Schild aufrecht zu
erhalten und einen Schwertkampf mit einem Hexer auszufechten. Gaya kämpfte
mit ganz anderen Mitteln. Durch ihren Stab zeichnete sie sich als Trägerin
der Magie aus und drei Hexer versuchten den gleichen Trick mit dem Netz
bei ihr, um ihr den Stab zu entreißen. Gaya schnaubte, hob den Stab
– der Diamant erstrahlte tageshell – und schleuderte das Netz zurück
auf die Hexer. Sie rissen ihre Stäbe noch rechtzeitig hoch um es abzufangen,
aber Gaya entriss es ihrer Kontrolle und fing damit den leuchtenden Ball
über dem Feuerzauberer ein. Als die beiden Energien sich berührten,
verschwanden der Ball und das Netz funkensprühend. Gaya schleuderte
den Hexern einen grünen Blitz entgegen.
Julian kämpfte sich erbittert zum Feuerzauberer
vor, der seinerseits versuchte sich mit ihrer Gruppe zu vereinen. Aber
seine magischen Kräfte schienen erschöpft zu sein; nur noch selten
durchbrach das wütende Brüllen eines Feuersturms das Kampfgeschrei.
Mit seinem Speer hielt er die Hexer jedoch ziemlich gut in Schach, wenn
man bedachte, dass sie immer noch eine Übermacht besaßen. Julian
schlug einen Hexer nieder, sprang über dessen Leiche hinweg und zerbrach
den Stab eines anderen. Die Hexer hatten als Waffen nur ihre Magie und
seltsame, krumme Dolche, die sie jedoch an jeder Stelle des Körpers
zu tragen schienen. Der Ritter musste mit seinem Schwert gleich gegen drei
Dolche kämpfen, die sein Gegner mit unglaublicher Geschwindigkeit
schwang und Julian kaum die Chance zum Angriff ließ. Wäre er
nicht so schnell gewesen, hätte der Hexer ihn bald durchgebohrt. Der
andere riss den Kopf hoch, als er den weißen Ball über seinem
Kopf vorbeischießen sah und Julian nutzte diese Unaufmerksamkeit,
indem er die linke Hand des Hexers abschlug. Dieser kreischte vor Schmerz
auf und bevor er sich wieder besinnen konnte, lag er mit einer langen klaffenden
Wunde in der Brust da. Julian verschnaufte kurz und sah sich schnell um.
In der Luft tobte eine erbitterte Schlacht,
die der auf dem Boden um nichts nachstand. Gaya und der Anführer der
Hexer schienen im Gegenüber einen ebenbürtigen Gegner gefunden
zu haben und schmetterten Blitze gegeneinander. Grün gegen Weiß
- die Luft knisterte wie bei einem Gewitter. Ein farbiger Regen ergoss
sich auf die Kämpfenden.
Dajana führte einen seltsamen Kampfstil
vor - sie hieb mit einem erbeuteten Stab wild hin und her und versuchte
gleichzeitig näher an den Dolch zu kommen, der im Boden steckte wie
ein glänzender, metallischer Zahn. Nicht weit von ihr focht Cycil
eifrig mit einem sehr großen Hexer. Die Klingen der Beiden schienen
einen eigenartigen, schnellen Tanz aufzuführen, bei dem es unmöglich
war zu entscheiden wer im Vorteil stand. Aber Cycil machte durchaus nicht
den Eindruck sich mit letzter Kraft seiner Haut zu erwehren.
"Duck dich!", rief eine männliche Stimme
von rechts. Ohne nachzudenken, gehorchte Julian und spürte im gleichen
Augenblick, wie eine Feuerzunge haarscharf über ihn hinweg brauste.
Der Hexer, der sich an den Ritter herangeschlichen hatte, konnte ihr nur
knapp ausweichen und stolperte über die Leiche einer seiner Gefährten.
Julian wollte gerade aufspringen und ihm den Garaus machen, aber der Hexer
wurde – eher zufällig – von einer grünen Energiewelle getroffen
und sank zu Boden mit einer klaffenden, verbrannten Wunde am Kopf.
Als Julian wieder hoch sah, stand der Zauberer
neben ihm. Er hielt seinen blutbefleckten Speer kampfbereit und angespannt,
während seine Augen kurz zu Julian rüber sahen.
"Wir müssen deine Leute hier versammeln",
raunte er Julian zu und dieser nickte.
"Leute, hierher!", rief er laut.
Gaya blickte auf diesen Ruf hin zu Julian
und entdeckte ihn zusammen mit dem Feuerzauberer nicht weit von sich. Sie
beschrieb mit ihrem Stab einen großen Bogen, grüne Schleier
blieben in der Luft hängen und deckten sie, als sie sich zu den Beiden
durchschlug. Ein verletzter Hexer stellte sich ihr in den Weg und sie rammte
ihm ohne nachzudenken den eigenen Stab in den Magen. Er keuchte und ging
zu Boden. Sie kümmerte sich nicht darum ihn entgültig zu töten,
sondern lief zu Julian rüber.
"Alles in Ordnung bei dir?", fragte sie besorgt,
denn er hatte eine blutende Verletzung an der Schulter und zwei weitere
an den Armen. Er winkte ab.
"Alles klar. Verdammt, wo bleibt Dajana?"
Gaya drehte sich um.
Dajana lief in just diesem Moment auf sie
zu, aber sie versuchte ihren Arm nicht zu bewegen und hinkte ein bisschen.
Sieht
schlimm aus, dachte Gaya und sah, wie Cycil, der fast bei ihnen angelangt
war, nach Dajana schaute. Nach kurzem Zögern schleuderte er die Hände
in die Luft und eine blass-blaue Druckwelle löste sich davon. Die
Hexer in seinem Umkreis fielen zu Boden, unverletzt, aber überrascht.
Er verschwendete keine Zeit und half Dajana. Als die beiden endlich bei
ihnen angekommen waren, loderte eine Flammenwand zwischen ihnen und den
Hexern hoch und schirmte sie vor den Anfreifern ab.
"Das wird nicht lange halten, ich habe nicht
mehr viel Kraft", sprach der Zauberer hastig. "Wir müssen irgendwie
diesen hässlichen Kerl mit der Medaille um den Hals tot kriegen, sonst
hauen die nie ab."
