Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 4: Zeichen (2)

"Kein Bad? Was soll denn das heißen?", rief Dajana empört. Cycil legte leicht eine Hand auf ihren Arm um sie zu beruhigen, aber sie ließ sich nicht so einfach ausmanövrieren. Wütend streifte sie seine Hand ab und wandte sich wieder an den Gastwirt - einen großen, muskulösen Kerl mit einem buschigen Schnurrbart. "Ihr hört mir jetzt mal zu - wir sind seit drei Tagen unterwegs und haben unter freiem Himmel geschlafen! Uns durch Schlamm hindurchgekämpft! Durch Lianen! Was denkt ihr, wie wir uns jetzt fühlen? Mir ist ganz eindeutig nach einem Bad zumute!"
"Ja, das würde ich auch sagen. Aber im Moment kann ich euch keins anbieten. Bis morgen Abend ist alles reserviert."
"Reserviert? Reserviert?!" Sie kochte vor Wut. Sie wusste, dass sie ein rotes, fleckiges Gesicht hatte, aber das interessierte sie im Moment überhaupt nicht. Sie wollte ihr Bad und sie würde es bekommen! Und wenn sie dafür alle Anwesenden eigenhändig niederschlagen musste!
"Dajana, sei nicht so laut. Ich denke, dass wir dich auch so gut genug verstehen", mischte sich Cycil ein, schärfer als gewöhnlich. Sie drehte sich zu ihm um, bereit, ihre Wut auf ihn zu entladen und bemerkte im selben Augenblick die unnatürliche Blässe seines Gesichts. Die Erinnerung an seinen verletzten Arm durchfuhr sie wie ein Blitz. Ebenso wie der Anblick des Verbands, den Gaya gemacht hatte, und der sich so mit Blut vollgesogen hatte, dass es fast schon braun aussah. Sie schluckte ihren Zorn herunter und senkte beschämt den Blick.
"Tut mir leid", sagte sie leise. "Ich hatte es ganz vergessen..." Er schüttelte den Kopf.
"Macht nichts. Es ist nicht so schlimm, nur dass mir ein wenig schwindelig ist..." Und mir schwarze Punkte vor den Augen tanzen, fügte er in Gedanken hinzu. "Ich muss mich nur kurz hinlegen und die Verbände erneuern..."
"Nein, du brauchst einen Heiler!", widersprach Dajana energisch. "Habt ihr einen Heiler hier?"
"Das hier ist eine Kneipe", bemerkte der Wirt. Sie stöhnte. Zur Hölle mit Julian und seinen Vorschlägen!
"Dann holt gefälligst einen Heiler her! Mein Freund hier verblutet!"
"Also so drastisch würde ich das auch nicht ausdrücken...", wandte Cycil vorsichtig ein und verstummte schnell, als sie ihn mit einem funkelnden Blick ansah.
"Du bist jetzt still! Du musst dich schonen. Ich habe irgendwo gehört, dass es nicht gut für die Gesundheit ist, wenn man zu viel Blut verliert." Der Wirt räusperte sich.
"Es ist wirklich nicht besonders gut für die Gesundheit, wenn ich mal bemerken darf. Aber trotzdem haben wir hier keinen Heiler, da könnt ihr jeden fragen..."
"Was ist das hier für eine bescheuerte Stadt?", beschwerte sich Dajana lautstark. Zwar war es in der Kneipe ziemlich laut - sie war zum Bersten voll, und fast nur mit Männern -, aber man hörte sie trotzdem überall. "Keine Heiler, kein Bad, kein Abendessen..."
"Dajana..."
"Wieso man so etwas Hauptstadt nennt, ist mir wirklich schleierhaft!"
"Dajana, bitte..."
"Ich meine, in N’hoa ist es auch nicht so toll, aber wenigstens gibt es dort Heiler, wenn man einen braucht und gutes Essen und - stellt euch mal vor - sogar ein Bad..."
"Dajana, ich denke..."
"Hey, Mädel, was schwafelst du da?", fiel eine derbe Stimme ihm ins Wort. Endlich unterbrach Dajana ihren Redefluss und blickte sich um. Die Gespräche waren verstummt und alle schauten zu ihr rüber. Die meisten waren schon ziemlich angetrunken und die wenigen nüchternen schienen nicht willens zu sein, ihre Kameraden zu beruhigen. Die sehr, sehr verärgert aussahen. Dajana warf Cycil einen Seitenblick zu, der ungefähr soviel besagte wie Warum hast du mich nicht vom Reden abgehalten?!
"Ich habe es versucht", murmelte Cycil unglücklich. Er stützte sich am Tresen und griff möglichst unauffällig nach seinem Schwert unter dem Umhang.
"Was soll’n das? Sunaj is’ echt ’ne klasse Stadt, was schwafelst du da für ’nen Unsinn?" Der Sprecher war massig, rot im Gesicht und kahlköpfig. Er hatte drei Kumpels bei sich, die ähnlich patriotisch gelaunt waren und drohende Blicke um sich warfen. Cycil stöhnte innerlich. Genau das hatte ihm jetzt gefehlt. Eine Schlägerei, die Wachen herbeirufen würde, und er mittendrin, schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Hoch sollen die Götter leben, dachte er bissig und suchte nach einem Ausweg.
"Ähm, ich habe das nicht so gemeint...", stammelte Dajana und schluckte schwer. "Ich finde Sunaj echt toll, die Stadt ist so was von... interessant... und hübsch... man trifft allerhand netter Leute hier..." Der Typ kniff die Augen zusammen.
"Du machst dich lustig über uns!", stellte er finster fest.
"Nein! Nein, auf gar keinen Fall!", beteuerte sie. Dabei dachte sie ungefähr an das gleiche wie Cycil. Verdammt! Wo bleibt ein Ritter, wenn man ihn braucht? Sie warf ihrem Gefährten einen besorgten Blick zu und verdammte sich selbst, dass sie so unachtsam gewesen war. Mit solchen Kerlen hatte sie doch Erfahrung! Und jetzt hatte sie sie beide in große Schwierigkeiten gebracht. Die Frage war - wie sollte sie sie da raus bringen?
"Hör zu, Mädel, ich und meine Kumpels mög’n es gar nich’, dass du hier so ’nen Stuß erzählst. Einer muss dir wohl ordentlich zeigen, wo lang es geht."
"Nein, das weiß ich selbst ganz gut!", meinte sie schnell und wich zurück, obwohl sie schon am Tresen stand und nicht mehr weiterkonnte. Der Wirt beschloss, sich einzumischen.
"Leute, ruhig Blut! Die beiden sind nicht von hier und ziemlich dämlich. Ihr wollt eure Schlagkraft doch nicht auf zwei Narren verschwenden?"
"Warum nich’? Was Besseres hab’n wir eh nich’ zu tun", widersprach jemand ziemlich hilfreich.
"Wie wär’s mit noch ein wenig Bier?", schlug der Wirt vor.
"Nich’ jetzt, Herbie. Zuerst zeig’n wir den beiden, was für ’ne tolle Stadt das hier is’." Der Kerl stand auf. Er war etwas unsicher auf den Beinen und wäre beinahe umgefallen, aber seine Kumpels stützten ihn, bis er wieder sicheren Halt hatte. Der Alkohol hatte ihn aggressiv gemacht und er griff nach einem Stuhl um ihn anscheinend als Waffe benutzen zu können. Der Wirt presste die Lippen zusammen.
"Ich rufe die Wachen, wenn ihr euch nicht augenblicklich wieder normal benehmt!" Nein, dachte Cycil verzweifelt. Was hatte alles bisher für einen Sinn gehabt, wenn er jetzt geschnappt werden würde? Wozu war er am Leben geblieben? Die Götter mussten etwas mit ihm vorhaben. So konnte es nicht enden. Er holte tief Luft und ignorierte die pochenden Schmerzen und die Schwäche. Er hatte Faynea nicht überlebt, um hier von Frederique erwischt zu werden. Fest entschlossen, es nicht soweit kommen zu lassen, zog er sein Schwert aus der Scheide.