"Er ist durch eine Barriere geschützt."
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, gemacht mit Cycils ruhiger
Stimme.
"Ja, aber sie ist nur für Magie geeignet.
Wenn ich doch bloß... Kann einer von euch mit dem Bogen umgehen?"
"Ich!", sagte Dajana, fügte dann errötend
hinzu: "Aber ich habe keinen Bogen." Der Zauberer störte sich nicht
daran.
"Sehr gut. Könntest du den Kerl von hier
aus treffen?" Sie schätzte die Entfernung ab.
"Vielleicht", sagte sie schließlich
unsicher. Er griff nach hinten, wo er einen lumpigen Rucksack hängen
hatte, und wühlte darin rum. Dann holte er einen kleinen, unscheinbaren
Bogen raus und gab ihn Dajana.
"Dann schieß, Mädchen! Versuch
die Medaille zu treffen – dann wird der Zauberschild deaktiviert und ich
kann diesem Bastard die Hölle heiß machen." Dajana blickte überrascht
auf den Bogen in ihrer Hand, sagte aber nichts. Sie spannte ihn probeweise
und schürzte die Lippen.
"Miese Ware. Na ja, was soll’s." Sie spürte
all die Blicke auf ihr, biss sich auf die Lippe und atmete
tief durch. "Ich schaffe es schon. Pfeile?"
Er reichte ihr das Angeforderte. "Das Feuer wird die Pfeile verbrennen",
gab sie zu Bedenken und spannte gleichzeitig den Bogen.
"Kümmere dich nicht darum, aber beeil
dich – noch ein Hexer-Bataillon müsste bald anrücken und dann
sind wir echt erledigt." Die Stimme des Zauberers klang sehr angespannt
und Gaya bemerkte, dass er zitterte. Er hat bestimmt schon zu viel Magie
verbraucht, dachte sie und begutachtete die Flammenwand. Sieht aber
noch recht stabil aus... In dem Moment schoss Dajana ab.
Die Sehne sang hell und der Pfeil durchstieß
die Flammen, ohne verbrannt zu werden. Fünf Augenpaare verfolgten
gebannt wie er an den überraschten Hexern vorbeiflog, die inzwischen
recht wenige waren, und auf den Anführer zusteuerte, der wie erstarrt
da stand, anscheinend nicht begreifend, was geschah. Ihm blieb auch keine
Zeit dazu. Ohne aufgehalten zu werden, durchstieß der Pfeil die magische
Barriere und bohrte sich tief in die Brust des Hexers. Er wankte und selbst
aus der Entfernung sah Gaya einen dicken Strom Blut aus der Wunde quellen.
Unbarmherzig zischte der zweite Todesbote heran und traf mitten in die
Medaille. Der Zauberschild flackerte und verschwand. Der Hexer hielt sich
am Baum fest und versuchte aufrecht zu stehen, aber schon war der dritte
Pfeil heran, hell lodernd durchstieß er den Hals des Hexers und nagelte
ihn am Baum fest. Seine Kleidung fing Feuer.
Die übrig gebliebenen Hexer stimmten
ein lautes Geschrei an und rannten davon. Keiner von ihnen kümmerte
sich um die Leichen und Verwundete auf dem Schlachtfeld, und niemand sah
nach dem Anführer. Schnell wie Schatten verschwanden sie im Wald.
Die Feuerwand zuckte ersterbend und verschwand
dann mit einem Zischen. Der Feuerzauberer stützte sich auf seinen
schweren Speer und atmete schwer. Sein Gesicht war ganz blass geworden.
Dajana senkte etwas widerstrebend den Bogen und grinste zufrieden, als
sie Cycils bewundernden Blick auffing. Julian steckte sein Schwert in die
Scheide und wischte sich den Schweiß vom Gesicht, wobei er eine Blutspur
auf der Stirn hinterließ. Gaya säuberte den Smaragd am Stab
sorgfältig vom Schmutz und setzte sich erst dann erschöpft auf
das Gras. Sie hatte vorher noch nie so viel Magie auf einmal im Kampf benutzen
müssen. Darauf hatten sie die Druiden nicht vorbereitet.
"Wir sollten es uns hier nicht gemütlich
machen", bemerkte Cycil, der von seinem Schwert das Blut abwischte. "Sie
könnten wiederkommen."
"Du hast recht. Aber diesmal hat es wenigstens
dieser Anführer nicht mehr geschafft. Ich bin schon seit drei Tagen
hinter ihm her, aber dieses verdammte Medaillon hat ihn beschützt.
Gut geschossen, Mädchen", sagte der Magier und Dajana strahlte. Sie
wollte ihm den Bogen zurückgeben, aber er schüttelte den Kopf.
"Behalte ihn, wenn du willst. Ich habe ihn bei einer Wette gewonnen, aber
gebrauchen kann ich einen Bogen sowieso nicht." Er sah sie alle zum ersten
Mal prüfend an. "Ich hab mich ja noch gar nicht bedankt, dass ihr
so rechtzeitig zur Stelle wart. War wirklich zum richtigen Zeitpunkt. Ich
heiße Johannes Cynnethan." Julian stellte sie der Reihe nach vor.
"Freut mich", sagte Johannes, nachdem der Ritter fertig war. "Man trifft
in N’hoa nicht oft gleichgesinnte..." Er wankte kurz und stützte sich
dann wieder auf seinen Speer.
"Bist du verletzt?", erkundigte Gaya sich
besorgt. Er schüttelte den Kopf.
"Nicht richtig. Ich habe nur meine Magiereserven
mehr angezapft als ich es hätte tun dürfen. Das übliche
eben."
"Das ist gefährlich", erwiderte Cycil.
"Wenn du deine Lebenskraft angezapft hast..."
"Hab ich nicht", unterbrach er ihn. "Wir sollten
jetzt aber wirklich wo anders hin gehen, um uns ausgiebig zu unterhalten.
Ich weiß sogar, wohin." Julian war einverstanden und so folgten sie
dem Feuerzauberer, der trotz seiner offensichtlichen Schwäche ziemlich
rasch auf die Stadt zuging. Julian verlangsamte seinen Schritt, bis er
mit den Frauen und Cycil hinter Johannes ging.
"Und, was denkt ihr?", fragte er leise. Gaya
zuckte mit den Schultern. Sie war wirklich zu müde, um zu überlegen,
ob sich Johannes ihrer Gruppe anschließen würde.
"Er kann toll kämpfen", sagte Dajana
und betrachtete glücklich ihren neuen Bogen. "Und er scheint nett
zu sein."
"Ach nein", erwiderte der Ritter sarkastisch
und sah zu Cycil rüber. "Hast du etwas zu sagen, was wir bisher
nicht wissen und gebrauchen können?"
"Ich bezweifle, dass er sich uns anschließen
wird. Er scheint selbst feste Ziele zu haben", meinte
Cycil, ruhig wie immer. Tja Julian, ich
bezweifle, dass dir das mehr gefallen hat als Dajanas Meinung, dachte
Gaya und in der Tat machte Julian nicht gerade einen erfreuten Eindruck.
Johannes brachte sie zu einem niedrigen Gebäude
am Rande der Stadt, das keinen besonders ehrbaren Eindruck machte. Es war
ziemlich heruntergekommen und nichts deutete darauf hin, dass man sich
hier in Ruhe ausgiebig unterhalten konnte. Er bemerkte ihre skeptischen
Blicke und lächelte geheimnisvoll.
"Das Äußere täuscht oftmals",
kommentierte er und klopfte mit dem Speer sacht gegen die schmutzige Holztür.
Zweimal langsam, Pause, ein Mal langsam, Pause und dreimal schnell. Eine
Weile rührte sich nichts, aber Johannes wartete unbeeindruckt. Schließlich
wurde eine Klappe beiseite geschoben und ein grünes, wachsames Auge
spähte raus.
"Wer da?", fragte eine quiekende Stimme und
der Blick huschte prüfend über die Gesichter von Julian, Gaya,
Dajana und Cycil.
"Ich, wer denn sonst. Mach endlich die Tür
auf, Spot, das war ein schwerer Kampf heute!", rief Johannes ungehalten.
"Die da kenn ich nich’", sagte Spot misstrauisch.
"Keine Gäste, Magier, die nicht eingeladen wurden!"
"Soll ich eure hübsche Eingangstür
verbrennen? Wäre doch bestimmt lustig." Spot seufzte genervt.
"Schon gut, schon gut, darf man nicht einmal
einen Scherz machen, meine Güte aber auch..." Die Tür schwang
geräuschlos auf und ein dürrer, drahtiger Junge um die zehn Jahre
lugte heraus.
"Rein mit euch, aber hastig", brummte er,
aber Gaya bemerkte, wie es in seinen Augen schalkhaft aufblitzte.
"Sag Danaill, dass ich da bin", sagte Johannes
und forderte die anderen auf hineinzutreten. An die Tür schloss sich
ein enger Gang an, der in Dunkelheit lag, denn es gab in ihm keine Fenster.
Spot schloss die Tür, sobald sie alle drin waren, und das letzte Licht
blieb draußen. Der Junge zündete eine Fackel an, die mehr Rauch
verbreitete als Licht, und hüpfte davon.
"Spot! Bleib gefälligst hier!", rief
ihm Johannes hinterher.
"Was? Sag jetzt nicht du brauchst ’ne Fackel.
Kannste nicht wieder ’nen Feuerball machen oder was?"
"Ich bin heute nicht so ganz auf der Höhe",
erklärte Johannes, und Spot zuckte mit den Achseln.
"Wenn’s so ist. Aber dann hätt’ ich dich
doch noch draußen lassen sollen." Er lachte und ging voraus. Johannes
folgte ihm und die anderen ebenfalls, wobei sie versuchten sich nicht gegenseitig
auf die Füße zu treten. Gaya musste aufpassen, dass sie mit
ihrem Stab nicht gegen die Wände stieß und fluchte innerlich.
Hätte der Zauberer sie nicht in einen ordentlichen Laden bringen können?
Zum Glück endete der Gang ziemlich bald
und sie gelangten in einen geräumigen Raum. Er war viel zu hoch für
das Haus und Gaya begriff, dass er teilweise unterirdisch lag, weswegen
der Gang wahrscheinlich angelegt worden war. Ungefähr zehn Männer
hielten sich in dem Raum auf, auf die paar Tische verteilt, die herumstanden.
Es gab ebenfalls keine Fenster, aber genug Licht wurde von Leuchtern an
den Wänden produziert und so sah es ziemlich einladend aus. An den
Wänden angeschlagen waren sehr viele blutige Trophäen, von denen
die meisten wie haarige Pfoten oder Krallen aussahen. In einem Schrank
in der Ecke lag außerdem eine Ansammlung von Waffen, meistens Schwerter
und Keulen, aber Gaya entdeckte unter ihnen mehrere krumme Dolche, die
wie die Gegenstücke von den Waffen der Hexer aussahen. Es gab so etwas
wie eine Theke und hinter der stand eine recht eindrucksvolle Frau, die
dem Aussehen nach ohne große Mühe zwei Tische balanciert hätte.
Mehrere Türen und Gänge zweigten von diesem Raum ab und bei den
meisten führten Stufen entweder nach oben oder weiter nach unten.
Ist
da ein ganzes Labyrinth unter uns oder was?
Spot huschte schnell zu der einzigen Frau
rüber und flüsterte ihr etwas zu. Sie blickte auf und lächelte
Johannes an; dann drehte sie sich um und sprach mit jemandem außerhalb
Gayas Sichtweite.
"Steht nicht so rum, kommt mit", sagte Johannes
und führte sie zu einem langen Tisch an der Wand. Als sie sich an
den anderen Tischen vorbei drängten, bemerkte Gaya, dass die Männer
dort mit so wichtigen Angelegenheiten wie Kartenspielen, Essen und Sprechen
beschäftigt waren. Allerdings erblickte sie auch zwei abseits Sitzende,
die einen funkelnden Goldberg aufgeschlichtet hatten und jetzt versuchten
einzelne Goldmünzen daraus zu ziehen ohne den Berg zu bewegen. Sie
musste zugeben, dass das doch ein recht interessanter Zeitvertreib war.
Sie setzten sich. Fast sofort, bevor sie etwas
sagen konnten, erschien ein stämmiger Mann an der Seite.
"Johannes, du bist ja schon so schnell wieder
da!", rief er und sein wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu einem herzlichen
Lächeln. "Und, warst du heute erfolgreich?"