"Wenn du uns zu nahe kommst, werde ich dich töten", sagte er ruhig. Dajana sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. "Und ebenso alle anderen, die vorhaben sollten, uns etwas zu leide zu tun. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?" Er dachte an die Giftdornen in seinem Mantel. Wenn es so weit kommen sollte, würde er sie einsetzen, vielleicht gegen die Wachen. Doch nicht früher. Das würde unnötige Aufmerksamkeit auf sie lenken. Er wollte nicht sofort aus Sunaj flüchten.
Der Mann zögerte. Vielleicht drang in sein umnebeltes Gehirn die Angst ein und er erkannte, dass eine Klinge auf jeden Fall schneller war als ein Stuhlbein. Oder er wollte nicht die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich lenken – über die Verliese der Burg wurden schlimme Sachen erzählt. Cycil hoffte, dass man nicht merkte, dass er zitterte. Die schwarzen Punkte waren immer noch da. Nicht der richtige Zeitpunkt, um ohnmächtig zu werden, dachte er grimmig.
"Ishfar hat keine Angst vor so einem Grünschnabel!", rief der Typ dann. Grünschnabel, von wegen. Cycil umklammerte den Schwertgriff fester und zwang das Bild der Wüste vor sein inneres Auge. Blut gegen Blut, Schmerz gegen Schmerz. Ich habe geschworen, die Toten zu rächen. Einen Augenblick lang meinte er die Hitze noch mal zu fühlen, die ihn beinahe umgebracht hätte, den harten Sand unter seinen Fingern. Ein hartes Augenpaar, das ihn verächtlich musterte. Das Zittern verging. Borean soll stolz auf mich sein. Er löste sich von der Theke und ging dem Mann entgegen. 
In diesem Moment öffnete sich die Holztür der Kneipe knarrend und jemand trat ein. Grünes Licht flammte auf und blendete alle, als wäre ein Blitz unter sie gefahren.
"Was geht hier vor?", verlangte eine Stimme zu wissen, hart wie geschliffener Stahl.

Gaya war alles andere als erfreut, Morgana zu begegnen. Sie hatte eigentlich gehofft, noch mal allein mit Tomas sprechen zu können, um ihm zu danken, dass er sie vorhin vor einem neuerlichen Streit bewahrt hatte. Aber der Junge war irgendwohin verschwunden – aufs Zimmer gescheucht worden, vermutlich – und der einzige Mensch im Gästezimmer war ihre Tante Morgana. Gaya wäre liebend gerne sofort umgekehrt, aber Morgana hatte augenscheinlich auf sie gewartet und kam ihr mit entschlossener Miene entgegen. Ihr dichtes, schwarzes Haar fiel ihr in glänzenden Locken über die Schultern und wurde am Hinterkopf kunstvoll aufgetürmt mit einer silbernen Spange zusammengehalten. Sie war wirklich eine schöne Frau, trotz ihrer Hakennase. Auf den ersten Blick konnte man sie sogar für liebenswert halten - bis einem die stechenden, grauen Augen auffielen und der verächtliche Ausdruck auf ihren vollen Lippen. Gaya war sich nicht sicher, warum Kyie sie geheiratet hatte - weil er mit einem anderen Körperteil als dem Verstand gedacht hatte oder weil ihre Familie einen guten Ruf besaß. Beides schien ziemlich wahrscheinlich zu sein.
"Gaya, ich muss mit dir sprechen."
"Worüber denn, Tante?", erkundigte sie sich höflich.
"Über deinen Einfluss auf meinen Sohn!" Gaya musste seufzen.
"Ich übe keinen Einfluss auf Tomas aus."
"Natürlich nicht!", höhnte sie. "Und diese lächerliche Idee mit der Magierin hat er auch nicht von dir, wie?"
"Was für eine Magierin?" Morgana kniff die Lippen zusammen und verschränkte die Arme ineinander.
"Tu nicht so, als ob du nicht Bescheid wüsstest! Ich durchschaue dich, Gaya, ich weiß, was du vorhast!"
"Ach?"
"Du willst meinen kleinen Jungen verderben und ihn vom richtigen Weg abbringen! Du willst ihn ebenso tief in die Schande treiben wie dich selbst!"
"Warum sollte ich das tun?"
"Aus Rache! Aus Eifersucht und Neid!", verkündete Morgana lautstark. Gaya musterte sie interessiert.
"Tatsächlich? Warum bin ich denn eifersüchtig auf dich? Und was hat es mit der Rache auf sich?"
"Hör auf, mich zu verspotten!" Sie war ernsthaft wütend. Gaya war überrascht - wer hätte gedacht, dass ihr Tomas so am Herzen lag? "Eins sage ich dir, Druidin - nie, nie wirst du an mich herankommen! Egal, was du versuchen magst, um gleichwertig mit mir zu werden, niemals wirst du meinen Stand erreichen! Ich stehe weit über dir und das wird sich nicht einmal ändern, wenn die Erde aufbricht und ganz Cinhyal verschlingt! Du bist ein Nichts und das wirst du auch bleiben, bis ans Ende deines jämmerlichen Lebens! Und so sehr du auch versuchst, mein Glück zu zerstören, es wird dir nicht gelingen! Ich werde mein Heim und meine Familie bis zum letzten verteidigen und von dir fernhalten! Also wage es ja nie mehr meinen Sohn anzurühren oder ich werde dir die Augen rauskratzen! Ich werde dich so zurichten, dass selbst deine Druiden dich nicht wiedererkennen werden! Hast du mich verstanden?" Ihr Gesicht war höchstens eine Handbreite von Gayas entfernt und die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze. "Hast du verstanden?", fragte sie noch mal leise. Gaya fühlte in sich ebenfalls Zorn anschwellen, wie eine heiße Flut aus ihrem Innern, die sich in einem Ausbruch befreien wollte. Noch nie hatte man sie so sehr beleidigt, seit sie die grüne Insel der Druiden zum ersten mal betreten hatte. Sie - ein Nichts? Gaya war in Selbstbeherrschung geübt, doch in letzter Zeit hatte sie diese Lektion gefährlich verkümmern lassen und jetzt musste sie sich schwer anstrengen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Für einen kurzen Augenblick, etwa zwei Lidschläge lang, strahlte der Diamant auf wie ein explodierender Stern. Dann hatte sie ihre Macht wieder unter Kontrolle und er erlosch.
"Ich verstehe, was du sagen willst, Morgana", sagte sie endlich und ihre Stimme war vollkommen ruhig. Nur eine gewisse Angespanntheit in ihren Zügen zeugte von der Anstrengung, die Oberhand über ihren Zorn zu behalten. Aber Morgana sah nur das freundliche Lächeln, das sich auf Gayas Gesicht zeigte und achtete nicht auf das Dahinterliegende. "Es tut mir leid, wenn du gedacht hast, ich versuche Tomas auf meinen Weg zu lenken, denn so ist es nicht. Der Junge braucht meinen Einfluss nicht, um Entscheidungen bezüglich seiner Zukunft zu treffen."
"Pah! Als ob er schon irgendwelche Entscheidungen treffen könnte! Aber das geht dich nun gar nichts an, Gaya. Merk dir, was ich gesagt habe und vergiss es bloß nicht wieder!" Morgana wandte sich von der bewegungslos dastehenden Druidin ab und stolzierte aus dem Zimmer. Hätte sie noch mal zurückgeblickt, hätte sie gesehen, wie sich Gayas Gesicht von der freigelassenen Gewalt ihrer Wut verzerrte und der Stab aufglühte. Ein schwarzer Blitz zuckte von ihren Fingern und schlug geräuschlos in einen Stuhl ein, der sofort zu Asche wurde.
Immer noch außer sich verließ Gaya mit zusammengebissenen Zähnen das Haus ihrer Eltern. In ihrer Wut vergaß sie sogar die Fragen, die sie Tomas hatte stellen wollen.

Keine weiteren Gegenstände wurden Opfer ihrer schlechten Laune, was an sich gesehen fast schon ein Wunder war. Gaya achtete kaum auf ihren Weg. Ihr Körper zitterte vor der Wucht der Gefühle in ihr und der Hass, der sie durchpulste, hätte ausgereicht, um ein ganzes Haus restlos zu zerstören.
Dabei wusste sie nicht einmal richtig, warum sie so furchtbar aufgebracht über Morgana war. Na schön, die Frau hatte sie beleidigt, noch dazu ihren eigenen Sohn und indirekt den ganzen Orden. Aber das war doch noch lange kein Grund, den übelsten Gefühlen freien Lauf zu lassen! Das war nicht das erste mal, dass Gaya so von Angehörigen ihrer Familie gekränkt wurde – als Albert ihr das erste mal angeboten hatte, sein Bett zu teilen, hatte sie ihn auch nicht eingeäschert! Warum also ausgerechnet dieses Gespräch mit Morgana?
Um logisch nachzudenken, war sie wirklich nicht in der Stimmung, aber nach einer Weile beruhigte sie sich ein wenig und etwas kristallisierte sich heraus. Morgana hatte ihr ganz unverhohlen gedroht. Sie hatte Gaya behandelt als wäre diese völlig machtlos und das hatte in ihr diese Wut entfacht, der sie nur schwer Herr werden konnte. Gaya war es nicht gewohnt, sich Drohungen anhören zu müssen, ohne etwas dagegen tun zu können. Im Grunde ist das bloß verletzter Stolz. Ein miserabler Grund, um alles in Asche zu verwandeln. Sie seufzte. Der Zorn rauschte ab, nachdem sie seinen Ursprung erkannt hatte, doch er verschwand nicht, sondern blieb dicht unter der Oberfläche – bereit, bei der passenden Gelegenheit hervorzuspringen und die Herrschaft an sich zu reißen.
Man musste vorsichtig mit seinen Gefühlen sein. Sie waren der Schlüssel zur Macht, zur Magie. 
Das war das erste, was Gaya gelernt hatte, als sie in den Orden aufgenommen wurde. Als weißgewandete Novizin hatte sie mit fünf anderen zu Füßen des Druidenschamanen gesessen und zugehört, wie er von dem Wesen der Magie erzählte.
"Im Grunde genommen existiert die Magie in jedem Menschen. Sie ist ein Teil des Wesens der Menschen und ohne sie könnte man nicht leben, da schon das Dasein an sich Magie ist. Doch dieser magische Funke ist in den Meisten zu schwach, um sich zu offenbaren und sie bemerken ihn nicht. Es gibt jedoch auch einige Wenige, in denen die Magie so stark ist, dass sie nach Außen durchzudringen in der Lage ist und, richtig eingesetzt, Auswirkungen auf die Umwelt hat. Diese Menschen sind noch lange keine Zauberer, doch haben sie das nötige Potential und mit der richtigen Ausbildung können sie lernen, ihre Gabe zu kontrollieren und für sich zu nutzen. Die Ausbildung enthält vor allem Prüfungen, die beweisen sollen, ob der- oder diejenige die Fähigkeit überhaupt beherrschen kann, und kann unterschiedlich lang dauern, da das Tempo von dem Auszubildenden abhängt. Außerdem wird der Schüler über das Wesen der Magie aufgeklärt, denn um zu lernen, muss er verstehen.
Nun, als erstes müsst ihr alle wissen, dass Magie ein untrennbarer Teil des Menschen ist und daher von ihm abhängig ist. Deswegen ist ihre Stärke, ihre Kraft von dem Menschen abhängig – genauer gesagt von seinen Gefühlen. So wie starke Gefühle ungeahnte Kräfte in uns wecken, können sie helfen, den magischen Funken zu einem Feuer anschwellen zu lassen, das alles verbrennen kann. Wenn man es nicht unter sorgfältiger Kontrolle behält. Deshalb ist es besonders wichtig, niemals die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren, denn dies würde auch der Magie freien Lauf lassen und sie würde euch und alles in eurer Nähe zerstören. Merkt euch das für immer und wagt es nicht zu vergessen! Magie und Gefühle gehören zueinander - je stärker das eine, desto stärker auch das andere. Jemand, der nicht fähig ist, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, kann auch nicht auf starke magische Fähigkeiten hoffen."
Gefühle waren wichtig, aber auch gefährlich. Diese Lektion hatte sich Gaya gut eingeprägt. Sie hatte geschworen, sich nie die Zügel aus der Hand nehmen zu lassen. Und doch wäre es beinahe passiert - nur weil eine einfältige Frau es gewagt hatte, ihr zu drohen.
Gaya war entsetzt über sich. Wie hatte sie so leichtfertig mit ihrer Wut umgehen können? Ein kalter 
Schauder lief kribbelnd über ihren Rücken als sie daran dachte, was hätte geschehen können, wenn sie nicht geistesgegenwärtig die Kraft unterdrückt hätte.
Ich werde unvorsichtig. Verdammt unvorsichtig. Wie kommt es, dass mir die strenge Disziplin meines Ordens so schnell abhanden gekommen ist? ... Es muss an dieser ungewohnten Vertrautheit liegen. Auf Yasing gab es diese Distanz zwischen uns allen. Von Druiden wird erwartet, unnahbar und mächtig zu sein, so gut wie unbesiegbar. Aber das kann nicht in der wirklichen Welt funktionieren, nicht auf Dauer jedenfalls. Allein kann man nichts schaffen, es muss Vertrauen geben und vielleicht auch Freundschaft. Und ich... ich muss einen Weg finden, dieses Vertrauen aufrecht zu erhalten und gleichzeitig die Regeln meines Ordens zu befolgen.
Sie blieb stehen und strich sich eine Strähne ihres Haares zurück. Vertrauen - wie konnte sie zu diesen Leuten Vertrauen fassen, die sie nicht einmal kannte? Alle verschwiegen etwas, etwas wichtiges über sich und die Vergangenheit. Sie konnte nicht einmal sicher sein, dass sie keine Lügen über sich selbst erzählt hatten! Gaya wünschte sich plötzlich, die Fähigkeit der Dunkel- und Lichtmagier zu haben, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Einzig Dajana schien aufrichtig zu sein, doch auch da konnte sie es nicht hundertprozentig wissen. Wenn man sich als Beispiel mal Cycil ansah – sie kannte keinen Menschen, der so unergründlich war wie dieser Mann. Aber was bleibt mir anderes übrig als ihnen zu vertrauen? Die Große hat gewollt, dass ich bei diesem Wahnsinn mitmache und das werde ich auch tun. Alles geschieht in Ihrer Absicht. Das heißt alles muss Ihrem Sinn dienen. Warum soll ich dann daran zweifeln?
Sie atmete tief ein und Ruhe kam über sie. Alles hatte den Zweck Ihr zu dienen, also warum sich Sorgen machen? Sie setzte sich wieder in Bewegung und ließ ihre Gedanken treiben.
Als "Der Hammereisen" vor ihr auftauchte, verzog sie das Gesicht. Natürlich musste sich Julian so einen dreckigen Schuppen aussuchen! Und wenn es hier noch so gutes Bier gab, das war noch lange kein Grund sie hierher zu bringen! Ich hätte auf "Die Goldene Lilie" bestehen sollen...