"Nicht in deinem Sinne, Danaill", antwortete
Johannes. "Hab leider keine weiteren Trophäen für dich mit, aber
wir haben den Hexer-Anführer erledigt."
"Das ist eine gute Nachricht. Wir - meinst
du damit deine reizenden neuen Freunde?" Auf die belustigte Bestätigung
hin, wurde Danaill noch begeisterter. "Freut mich, euch kennen zu lernen!
Ich bin Danaill Van Fienn, der Besitzer dieser Bruchbude und sozusagen
Dieb ehrenhalber!" Er zwinkerte ihnen zu und Gaya lächelte, obwohl
sie nicht ganz verstand, was er mit "Dieb ehrenhalber" meinte.
"Es ist wirklich nett hier. Ich heiße
Gaya Asearien, das sind Julian Drewen, Dajana Stromsyard und Cycil Whynneyar."
Danaill starrte Dajana überrascht an und brach dann in Gelächter
aus.
"Dajana Stromsyard? Die Dajana? Na, das ist
mal eine Überraschung!" Und zu allgemeinem Erstaunen brüllte
er durch den Raum: "Hey, Leute, wir haben heute einen Ehrengast bei uns!
Dajana Stromsyard ist hier!" Allgemeines Lachen antwortete ihm. Dajana
wurde rot und sah Johannes fragend an. Der zuckte mit den Schultern und
stellte seinen langen Speer an die Wand, wo er glänzend über
ihnen aufragte.
"Was... was ist denn mit mir?", fragte Dajana
Danaill, immer noch rot im Gesicht. Der große Mann grinste sie breit
an.
"Du musst wissen, Mädchen, dass wir uns
seit zwei Wochen um dich streiten! Wirklich, das war die längste Rauferei
in der Geschichte von diesem Städtchen! Fast hätten sich Karl
und Sergio gegenseitig die Kehlen aufgeschlitzt, so aufgebracht waren sie!"
"Ihr... habt euch um mich gestritten?"
Der Blick, den sie Johannes zuwarf, enthielt eine vorsichtige Frage nach
dem geistigen Zustand der anwesenden Männer. Der Feuerzauberer nahm
davon keine Notiz, er war zu sehr damit beschäftigt, eine lange, blutende
Wunde auf seiner Schulter mit einem nassen Tuch auszuwaschen. Seinem Gesichtsausdruck
nach war es nicht besonders angenehm.
"Ja! Ich fand’s lustig. Natürlich bin
ich als Ladenbesitzer unparteiisch, aber es war amüsant. Deinem Blick
nach zu urteilen, fragst du dich gerade, ob der Danaill noch alle Lichter
im Kopf brennen hat. Ich kann dich beruhigen, Mädel, wir sind hier
alle noch recht klar bei Verstand, mit Ausnahme der beiden da hinten",
er zeigte auf zwei alte Männer, die vor sich zwanzig Bierkrüge
stehen hatten, und offenbar versuchten herauszufinden, wieso ihre Gesichter
plötzlich so nahe Bekanntschaft mit dem Tisch machten. "Bei diesem
Streit ging es um die große Frage, ob wir dich zum Dieb ehrenhalber
ernennen – so wie mich."
"Das macht es mir nicht klarer", gab Dajana
zu.
"Ach komm, du wirst mich doch nicht enttäuschen!
Na, na. Wir haben natürlich von deinen lustigen Versuchen gehört
das ehrliche Geschäft im Gaul auszuüben."
"Das ehrliche Geschäft?"
"Ja, das ehrliche Geschäft. Das einzige
Geschäft, bei dem die reichen Schmarotzer endlich das bekommen, was
sie verdienen - nämlich gar nichts!" Er lachte auf.
"Ich habe nicht gestohlen!", protestierte
Dajana mit einem knallroten Gesicht. Gaya musste daran denken, was der
Bürgermeister gesagt hatte - Dajana war bereits vier Mal festgenommen
worden. Sie wechselte einen belustigten Blick mit Julian und musste ein
Grinsen zurückhalten.
"Nein, natürlich nicht! Aber oft genug
versucht hast du es ja! Ein paar von uns meinten, eine solche Hartnäckigkeit
gehöre belohnt und wollten dir den Status eines Diebes ehrenhalber
bieten, aber die anderen waren nicht derselben Meinung. Und da ging es
erst richtig los! Ich sage doch, das war die längste und heftigste
Rauferei in N’hoa. Na ja, vielleicht mit Ausnahme der Geschichte mit diesem
anderen Mädel - da war was los, mm... Aber das ist nichts, was ich
in der Gesellschaft von solchen zwei reizenden Damen erzählen möchte!"
Er zwinkerte wieder. Gaya mochte ihn.
"Sag mal, das hier ist doch nicht zufällig
das Versammlungshaus der Freien Diebe von Nord?", fragte Cycil plötzlich.
Auf seinem Gesicht stand eine Anspannung, die Gaya nicht so recht verstand.
Aber vielleicht bildete sie es sich auch ein, denn der Ausdruck wich schnell
der üblichen Aufmerksamkeit.
"’türlich sind wir das! Hat euch Johannes
denn nichts erzählt?" Die vier mussten verneinen und Danaill sah Johannes
tadelnd an. "Also, alter Freund, was soll denn das? Bringst einfach Leute
hier, die nicht einmal den Eid geleistet haben!"
"Ich hatte keine besonders große Lust
in den Gaul zu gehen, Danaill! Und wir haben einen schweren Kampf hinter
uns. Sie können diesen Eid doch genauso gut hier und jetzt ablegen",
erwiderte
Johannes. Sein Gesicht war sehr blass und
Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Gaya dachte
besorgt, dass die Hexer ihre Dolche möglicherweise
vergifteten. Wir sollten nicht soviel Zeit verschwenden, sondern uns
um die Verletzungen kümmern! Sie wollte dies gerade verärgert
äußern, als die kräftige Frau vom Tresen sich zu ihnen
gesellte und mit wütender Miene Danaill ansah. Neben ihr wirkte der
hochgewachsene Mann wie ein Kind.
"Danaill, du alter Schwachkopf, was fällt
dir ein unsere teueren Gäste unversorgt zu lassen, und ihnen auch
noch auf die Nerven zu gehen! Das ist wieder mal typisch für dich!
Hab ich dir nicht gleich gesagt, dass du solche Sachen einer Frau überlassen
sollst? Nein, du bist natürlich zu stur und zu sehr von deinem männlichen
Stolz besessen um mich mal ranzulassen, obwohl du deine Gäste gerade
zu Tode redest! Nicht mal ein gesunder Mensch kann deine Ausführungen
ertragen und da erwartest du mehr von den armen Kämpfern, die so tapfere
Taten vollbringen, während du irgendwelche Stücke von ihrem Ruhm
kaufst! Du bist unverbesserlich! Jetzt hol sofort Essen und Trinken für
die Gäste und wage es dann nicht mir unter die Augen zu kommen! Wir
sprechen uns noch heute Nacht, Freundchen!" Nach dieser vernichtenden Rede
schrumpfte Danaill noch mehr und schlich davon wie ein getretener Hund.
"Du hast ihn zu Brei zerstampft, Rosalie",
sagte Johannes vorwurfsvoll.
"Er verdient es nicht besser!", fauchte sie.
"So, jetzt da der Dummkopf beiseite geschaffen ist, um wem soll ich mich
zuerst kümmern?" Ihr Blick wanderte von Julian mit seinen blutenden
Wunden an Armen und Schulter, zu Dajanas unzähligen Kratzern und Rissen,
von dem unerschütterlichen Cycil, der nur eine Schnittwunde am Bein
hatte, über Gayas erschöpftes Gesicht, und blieb schließlich
an Johannes hängen. Sie schnalzte mit der Zunge. "Scheint ja ein gewaltiger
Kampf gewesen zu sein", bemerkte sie.
"Wir brauchen eure Hilfe nicht, Lady, ich
habe Heiltränke bei mir und kann sie alle selbst versorgen. Wir wollen
euch nicht belästigen", sagte Cycil. Rosalie sah ihn misstrauisch
an, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht über sie lustig machte.
Lady! Große Göttin, wo ist der Junge aufgewachsen?, fragte
sich Gaya.
"Nun gut, das ist sehr nett von dir, Junge",
sagte die Frau schließlich. "Ich habe wirklich noch viel zu tun...
Ah, da kommt bereits euer Essen! Na dann macht es euch bequem und genießt
unsere Gastfreundschaft!" Sie versuchte herzlich zu klingen, aber es war
offensichtlich, dass Cycil sie verwirrt hatte. Danaill schleppte ein großes
Tablett an. Darauf standen fünf Krüge Bier, ein ausladender Teller
mit Fleisch, sowie eingelegte Muscheln und ein Eintopf.
"Auf Kosten des Hauses", verkündete Danaill,
nachdem er die wuchtige Platte auf den Tisch geknallt hatte. Sein Gesicht
war von der Anstrengung ein bisschen gerötet.
"Vielen Dank", sagte Dajana höflich und
konnte ihre Augen nicht von dem dampfenden Fleisch abwenden. Gaya roch
den köstlichen Duft und musste ebenfalls schlucken. Rosalie schenkte
Danaill einen aufgebrachten Blick und verließ den Tisch, weit mit
dem Hintern schwingend.
"Na, guten Appetit dann auch", murmelte der
Mann und ging ihr hinterher. Dajana zögerte nicht und griff sofort
nach dem Fleischteller. Es roch wie Wildschwein, fand Gaya, und nahm sich
ebenfalls ein saftiges Stück.
"Das schmeckt toll", verkündete Julian,
nachdem er das Bier probiert hatte. Gaya hob zweifelnd die Augenbrauen.
"Genauso toll wie dieses Gebräu im Gaul?",
fragte sie. "Ich könnte wetten der Wirt dort mischt gewöhnliches
Wasser mit Pferdeäpfeln und verkauft es dann." Nach dieser Kritik
biss sie herzhaft in das Bein des vermeintlichen Schweins. Dajana schlang
es in sich hinein wie die letzte Mahlzeit ihres Lebens, zwischen dem Kauen
fand sie noch Zeit Bier dahinter zu kippen. Gaya fragte sich amüsiert,
wie sie da noch was schmecken konnte. Julian begutachtete das Tablett und
wählte den Eintopf, der anscheinend aus Fleisch und Pilzen bestand.
Er aß ihn langsam und sorgfältig, und bewies damit Manieren,
die Gaya ein für alle Mal von seiner hervorragenden Ausbildung überzeugten.
Allerdings war es ihrer Meinung nach ekelhaft Eintopf mit Bier zu mischen.
Nicht, dass er sich davon stören ließ. Cycil widmete sich als
einziger den Muscheln und ging dabei so geschickt vor, dass es sie abermals
überraschte.
Ich bin von Geheimnissen umgeben. Sie beide
hüten eins, da bin ich mir sicher. Und Dajana? Sie ist eine unbekannte
Größe. Wie soll ich ihnen vertrauen?
Sie sah von ihrem Teller auf und begegnete
dem Blick von Johannes. Dem Blick aus grauen, eindringlichen Augen. Aus
irgendeinem Grund fühlte sie sich beschützt und behütet,
als sie so in diese Augen sah. Sicherheit schienen sie auszustrahlen, Sicherheit
und noch mehr. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie den Drang
in sich aufsteigen einem Menschen auf den ersten Blick Vertrauen entgegen
zu bringen. Das wunderte sie, aber es war ein gutes Gefühl. Unter
all den Fremden hatte sie einen gefunden auf den sie sich verlassen konnte,
aus welchem Grund auch immer. Von diesem Wissen gestärkt, erwiderte
sie seinen Blick und lächelte ihm zu. Er lächelte zurück,
auf eine Weise, die sein blasses Gesicht erhellte. Er muss uns begleiten.
Auf jeden Fall, dachte sie entschlossen, als sie sich wieder dem Essen
widmete. Es war nicht das gleiche Gefühl wie bei Dajana und Cycil,
wo sie eine Art Befehl der Göttin bekommen hatte. Nein, dieses mal
war es ihr eigener Wunsch und deswegen nicht weniger bedeutsam.
Johannes kaute nachdenklich das zähe
Fleisch.
"Halt endlich still, Dajana!", rief Cycil verärgert.