Als sie sich der Eingangstür näherte, spürte sie, dass es Ärger gab. Als Druidin hatte sie eine Art zusätzlichen Sinn entwickelt, der ihr verriet, wann Gefahr drohte oder wenn etwas nicht stimmte. Es war keine zuverlässige Gabe, doch wenn sie auftauchte, dann nicht ohne Grund. Gaya hielt ihren Stab vor sich und ließ den Kristall von Zorn überfluten. Ein kaltes Glühen überzog die glatte Oberfläche und pulsierte im Rhythmus ihres Herzschlages. Zorn floss in ihren Adern wie eisiges Blut. Alles war ganz klar. Sie wusste es – ihre Freunde steckten in Schwierigkeiten.
Sie sprengte die Tür mit einem grellen Blitz und trat ein.
In dem kurzen Augenblick bevor der Blitz ganz erlosch, sah sie ein Bild vor sich, völlig bewegungslos, als seien alle Menschen in der Zeit eingefroren worden. Ein Haufen grobschlächtiger Männer mit roten Gesichtern, die mit Knüppeln und anderen Gegenständen bewaffnet auf zwei Menschen am Tresen zugehen wollten. Dajana drückte sich eng gegen die Theke und hatte ihre Augen ganz weit aufgerissen. Cycil stand vor ihr, mit diesem unfassbar ruhigen Gesichtsausdruck und dem gezückten Schwert, dessen Stahl kalt im Licht des grünen Blitzes aufglänzte. Hinter den beiden war ein schnurrbärtiger Mann gerade dabei, laut etwas zu rufen. Doch keiner bewegte sich. Alle Blicke waren auf Gaya gerichtet.
"Was geht hier vor?", fragte sie.
Der Blitz verschwand und die ganze Szene wurde um einige Nuancen dunkler. Gayas Blick war auf den Mann mit dem üppigen Schnurrbart gerichtet, der immer noch mit offenem Mund da stand und vergessen hatte, was er hatte rufen wollen. Dajana stieß ein leises, überraschtes Keuchen aus, das im stillen Raum wie ein Peitschenhieb widerhallte.
Mit einem scharfen, metallischen Geräusch wurde das Schwert zurückgeschoben.
Unerschütterlich sah Cycil in ihre Augen und für einen Moment hatte sie das Gefühl etwas anderes zu sehen - eine endlos weite, öde Fläche, Rinnsäle aus flüssigem Rot, ein glühender Feuerball am Himmel. Dann verschwand das Bild genauso schnell wie es erschienen war und hinterließ das Gefühl von flimmernder Hitze auf ihrer Haut.
"Hallo, Gaya. Du kommst genau richtig, wir wollten nämlich gerade gehen", sagte Cycil und ging seelenruhig an den Männern vorbei, auf sie zu. Dajana blinzelte verwirrt und stürzte ihm dann hinterher. Einer der Kerle streckte zögernd die Hand aus, wie um sie festzuhalten, hielt jedoch auf halben Wege inne, als ihn Gayas funkelnder Blick traf.
Cycil erreichte sie ohne seinen Gang zu beschleunigen und erst jetzt bemerkte sie die Blutspur, die sich hinter ihm her zog. Sorge dämpfte die Wut in ihr und das Leuchten des Smaragds wurde schwächer. Dajana holte ihn ein und ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließen die Drei die Kneipe. 
Der Gastwirt klappte den Mund zu.

"Cycil, geht es noch?", erkundigte sich Gaya besorgt.
"Ja, alles in Ordnung", hörte er sich selbst sagen. "Mir ist nur ein wenig schwindelig, nichts weiter." Seine eisige Konzentration war furchtbarer Müdigkeit gewichen, die sich in all seinen Gliedmaßen festgesetzt zu haben schien. Er hatte den Eindruck, dass sich die Umgebung ein wenig drehte, allerdings kam er nicht darauf, warum es so war. Bedauern durchfuhr ihn, als seine Hand kurz den Knauf des Schwertes streifte. Ein Kampf hätte ihm gut getan...
Erschrocken merkte Cycil, dass eine blasse Gestalt auf sie zukam. Sie hatte kein Gesicht. Nein! Lasst mich in Ruhe! Geht weg!
Er wäre zurückgewichen, wenn ihn nicht jemand daran gehindert hätte. 
"Cycil, was ist denn? Hör auf zu zappeln, wie soll ich denn so deinen Verband erneuern?",  fragte Gaya ärgerlich. Er hörte ihre Stimme von weit her, ihr Gesicht war ein verschwommener Fleck. Das einzige was er sah, war das Wesen, das immer näher kam. Nein! Bleibt mir vom Leibe! Ich habe es nicht getan, ich war es nicht! Seine Gedanken waren unklar, verworren. Allein die Nähe der weißen Gestalt machte es ihm unmöglich nachzudenken. Alles in ihm schrie danach wegzulaufen, bloß wegzulaufen, bevor sie heran war, bevor sie ihn berühren konnte. Ich war es nicht... Wenn er noch Kraft gehabt hätte, hätte er diese Worte geschrieen.
"Cycil!" Näher, näher... Cycil konnte nicht mehr stehen. Es war alles nur ein Traum... Er war wieder zurück in der Wüste, allein und doch umkreist von tastenden Schatten, umgeben von Nichts außer dem Tod und ihren wispernden Stimmen...
"Cycil!" Wer rief ihn? War sie es?
"Ich war es nicht...", hauchte er mit seiner letzten Kraft. Ein gesichtsloses Etwas mit verwesendem Fleisch und bluttriefenden Armen nahm ihm die Sicht. Ist das endlich der Tod?, fragte er sich, ein wenig überrascht. So schnell ging es? Warum dann das Ganze? Warum die ganze Qual, der Schmerz, die grausame Pein? Warum war er am Leben? Es war zu viel. Sein Verstand setzte aus und ließ nur Gedankenfetzen zurück, die an die Oberfläche trieben.
Die Götter... Es sind die Götter, die ihr grausames Spiel mit mir spielen, um mich zu strafen... Ich habe sie sterben lassen... Sie alle... Aber warum das ganze Blut? Warum mussten sie sterben?
Ein greller Schmerz explodierte in seinem Gesicht. Cycil schrie auf, doch in Wirklichkeit war es nicht lauter als das Flüstern des Windes in den Baumkronen. Das Gesicht vor ihm wandelte sich, wurde jünger und schien wieder mit Leben erfüllt. Einen Augenblick lang meinte er Milena vor sich zu haben, bis er dann Gaya erkannte. Sie holte mit der Hand aus, um ihm eine weitere Ohrfeige zu geben.
"Nicht...", flüsterte er. Sie ließ die Hand sinken und atmete auf.
"Gut, dass du wieder zu dir gekommen bist! Ich dachte, du..."
"Was ist los?", unterbrach er verwirrt. Wo war der Tod hin?
"Du bist bewusstlos geworden", erklärte sie und sah ihn prüfend an. "Der hohe Blutverlust. Du brauchst sofort einen Heiler." Cycil blinzelte mehrmals, um schärfer sehen zu können. Er stellte fest, dass er auf dem Boden lag, sein Kopf ruhte auf Gayas Arm. Es war aus irgendeinem Grund dunkel. Er konnte sich nicht erinnern, dass es vorhin schon so gewesen war. Vorhin – wann war das überhaupt gewesen?
"Es geht schon", sagte er mit fester Stimme. Mit ihrer Hilfe schaffte er es aufzustehen. Sofort tanzten schwarze Punkte vor seinem Auge auf und ab. Er holte tief Luft und sammelte Kraft. Dann riss er die Augen auf. Hinter Gaya stand Dajana und neben ihr... war die geisterhafte Gestalt, das gesichtslose Wesen. Fahl wie der Tod... Cycil schüttelte den Kopf und kniff die Augen fest zusammen. Als er sie öffnete, war das Wesen verschwunden. Neben Dajana stand eine Frau im mittleren Alter, ein weißes Kopftuch um die dunklen Haare gelegt. Sie unterhielten sich leise.