Er hielt eine lange, spitze Nadel in der Hand und versuchte sich damit
dem Mädchen zu nähern, das sich jedoch immer wieder umdrehte
um die Geschehnisse mitverfolgen zu können. "Soll ich dich aufspießen?
Dieses Betäubungsmittel wirkt nicht lange, zu deiner Information!"
"Ich bin ja still!", sagte sie nervös.
"Aber die Nadel sieht so scharf aus..."
"Sei froh darüber! Wenn sie nicht so
scharf wäre, würde das Nähen höllisch weh tun. Aber
das wird es noch, wenn du nicht endlich aufhörst zu zappeln!" Es war
ungewöhnlich, dass Cycil sich so über Dajana aufregte, aber er
machte selbst einen nervösen Eindruck, was sicher daran lag, dass
er vor diesem Tag noch nie eine Wunde genäht hatte, wie er es Gaya
heimlich mitgeteilt hatte. Aber Dajana hatte einen langen Schnitt am Rücken,
durch den sie viel Blut verlor, und die einzige Behandlungsmethode war
die Nadel. Cycil hatte bereits Julian zusammengeflickt, der immerhin ganze
drei Prozeduren ohne mit der Wimper zu zucken ausgehalten hatte, doch Dajana
schien sich immer noch sicher zu sein, dass Cycil ein Mordinstrument in
der Hand hielt.
"Wir werden dich festhalten müssen, wenn
du dich weiterhin so aufregst!", drohte Gaya.
"Du bist nicht stark genug um mich festzuhalten,
Druidin!", rief Dajana, aber in ihren großen Augen flackerte Panik.
"Dann hole ich eben Julian und Johannes dazu!"
"Nein!", sagte Dajana entsetzt. Sie saß
ohne Oberhemd auf einer Bettkante im Zimmer von Rosalie. Die Wirtin hatte
es ihnen freundlicherweise zur Verfügung gestellt, um Dajana die Peinlichkeit
zu ersparen vor den ganzen Männern im Gastraum ohne Hemd da zu stehen.
Sie hatte sich sogar dagegen gewehrt vor Cycil so zu erscheinen, bis Gaya
sie davon überzeugen konnte, dass es nicht ratsam war eine unerfahrene
Druidin an die Sache ranzulassen. Nachdem Cycil ihr jedoch einen Betäubungstrank
verabreicht hatte, der ihr für eine Weile die Schmerzen ersparen sollte,
konnte sie den Anblick der Nadel nicht mehr ertragen.
"Lass mich ran, Dajana, es wird schon nicht
weh tun!", sagte Cycil fast verzweifelt. "Du bist doch kein kleines Mädchen
mehr, du hast Verstand! Also lass mich jetzt verdammt noch mal diese Wunde
nähen,
bevor du zuviel Blut verlierst!" Dajana warf
ihm einen beleidigten Blick zu und seufzte.
"Schon gut! Wenn ihr aufhört herumzuschreien."
Sie drehte Cycil den Rücken zu und starrte mit sturem Gesichtsausdruck
die Wand an. Er verdrehte die Augen und machte sich dann vorsichtig an
die Arbeit. Gaya sah Dajana mehrmals zusammenzucken, aber sie gab keinen
Laut von sich. Das Mädchen ist zwar eine nörgelnde Nervensäge,
aber ihre Sturheit und ihr Stolz haben auch gutes, dachte Gaya.
Cycil begutachtete sein Werk, einen roten
mit grauen Fäden zusammengehaltenen Riss, aus dem nur noch vereinzelnd
Blut quoll.
"Schon bin ich fertig. Hat es so sehr weh
getan?", fragte er sie besorgt.
"Es ging... Aber zu schade, dass dieser Hexer
schon tot ist, ich hätte ihn nur zu gerne erwürgt!" Dajana bewegte
probeweise ihre Schulter. "Mm! Hoffentlich verheilt das schnell. Würdet
ihr mich jetzt bitte alleine lassen? Ich muss mich unbedingt umziehen."
Cycil legte die Nadel beiseite, sah sie noch einmal stirnrunzelnd an und
verließ dann das Zimmer.
"Hat er doch gut gemacht. Dafür, dass
es erst das zweite mal war", bemerkte Gaya und Dajana erbleichte.
"Das... das zweite Mal? Oh. Ich glaube mir
wird schlecht." Gaya klopfte ihr aufmunternd auf die andere Schulter und
ging dann ebenfalls raus.
Im Gastraum hielten sich nur noch wenige auf.
Es war bereits Abend geworden, obwohl man das am Licht nicht sehen konnte.
Danaill unterhielt sich mit einem zerlumpten Mann und Rosalie schrubbte
energisch die Theke. Julian, Johannes und
Cycil saßen immer noch am gleichen Tisch, aber jetzt sahen die Drei
wenigstens kräftiger aus. Johannes war zwar noch nie behandelt worden,
aber er hatte ihnen versichert, dass er keinen schweren Wunden davongetragen
hatte, sondern bloß von soviel Anwendung von Magie erschöpft
war. Gaya stellte fest, dass er größer war als Julian, wobei
der Ritter schon sehr hochgewachsen war. Wir Frauen sind wieder mal
die Zwerge, dachte sie, na ja, Cycil ist wenigstens genauso groß
wie ich. Mit diesem Gedanken hielt sie auf den Tisch zu.
"Das ist Irrsinn", hörte sie Johannes
überzeugt sagen. "Es wäre viel sicherer den Wasserweg zu nehmen."
"Wozu brauchen wir denn Sicherheit?", widersprach
Julian. "Schließlich will ich doch kämpfen und nicht einen angenehmen
Urlaub erleben!" Cycil lächelte.
"Ich bin sicher den wollen wir alle nicht,
aber ich habe nicht groß Lust extra in die Gefahr zu laufen", sagte
er und nahm einen Schluck aus einem großen Becher. Der Arme. Diese
Dajana hat ihn ja völlig fertig gemacht.
"Das ist genau meine Meinung", stimmte Johannes
zu und bemerkte dann Gaya. "Setz dich, Gaya. Wird Dajana auch noch kommen?"
Gaya setzte sich neben ihn und griff ohne nachzudenken nach seinem unberührten
Becher. Sie trank ein paar Schlucke des Bieres, schüttelte sich und
setzte den Becher wieder ab.
"Furchtbares Zeug", meinte sie und fuhr fort,
ohne auf die belustigten Blicke der anderen einzugehen. "Dajana wird jetzt
entweder eine Weile schmollen oder ihr Stolz wird sich durchsetzen und
sie benimmt sich den ganzen Abend lang wie eine Königin." Julian nickte
zustimmend.
"Ich hoffe doch, dass das nicht meine Schuld
ist", sagte Cycil unbehaglich.
"Ach was. Es ist einfach die unwürdige
Haltung, die wir ihr gegenüber an den Tag legen. Sie mag es nicht
als Jüngste behandelt zu werden", sagte Gaya sorglos und wunderte
sich, dass sie da so sicher sein konnte. Wie lange kannte sie das Mädchen
- drei Tage? Ihr kam es bereits vor wie eine Ewigkeit.
"Ja, unsere Dajana benimmt sich manchmal wie
ein kleines Mädchen!", sagte Julian grinsend, aber Cycil schien sich
immer noch unsicher zu sein. Er muss wirklich in sie verliebt sein, dachte
Gaya. Ob daraus noch was wird?
"Gaya, was denkst du - was ist die bessere
Route nach Sunaj? Durch den Celine-Wald oder per Wasser?", wollte Johannes
wissen. Sie zuckte mit den Schultern.
"Ich persönlich bevorzuge ja die Wälder,
das Wasser ist nicht so mein Element. Das Schiff ist außerdem langsamer",
gab sie zu bedenken und Johannes zuckte mit den Schultern.
"Wenn wir im Celine auf Gegenwehr stoßen,
kann es sein, dass wir da nie mehr rauskommen. Mir wäre langsam da
lieber."
"Das ist doch Blödsinn! Wir sind fünf
kampfbereite Menschen, mit guter Bewaffnung und einem Ziel. Wer sollte
uns schon aufhalten?"
"Es gibt Gerüchte", ließ Cycil
vorsichtig vernehmen.
"Gerüchte! Die gibt es überall!",
sagte Julian verärgert.
"Ja, aber hinter jedem Gerücht steckt
die Wahrheit." Sein Gesicht verriet nichts, aber Gaya merkte, dass er an
die Zauberquelle denken musste. Julian anscheinend ebenso, denn er schnaubte
empört und starrte stur auf den Bierkrug. Johannes, der nichts von
diesen Ereignissen wusste, schüttelte den Kopf und fuhr sich durch
die roten, kurzgeschnittenen Haare.
"Egal ob die Gerüchte nun wahr sind oder
nicht, es gibt im Celine jedenfalls Gefahren, die nicht zu unterschätzen
sind", sagte er fest. "Dabei ist die Frage: Wollt ihr das Risiko eingehen?"
"Natürlich!", rief Julian, wie erwartet.
Gaya verglich ihn mit einem ungeduldigen Kind. Cycil zuckte mit den Schultern.
"Mir ist es gleich. Wir sollten einfach abstimmen."
"Aber ist Julian nicht irgendwie euer Anführer
oder habe ich das falsch verstanden?", erkundigte sich Johannes. Julian
- der sich selbst erst jetzt daran erinnerte, so sehr war es für ihn
ungewohnt, dass seine Entscheidungen in Frage gezogen wurden - sah den
Magier dankbar an.
"Genau das ist der Punkt. Ich beschließe
für die ganze Gruppe und sage wir gehen durch den Wald!"
"Was? Durch den Celine-Wald? Bist du noch
ganz beisammen?", rief Dajana. Sie war gerade eben in den Raum getreten
und hatte Julians letzte Worte gehört. Ihren aufgerissenen Augen war
ganz klar zu entnehmen, dass sie sich auf Johannes’ und Cycils Seite schlug.
"Ich habe noch vor irgendwann zu heiraten und ein schön hohes Alter
zu erreichen!" Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah ihn entrüstet
an. "Durch den Celine! Also wirklich, was habt ihr Ritter eigentlich im
Kopf?" Julian zog die Augenbrauen zusammen.
"Mut haben wir, nicht wie ihr Bürgerlichen!
Was soll denn das? Ich hatte vor etwas zu erleben und nicht die ganze Zeit
über sichere Wege zu begehen!"
"Nichts ist zur Zeit sicher in Cinhyal", warf
Johannes ein. "Wir sind eigentlich überall gefährdet, wenn nicht
von irgendwelchen Kreaturen, dann von Wegelagerern. Der Wald hat den Vorteil,
dass wir dort wenigstens keine menschlichen Angreifer zu befürchten
haben. Nicht einmal die Antellis-Hexer wagen sich dorthin."
"Aber es gibt dort Schlangenmenschen!", rief
Dajana und aus ihrer Stimme sprach Furcht. Vielleicht erinnerte sich Julian
endlich daran, dass sie gerade ihren ersten Kampf hinter sich hatte, noch
völlig unerfahren war und nicht einmal freiwillig mitkam, denn sein
Gesicht wurde weicher.
"Wenn es dort Schlangenmenschen gibt, haben
wir ja ganze drei Magier bei uns. Denkst du nicht, dass das reicht um sie
in Schach zu halten?" Das Mädchen richtete ihren Blick auf Johannes.
"Dann schließt du dich uns an?", fragte
sie hoffnungsvoll. Er schüttelte den Kopf.
"Nein. Aber ich begleite euch auf jeden Fall
bis Sunaj, egal welchen Weg ihr nehmt. Zu fünft ist es besser zu reisen
als alleine."
"Da gebe ich dir recht. Und wenn es im Wald
wirklich so gefährlich ist, dann ist es gut einen Feuermagier an der
Seite zu haben", sprach Gaya und erntete dafür ein warmes Lächeln.
"Ich bin sicher meine Magie ist überflüssig.
Gaya, du hast die Elementarmagie der Erde, aber was hast du, Cycil?"
"Wasser", antwortete er knapp.
"Dann steht ihr doch schon recht gut da. Die
Elemente sind mächtige Helfer", meinte Johannes.
"Ja, aber das Feuer ist das seltenste davon.
Wie viele Feuermagier gibt es schon in ganz Cinhyal?", sagte Gaya.
"Fünf", entgegnete er kurz und die Vier
sahen ihn ungläubig an. "Ja, ich weiß das ist verdammt wenig,
besonders, wenn man bedenkt, wie viele es jedes Jahr aufs neue versuchen.