"Wer... ist das?", fragte er. Gaya warf der Frau einen kurzen Blick zu.
"Keine Ahnung. Ich kenne sie nicht."
"Wie lange war ich bewusstlos?"
"Sehr kurz. Ein paar Sekunden, nicht länger."
"Warum ist dann alles... so dunkel?" Sie zog die Augenbrauen zusammen.
"Es war auch vorhin schon so dunkel, Cycil." Er schluckte und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Es war nicht reell gewesen, gar nichts davon. Die Geister waren nicht erschienen. Sein Puls raste, das Blut rauschte in seinem Kopf.
Ich habe die Kontrolle verloren. Ein Augenblick der Schwäche und schon war alles wieder da. Das darf nicht passieren. Wer weiß – vielleicht waren sie ja doch noch real. Für einen kurzen Moment habe ich nicht aufgepasst und sie waren auf der Stelle wieder da. Das darf ich nicht wieder zulassen.
Er prüfte nach. Ja, sie war noch ein Stück offen. Kein Wunder, dass weißer Nebel sein Blickfeld verschleierte. Er konzentrierte sich. Die Mauer muss geschlossen bleiben. Ein dumpfer Knall, als der Wall um seine Gedanken sich wieder herabsenkte und alles innen einschloss - Schmerz, Geister, Hitze. Erinnerung. Aussperren. Mit einer letzten, qualvollen Anstrengung verschloss Cycil die Mauer. Aus.
"Cycil, nicht wieder in Ohnmacht fallen!"
"Nein, Gaya, keine Sorge. Ich fühle mich schon besser." Es ergab eine Leere in seinem Kopf, aber daran war er gewohnt. Hauptsache er brauchte sich nicht wieder zu erinnern.
"Wirklich?"
"Ja. Es war nur ein kleiner... Schwächeanfall. Du hast es ja schon gesagt, hoher Blutverlust und so. Mit wem spricht Dajana da?" Gaya drehte sich zu Dajana um und Cycil war froh, ihrer Aufmerksamkeit entronnen zu sein.
"Dajana, was machst du da?", rief sie. Dajana führte die Frau zu ihnen.
"Das ist Lania. Sie hat eine Nachricht für uns, von unseren Freunden", erklärte sie.
"Wie lautet sie?" Lania hob ihre dunklen Augen zu Gayas Gesicht und sprach zögerlich, mit einer schweren Aussprache:
"Eure Freunde lassen euch ausrichten, dass sie auf euch im Palast der großen Zauberin warten. Ihr seid alle eingeladen, dort die Nacht zu verbringen." Alay Sorèndyo. Cycil schloss kurz die Augen und versuchte seine Verzweiflung zu verbergen. Er hätte es wissen müssen. Alay Sorèndyo, die Lichtzauberin von Sunaj.
Die Stimme der Götter.

Die Tür öffnete eine unscheinbare Frau um die Dreißig. Gaya begrüßte sie höflich und mit einem netten Lächeln.
Lania hatte ihnen nichts über Alay Sorèndyo erzählt, außer, dass diese die mächtigste Zauberin in der Stadt war und niemanden zu sich ließ. Sie hatte ihre Angst nicht verborgen und war schnell verschwunden, nachdem sie sie zum Palast geführt hatte. Gaya wusste nicht, ob diese Angst gerechtfertigt war, aber es schien nicht so als wäre Alay ein so furchtbarer Mensch wie es die Gerüchte besagten. Schließlich hatte sie ihnen angeboten, bei ihr zu übernachten. Und Gaya hoffte, dass sie auch genug von der Heilkunst verstand, um Cycil helfen zu können.
"Tretet ein und seid willkommen", sagte die Frau. Sie hatte einen kühlen Tonfall, nicht unbedingt unfreundlich, aber auch nicht sehr liebenswürdig.
"Seid ihr Alay Sorèndyo?", fragte Dajana neugierig. Als die Frau sie ansah, lächelte sie. Das Lächeln jagte Gaya einen kalten Schauder über den Rücken.
"Ja, das bin ich in der Tat. Nennt mich einfach nur Alay." Sie machte eine auffordernde Geste. Gaya ging hinein und glaubte im ersten Augenblick von Schlangen umgeben zu sein. Sie blinzelte überrascht und wich zurück. Dann sah sie, dass es keine Schlangen waren, sondern gewundene Zeichen an den Wänden, die sich bewegten.
"Habt keine Angst. Das sind bloße Verzierungen", sagte Alay. Gaya war sich da nicht so sicher, wollte aber nicht als Feigling dastehen und ging weiter. Dajana folgte ihr zögernd und trat ihr fast auf die Füße, so dicht blieb sie hinter ihr. Cycil, der sich irgendwie alleine auf den Beinen hielt, ging hinterher. Seine Augen huschten über die Symbole, ohne sich von deren Lebendigkeit verwirren zu lassen. Als Alay das sah, runzelte sie die Stirn. Lautlos fiel die Tür zu.
Gaya blieb stehen und wartete darauf, dass Alay sie einholte. Sie verspürte Widerwillen, allein weiterzugehen. Wer wusste schon, was sie in diesem Haus erwartete? Als Alay sich zu ihr gesellte, erinnerte sich Gaya daran, dass sie sich ihr gar nicht vorgestellt hatten. Gerade als sie das nachholen 
wollte, trafen sich ihre Augen und sie vergaß, was sie hatte tun wollen.
Es war ein höchst unangenehmes Gefühl. Als ob diese Frau direkt durch sie sehen konnte und es ihr keine Mühe bereitete, alle Gedanken, Wünsche und Ängste von Gaya zu betrachten, ohne dem große Bedeutung beizumessen. Gaya erinnerte sich gehört zu haben, dass Licht- und Schattenzauberer über die Macht verfügten, in die Köpfe anderer Menschen einzudringen. Sie hatte es für ein Gerücht gehalten.
Dajana erstarrte als Alay sie ansah. Dann fing sie an leise zu wimmern. Ohne besondere Eile schob sich Cycil zwischen sie und die Zauberin und unterbrach deren Blickkontakt. Alay zog die Augenbrauen zusammen - wie konnte er es wagen dazwischen zu kommen? Dajana stolperte zurück und biss sich an die Unterlippe. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren.
Was dann geschah, ging unglaublich schnell vonstatten. Gaya sah noch, wie Alay ihre braunen, mit lila Sprenkeln durchsetzte Augen auf Cycil richtete und plötzlich selber ganz blass wurde. Schneller als das menschliche Auge folgen konnte, stürzte sie sich auf Cycil, warf ihn zu Boden und griff nach seinem Hals. Er keuchte, als sie ihm die Luftzufuhr abschnitt.
"Wer bist du?", zischte sie. Gaya wollte ihm zur Hilfe kommen, aber sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Magie hielt sie an Ort und Stelle gefangen.
"Ich bin Cycil Whynneyar", krächzte er. Ihr Griff wurde stärker.
"Lüg nicht!", schrie sie. "Wer bist du?"
"Cycil... Whynneyar", wiederholte er. Gaya hörte hastige Schritte. Aus den Augenwinkeln sah sie Julian und Johannes mit gezückten Waffen herbeistürmen. Bevor sie eingreifen konnten, hatte auch sie die Magie erstarren lassen. Alay schien sie nicht einmal zu bemerken. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Cycil, der völlig regungslos ihren Blick erwiderte. Gab es denn überhaupt etwas, was ihn aus der Fassung brachte?, fragte sich ein entlegener Teil von Gayas Verstand.
"Ich werde dir das Genick brechen, wenn du nicht sofort die Wahrheit sagst!", mahnte Alay.
"Ich wünschte, es wäre so einfach", sagte Cycil leise. Alay zögerte.
"Wer hat dich geschickt?"
"Niemand." Sie holte tief Luft und versuchte ihrem Zorn Herr zu werden.
"Warum... warum kann ich nichts sehen?", verlangte sie zu wissen.
"Weil ich es nicht will", antwortete er. Sie kniff die Augen zusammen.
"Soll ich dich in Stücke zerreißen?", fragte sie wütend.
"Du solltest mich nicht bedrohen, Alay. Das könnte schlecht für dich ausgehen", sagte Cycil überraschend kalt. Sie schnappte nach Atem und ließ ihn los. Plötzlich konnte sich Gaya wieder bewegen.
"Was ist hier los?", fragte Julian. Alay schien ihn erst jetzt zu bemerken. Verwirrung zeichnete sich für kurze Zeit deutlich auf ihrem Gesicht ab, bevor sie wieder ihre Fassung zurück erlangte.
"Ich muss mich entschuldigen. Mir ist wohl ein Fehler unterlaufen." Mit einem Lächeln sah sie Cycil an. "Aber ihr müsst verstehen, dass ich misstrauisch sein muss. Es sind schwere Zeiten. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen."
"Natürlich, Alay. Jeder kann sich mal irren", erwiderte Cycil ebenso liebenswürdig. Alay streckte ihm ihre Hand entgegen und half ihm aufzustehen.
"Wie war noch mal euer Name?", fragte sie.
"Cycil. Cycil Whynneyar."
"Willkommen in meinem Haus, Cycil. Es ist mir eine Freude euch kennen zu lernen."
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite." Er erwiderte ihr Lächeln. Gaya war noch mehr verwirrt als vorher. Was war gerade passiert? War überhaupt etwas passiert oder hatte sie sich alles eingebildet? Etwas benommen drehte sie sich zu Julian und Johannes um und fand ihre Verwirrung in ihren Gesichtern bestätigt.
"Warum habt ihr uns mit Magie festgehalten?", fragte Johannes misstrauisch. Er war nicht bereit, das Geschehene so schnell mit einer Handbewegung beiseite zu schieben wie Alay und Cycil.
"Ich habe nichts dergleichen getan", erwiderte sie unschuldig. Cycils Gesicht verzerrte sich plötzlich und er umfasste mit einer Hand den andern Arm. Alay sah ihn verwundert an und bemerkte dann den blutdurchtränkten Verband.
"Bei den Göttern, ihr seid ja verletzt! Verzeiht meine Gedankenlosigkeit. Kommt, ich werde mich darum kümmern." Sie stützte ihn und ging an Julian und Johannes vorbei, ins große Zimmer hinein. Die anderen blieben einen Augenblick lang unentschlossen im Flur stehen.
"Wie kommt ihr dazu, uns für die Nacht hier einzuquartieren?", fragte Dajana im Flüsterton.
"Ich wollte das nicht!", verteidigte sich Julian. "Johannes hat ihr Angebot angenommen."
"Ich hatte die Befürchtung, dass sie uns nicht gehen gelassen hätte", erklärte Johannes. "Irgendetwas will sie von uns, von uns allen. Und das hat nichts mit der Nachricht von Azur zu tun."
"Sie ist eine Lichtzauberin! Was kann sie von uns wollen?", fragte Dajana verzweifelt.
"Keine Ahnung. Aber sie ist stark. Ich bezweifle, dass wir einfach so gehen können", sagte Gaya.
"Hauen wir jetzt ab, solange sie nicht da ist!", schlug Dajana hastig vor.
"Und was ist mit Cycil?"
"Ach, die beiden scheinen sich doch prima zu verstehen."
"Sie wollte ihn umbringen!", wandte Johannes ein.
"Und jetzt redet sie ihn mit 'Ihr' an!", ergänzte Julian. Gaya nickte; das war ihr auch aufgefallen.
"Etwas stimmt hier mit Sicherheit nicht. Und ich will nicht hier bleiben und es heraus finden!"
"Dajana, sei kein Feigling!"
"Ach bitte, Julian, du willst hier genauso schnell verschwinden wie ich!"
"Das leugne ich nicht. Aber wir sind fünf gegen eine - so eine große Bedrohung kann sie nicht sein!"
"Eine Lichtzauberin. Eine Sorèndyo", gab Gaya zu bedenken.
"Wollt ihr nicht hereinkommen? Das Essen wird kalt", erklang da Alays tiefe Stimme. Ihre Augen wetteiferten im Leuchten mit den Symbolen an den Wänden. Wieder erschauderte Gaya.
"Natürlich, Alay. Sehr freundlich von euch", sagte Johannes und ging hinein. Der Duft gebratenen Fleisches schlug Gaya entgegen, vermischt mit dem Geruch nach frischem Brot. Alay lud sie mit einer Handbewegung ein, Platz auf dem roten Sofa zu nehmen und zuzugreifen. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers standen allerhand von Speisen und mehrere große Krüge. Das Gesteck reichte genau für sechs Personen.
"Vorher ist der Tisch noch leer gewesen", flüsterte Julian als sie sich hinsetzten. Gaya brauchte nicht zu fragen, was er mit "Vorher" meinte.
"Ich kümmere mich nur noch schnell um euren Freund und dann gesellen wir uns zu euch. Ihr könnt ruhig schon ohne uns anfangen", sagte Alay und verschwand aus dem Zimmer. Allein gelassen wechselten die vier bedeutungsvolle Blicke.
"Kann man das essen?", fragte Dajana als erstes.
"Wozu sollte sie uns schon vergiften wollen?", fragte Johannes.
"Aber vielleicht ein Zauber..."
"Ich spüre keinen", widersprach Gaya und nahm das dargebotene Essen genauer in Augenschein. Es gab alles, was man sich wünschen konnte: Salat, Fleisch, Suppe, Brot, Fisch und Gebäck. Sie nahm den Deckel von einem Krug und schnupperte. "Wein", verkündete sie.
"In diesem hier scheint Tee zu sein", sagte Julian. Wieder ein Blickwechsel.
"Wir sollten es uns schmecken lassen. Wenn es tatsächlich zu Schwierigkeiten kommen sollte, 
brauchen wir alle Kraft", sagte Johannes und goss sich heißen Tee ein.
"Heißt das, wir vertrauen ihr?", wollte Dajana noch mal wissen.
"Wenigstens für den Moment."
"Schön." Sie zog den Teller mit den Plätzchen zu sich. "Glaubt ihr, sie lässt mich mal ihr Bad benutzen?"

Alay schloss die Tür sorgfältig hinter sich und wandte sich dann Cycil zu. Er hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht und musterte das helle, kahle Zimmer, in das sie ihn gebracht hatte. Auf der Decke zogen sich Reihe um Reihe weitere Symbole hin. Sie merkte, dass er ihnen besonders große Aufmerksamkeit schenkte und runzelte die Stirn.
"Diese Zeichen sind uralt. Meine Vorfahrin, die dies Haus erbauen ließ, hat manche Räume damit gezeichnet."
"Wozu?"
"Ich denke, dass sie mächtige Zaubersprüche enthalten, die sie damals benutzt hat."
"Du denkst?"
"Ich kann sie nicht lesen", gab sie widerwillig zu. Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Alay stand da, mit Verbänden und einer Nadel in den Händen, und kam sich irgendwie überflüssig vor. Sie mochte dieses Gefühl absolut nicht, also versuchte sie wieder seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
"Tut euer Arm sehr weh?"
"Mein Arm?" Er sah zerstreut auf den roten Verband. "Ach ja, du wolltest mir ja helfen, Alay. Tut mir leid, ich hatte es einen Moment lang vergessen gehabt." Das glaubte sie ihm aufs Wort. "Es tut nicht sehr weh. Nur vorhin in der Schenke wurde mir ein wenig schwindlig."