Ich kenne sie alle. Der Älteste ist Nuab in Mendara – er wird dieses
Jahr hundertvier Jahre alt. Sein Nachfolger Patreth wird bald die Prüfung
ablegen und zählt schon zu uns. Dann gibt es noch Venara aus Jera,
sie treibt sich im Moment irgendwo in der Wüste herum, habe ich gehört.
Und Mayelle von Beneth. Sie war es, die den Turm von Deanor in Flammen
hüllte, und ruht sich derzeit aus. Ich bezweifle, dass sie je wieder
ihre Magie nutzen wird." Er seufzte. "Ich bin der Jüngste von ihnen,
von Patreth mal abgesehen."
"Wie alt bist du denn?", wollte Julian wissen.
"Fünfundzwanzig." Der Älteste
von uns, vermerkte Gaya. Dann fiel ihr auf, dass sie von Johannes als
einen von ihnen dachte.
"Ist es denn nicht zu früh zu sagen,
dass dieser Patreth einer von euch ist? Ich habe gehört, dass nur
jeder zwanzigste die Prüfung überlebt", sagte Cycil.
"Da hast du sicherlich recht, aber Patreth
ist sehr begabt. Wenn er die Prüfung hinter sich hat, kann er der
mächtigste von allen werden."
"Wer ist es denn jetzt? Der mächtigste?",
fragte Dajana neugierig. Johannes zuckte mit den Schultern.
"Entweder Venara oder ich. Die arme Mayelle
kann nicht mehr mitzählen, ich fürchte ihre Magie ist völlig
dahin." In seiner Stimme schwang ehrliches Mitgefühl mit. Es muss
wirklich seltsam sein zu diesen Feuermagiern zu gehören. Sie sind
eine aussterbende Rasse. Unter normalen Zauberern wäre man eher froh,
wenn ein Rivale aus dem Rennen wäre. Aber unter solchen Umständen
ist es etwas völlig anderes...
"Aus welcher Stadt kommst du eigentlich?",
fragte Cycil.
"Aus Raven." Dieser Name hatte eine sofortige
Reaktion zur Folge. Gaya wusste, dass ihr die Überraschung deutlich
im Gesicht stand, aber sie konnte sie kaum verbergen. Raven! Die alte Stadt.
Die Stadt der Magie. Sie lag fast unerreichbar hinter dem Hochgebirge Royala
und war von Legenden umwoben. Seit Jahrhunderten wurden die stärksten
Zauberer in dieser Stadt geboren, aber Besucher aus ihr wurden immer seltener,
weil das Gebirge von Jahr zu Jahr immer unpassierbarer wurde. Zu sagen
man käme von dort, war ungefähr das gleiche, wie wenn man behaupten
würde, die Inkarnation von Haldoneus zu sein. "Würdet ihr bitte
aufhören mich anzustarren, als wäre ich ein Gott?", sagte Johannes
gereizt. "Raven ist eine Stadt wie jede andere, nur dass dort Nachrichten
mit mehrjähriger Verspätung eintreffen."
"Es kommt nicht oft vor, dass man jemanden
von dort trifft", sagte Gaya vorsichtig.
"Es kommt auch nicht oft vor, dass eine Druidin
sich dazu entschließt halb Cinhyal auszurotten!", erwiderte er scharf.
"Hey! Wer spricht hier denn von Ausrottung?",
fragte sie empört, aber es war ein halbherziger Ausruf. Sie wollte
nicht mit ihm streiten. "Schon gut. Ich will keinen Streit."
"Ich auch nicht. Aber ich meine es ernst –
Raven ist eine ganz normale Stadt."
"Wir kommen alle aus der Gegend. Ich und Gaya
von Sunaj, Dajana ist hier geboren und Cycil in Jera", erzählte Julian.
"Raven ist so gut wie das Ende der Welt."
"Es ist das Ende der Welt", berichtigte
Johannes. "Und genauso öde, wie es sich anhört. Sprechen wir
nicht mehr davon. Also haben wir beschlossen durch den Wald zu gehen?"
"Beschlossen kann man das nicht nennen", murrte
Dajana.
"Ja", antwortete Julian ohne auf sie zu achten.
"Dann müssen wir uns ausruhen. Ich war
zwar noch nie in diesem Wald, aber ich bin mir sicher, dass an den Gerüchten
etwas dran ist. Wir werden unsere Kräfte wahrscheinlich brauchen."
"Gehen wir in den Gaul zum übernachten?",
wollte Cycil wissen. Johannes lachte auf.
"Natürlich nicht! Danaill und Rosalie
würden uns erwürgen! Wir bleiben selbstverständlich hier."
Er rief Danaill her. "Zeigst du uns unsere Zimmer, Danaill? Wir müssen
morgen früh aufstehen."
"Natürlich. Folgt mir." Der Mann führte
sie in einen der zahlreichen Gänge, der sich nach unten wand. "Ich
habe sehr viele Zimmer frei, derzeit ist nicht so die Besuchersaison."
Er zeigte auf mehrere Türen. "Sucht euch etwas aus. Soll Rosalie euch
bei Morgengrauen wecken?"
"Ja, bitte. Und vielen Dank dafür, dass
wir hier übernachten dürfen", sagte Dajana. Der Wirt lachte.
"Du bist mir vielleicht eine, Stromsyard!
Schade, dass du N’hoa verlässt, wir hätten dich garantiert aufgenommen!"
Dajana lächelte ihn an. Sie fühlte sich geschmeichelt.
Gaya zog erleichtert ihre Kettenrüstung
aus. Obwohl sie sehr leicht war, hatte Gaya sie in den letzten Stunden
überdeutlich gespürt. Den Stab lehnte sie an die Wand, wo der
Diamant an der Spitze in der Dunkelheit grün glänzte. Nur mit
einem luftigen Hemd bekleidet schlüpfte Gaya in das warme, gemütliche
Bett und kuschelte sich in die Decken. Es ging ihr durch den Kopf, wie
angenehm es doch war, zur Abwechslung mal in einem richtigen Bett zu schlafen.
Sie strich sich müde das Haar aus dem Gesicht und schloss die Augen.
Und nach so einem anstrengenden Tag war es kein Wunder, dass sie so schnell
einschlief.
© Martha
Wilhelm
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|