"Ein wenig?" Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch, erzielte damit jedoch keine Wirkung. "Ihr seid in Ohnmacht gefallen und habt halluziniert." Sie wollte ihn mit diesem Beweis ihrer außergewöhnlich starken magischen Kraft beeindrucken und daran erinnern, dass sie Alay Sorèndyo war, die Lichtzauberin von Sunaj. Wieder einmal schlugen ihre Bemühungen jedoch fehl.
"Das ist übertrieben - auch die Erinnerung einer Druidin ist keine zuverlässige Informationsquelle. Ich bin weder ohnmächtig geworden, noch habe ich Halluzinationen gehabt. Nur ein kleiner Schwächeanfall", sagte er und riss sich endlich von den schimmernden Runen los. Alay hätte alles darum gegeben zu erfahren, was ihm diese Symbole gesagt hatten, was sie ihr nicht verraten wollten. Um ihre Gereiztheit zu verbergen, ging sie auf ihn zu und stellte alles auf dem kleinen Tisch ab. 
"Erlaubt ihr, dass ich die Verbände abnehme?"
"Natürlich." Vorsichtig löste sie die Bandagen, die bereits voller Blut waren, obwohl sie erst vor kurzem angelegt worden waren. Alay wusch die Wunde mit warmem Wasser aus und legte einen hässlichen, klaffenden Schnitt frei. Die Ränder der Wunde waren ungewöhnlich - welcher Waffe mochten sie entstammen? Cycil hatte die Augen geschlossen und atmete flach. Sie beschloss ihn später zu fragen. Behutsam machte sie sich an die Arbeit.
Die Wunde war schnell vernäht, obwohl sie so lang war. Alay strich eine Salbe darüber und wickelte frische Verbände darum. Dann verharrte sie kurz unentschlossen.
"Wenn ich meine heilenden Kräfte einsetzen soll, muss ich in euren Kopf sehen."
"Nein. Danke, Alay, aber die Wunde wird auch so heilen."
"Sehr langsam und schmerzhaft..."
"Schmerz wird mich schon nicht umbringen." Sie zuckte mit den Schultern. Einen Versuch war es wert gewesen.
"Bleibt noch einen Augenblick lang sitzen, sonst könnte euch ein erneuter... Schwächeanfall überkommen", warnte sie. Cycil bewegte den Arm prüfend und lächelte sie an.
"Vielen Dank, Alay. Ich bin sicher, es wird schnell heilen. Schon jetzt bereitet es so gut wie gar keinen Schmerz mehr."
"Das ist nur eine halbe Sache", sagte sie mürrisch. "Wenn ihr mich..."
"Nein", sagte er bestimmt. Es lag ein Ton von der Härte von Stahl in diesem Wort. Alay schüttelte unzufrieden den Kopf und fing an, sich die Hände zu waschen. Das Blut breitete sich im Wasser aus und färbte es hellrot. Sie bemerkte erstaunt wie Cycil schnell wegsah. Eine Aversion gegen Blut? Warum denn das? Es passte nicht. Egal, wie sie es drehte und wendete, es passte einfach nicht. 
"Ich hoffe, das Essen wird euch schmecken. Ich wusste nicht, was ihr bevorzugt, daher habe ich 
einfach von allem etwas genommen", erklärte sie um etwas zu sagen.
"Wir haben wirklich Glück so eine aufmerksame Gastgebrein gefunden zu haben", gab er zurück. 
Eine Zeitlang schwiegen beide.
"Wissen sie davon?", fragte sie plötzlich.
"Wovon?"
"Von der Wüste und... dem Blut." Er sah sie direkt an und Alay musste sich zusammenreißen, um nicht wegzuschauen. Aber all das Grauen in diesem Bild stürmte auf sie ein und ließ sie innerlich erbeben. 
"Wie könnten sie?", stellte er die Gegenfrage. "Aber du wirst ihnen nichts sagen, Alay."
"Ich weiß." Sie atmete erleichtert auf als er endlich den Blick abwandte. Dann wagte sie eine weitere Frage: "Sagt mir, warum. Warum sehe ich nur dieses Bild?"
"Würdest du mir sagen, wo sich dein kleines Mädchen in diesem Moment befindet?" Diesmal zuckte sie zusammen. Woher wusste er von Lanil? Er konnte nicht, das war völlig unmöglich. Und doch wusste er Bescheid.
"Wisst ihr es denn nicht schon längst?", fragte sie niedergeschlagen. Er lächelte.
"Woher denn? Nein, das ist dein Geheimnis, Alay. Bis die Zeit für sie gekommen ist." Er stand auf und streckte sich. "Es geht wieder. Gehen wir zu den anderen."
"Wartet!" Er sah auf sie nieder, wie sie da auf dem Boden kauerte und ihre Hände im Wasser wusch. "Sagt mir eins: könnt ihr diese Zeichen lesen? Versteht ihr, was hier geschrieben steht?"
"Würde dir ein Ja genügen? Würdest du ein Nein akzeptieren?" Sie zögerte.
"Nein", antwortete sie schließlich.
"Das habe ich mir gedacht. Was für einen Sinn hätte dann eine Antwort?" Ohne auf eine Erwiderung von ihr zu warten, verließ er den Raum. Alay sah auf ihre blutigen Hände nieder und merkte, dass sie zitterten.

Nach dem Essen waren sie alle gesättigt und zufrieden. Dajana streckte sich wie eine übergroße Katze und erklärte, dass das einzige, was ihr jetzt fehlte, eine Badewanne mit warmen Wasser wäre. Alay lachte und bot dem Mädchen an, die ihre zu benutzen. Dajana wäre Alay fast um den Hals gefallen.
"Ihr könnt nach ihr auch ruhig ein Bad nehmen, wenn ihr wollt", sagte sie, nachdem Dajana sich aufgemacht hatte, um das Wasser zu genießen.
"Oh, da sage ich nicht nein! Ich schleppe bestimmt den halben Walddreck in meinen Haaren mit!", sagte Gaya.
"Siehst auch ganz danach aus", zog sie Julian auf.
"Guck dich erst mal an! Der ganze Schlamm ist an deiner Rüstung hängen geblieben. Man könnte glauben, du wärst in ein Schlammloch gefallen."
"Bin ich auch! Und du mit!"
"Ich werde in diesen Wald nie wieder auch nur einen Fuß setzen", verkündete Gaya und goss sich noch ein wenig Tee ein. Sie fühlte sich angenehm schläfrig und entspannt. Erstaunlich, was eine gute Mahlzeit alles bewirken konnte.
"Nicht viele wagen es, den Weg durch den Celine zu nehmen", sagte Alay. "Aber ihr seid auf keine Hindernisse gestoßen, oder?"
"Nein, eigentlich nicht", antwortete Gaya ein wenig unbehaglich, da ihr der Fund des Obsidiandolchs im Kopf herumschwebte. Aber andererseits war das kein Hindernis gewesen, rechtfertigte sie ihre Worte vor sich selbst.
"Ihr habt wirklich Glück gehabt", fuhr Alay nach einer Pause fort, als klar wurde, dass keine weiteren Informationen zu erwarten waren. "Es hätte genauso gut sein können, dass sich Wegelagerer am Waldrand eingenistet haben."
"So nah an Sunaj gibt es keine Räuber", sagte Gaya überzeugt.
"Ach ja? Ich wünschte, du hättest recht. Dann bräuchten die Bürger Sunajs außerhalb der Stadt nicht um ihr Leben zu fürchten."
"So schlimm steht es?", fragte Cycil. Sie nickte düster und trank ihren Tee aus. Er hatte einen angenehm sauren Geschmack und war sehr kräftigend. Genau das richtige für erschöpfte Reisende.
"Nichts ist so wie es sein soll. Ich wünschte, wir würden noch in den alten Zeiten leben - dann könnte sich eine derandra serte um diese Sache kümmern und ich bräuchte mir keine Sorgen mehr zu machen", sagte Alay und zupfte geistesabwesend am Ärmel ihres Kleides.
"Ja, so eine Waffe wäre wirklich nicht zu verachten...", stimmte Johannes zu. Gaya, die keine Ahnung hatte, was eine derandra serte war und die es auch nicht interessierte, gähnte demonstrativ und streckte sich.
"Es ist schon mitten in der Nacht... Ich will nur noch ins Bett... aber selbstverständlich erst nach einem warmen Bad! Hoffentlich beeilt sich Dajana..."
"Sie wird noch eine Weile herumplanschen", meinte Johannes. "Vielleicht sollten wir ihr Bescheid geben, dass sie nicht die einzige ist, die..."
"Lasst ihr doch Zeit. Das arme Ding ist so dreckig gewesen, dass sie noch eine Weile brauchen wird, bis der Dreck abgeschrubbt ist. Es hat doch keine Eile... morgen habt ihr alle die Gelegenheit auszuschlafen...", sagte Alay und lehnte sich in ihren Sessel zurück. "Ich nehme nicht an, dass ihr so bald wieder weiterzieht... oder?"
"Wahrscheinlich nicht", antwortete Gaya vorsichtig. "Aber das müssen wir noch besprechen... morgen können wir das machen. Es gibt außerdem noch Einkäufe zu erledigen..." Alay nickte verständnisvoll und schenkte ihnen dann ein strahlendes Lächeln.
"Ich kenne die besten Warenhändler in der Stadt und kann euch beim Einkaufen behilflich sein! Dann dauert es nicht so lang und ihr werdet wirklich gute Ware bekommen."
"Eigentlich kennen sich Julian und Gaya hier ganz gut aus", erwiderte Johannes, "aber wir nehmen eure Hilfe liebend gerne an." Gaya gähnte wieder. Wie lange würde dieses Gör denn noch brauchen? Sie war wirklich müde. Na ja, ich kann mich bis dahin ja ein wenig entspannen... Ihr fielen praktisch die Augen zu. Sie kuschelte sich in die Sofakissen und stellte fest, dass sie wunderbar weich und flauschig waren. Aber im Vergleich zum Waldboden wäre ihr wahrscheinlich selbst der Boden als wunderbares Bett erschienen...
"Erzählt mal, Alay, habt ihr Familie? Oder lebt ihr ganz allein in diesem riesigen Palast?", fragte Johannes.
"Ja, das tue ich in der Tat. Ich bin ja nicht verheiratet und werde es wohl kaum irgendwann sein. Ich komme gut ohne Familie aus."
"Aber was ist mit euren Eltern oder sonstigen Verwandten?"
"Meinen Vater habe ich nie kennen gelernt. Meine Mutter ist vor zehn Jahren an einer Herzkrankheit verstorben... Ich bin natürlich ihr einziges Kind, so wie sie das einzige Kind ihrer Mutter gewesen ist und so weiter. Das geht seit Jahrhunderten so."
"Aus welchem Grund?"
"Ich glaube kaum, dass dich das interessiert."
"Wenn dies ein Geheimnis eurer Familie ist, werde ich euch nicht weiter danach befragen."
"Sehr freundlich. Aber warum erzählst du mir nicht etwas über deine Familie, Johannes? Ich würde sehr gerne mehr über das Leben in so einer sagenhaften Stadt wie Raven erfahren..." Gaya merkte, wie die Stimmen undeutlicher wurden. Ich bin dabei einzuschlafen! Sie wehrte sich gegen den Schlaf, der an ihr zerrte und stellte fest, dass sie dazu nicht in der Lage war. Diese Müdigkeit war einfach zu viel. Eine schöne Druidin bin ich... Schlafe beim Abendessen mit einem eventuellen Feind ein und lasse meine Freunde in Stich... Andererseits schien Johannes mit Alay ganz gut zurecht zu kommen. Julian war wahrscheinlich zu betrunken um überhaupt etwas mitzukriegen und Cycil... Cycil schweigt. Warum? Sie öffnete die Augen einen schmalen Spalt weit und kämpfte darum, sie nicht sofort wieder zufallen zu lassen. Cycil saß auf dem zweiten Sofa, ihr gegenüber, nippte an seinem Becher und hörte aufmerksam dem Gespräch zu. Etwas stimmt doch wieder nicht... Doch was es war, entglitt ihr. Gaya verlor den Kampf und versank in tiefen Schlummer.

"Hey, Gaya... wach auf..." Man rüttelte an ihrer Schulter. Gaya fühlte sich zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen, eingebettet in zähem Sirup, der sie nicht loslassen wollte. Aber die Stimme blieb und die Hand an ihrer Schulter ebenfalls. Gaya blinzelte müde und verwirrt.
"Was... ist... los?", murmelte sie. Gab es Schwierigkeiten? Sie konnte nicht erkennen, wer sie da aufgeweckt hatte, aber der Stimme nach war es Johannes. Sie erinnerte sich schwach daran, während seiner Unterhaltung mit Alay eingeschlafen zu sein und fühlte vage Schuldgefühle. War etwas passiert? 
"Alles ist in Ordnung", antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. "Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe. Aber es ist schon sehr spät und ich glaube, du hättest es in deinem Bett gemütlicher als hier."
"Ja, hast recht..." Sie gähnte. Dann fiel ihr etwas ein: "Bad...?"
"Kannst du morgen nehmen. Du würdest wohl wieder einschlafen und noch ertrinken... Komm, ich helfe dir..." Er zog sie auf die Beine und sie wäre auf der Stelle zurück gefallen, wenn er sie nicht festgehalten hätte.
"Ich schlafe noch...", erklärte sie und lehnte sich an ihn.
"Ich weiß. So ist es richtig, stütz dich auf mich... Es ist nicht weit..." Sie schleppte sich vorwärts, hauptsächlich, weil sie zu erschöpft zum Widersprechen war. Ihre Beine hielten sie kaum noch und er trug sie schon fast.
"Die Anderen...?"
"Sie sind schon schlafen gegangen. Ich und Cycil mussten Julian in sein Zimmer schleppen, er ist auch eingeschlafen... allerdings war es unmöglich gewesen ihn aufzuwecken. Morgen wird er gewaltige Kopfschmerzen haben." Gaya erinnerte sich, wie sehr der Ritter dem Wein zugesprochen hatte und lächelte schwach. Es war dunkel... oder kam ihr jedenfalls so vor. Als sie gegen etwas stieß, konnte sie nur erahnen, dass vor ihr eine Treppe lag.
"Wie soll ich..." Ohne Vorwarnung hob Johannes sie hoch und fing an langsam die Stufen hoch zu gehen. Sie erwog zu protestieren, entschied dann aber, dass es den Aufwand nicht wert war. Stattdessen klammerte sie sich an seinen Hals und das sanfte Schaukeln wiegte sie beinahe wieder in den Schlaf. Es kam ihr vor als sei sie wieder auf einem Schiff, das im Meer fuhr. Die Wellen schlugen gegen den Bug, und der Wind sang seine eigene Melodie dazu...
Sie bemerkte kaum, wie Johannes sie behutsam in ein weiches, duftendes Bett legte und ihr die Stiefel auszog. Sie kuschelte sich in die Decke, die er über sie zog, und genoss die Wärme. Das Lied des Windes wisperte ihr ins Ohr. Dann merkte sie, dass es Johannes war, der leise vor sich hin sang... Eine kühle Hand berührte kurz ihr Gesicht und verschwand dann. Gaya widmete sich wieder ihrem Traum.
Das Schiff trug sie davon.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 1. Teil des 5. Kapitels :-)

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