Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 6: Die Erinnerung an einen Traum

Alay band ihr Pferd nicht fest, da sie nicht wusste, wann die anderen ankommen würden, und sie sofort aufbruchsbereit sein wollte. Nicht, dass sie damit rechnete, sie bald ankommen zu sehen – sie wollte nur für alle Fälle sicher gehen. Mit verschränkten Armen gegen ihr Pferd lehnend stand sie da und beobachtete die Stadt.
Es war eine Art Prüfung, das konnte sie nicht abstreiten. Sie konnte ebenfalls nicht behaupten, die Götter hätten sie gefordert. Die Verantwortung dafür lag ganz bei ihr selbst. Aber man konnte doch nicht wirklich von ihr verlangen, ihr Leben mit denen von völlig fremden Menschen zu knüpfen, ohne zu wissen, wozu sie fähig waren? Für so naiv konnten selbst die Götter sie nicht halten.
Andererseits, warum ist Naivität etwas schlimmes? Ich würde eher sagen, es ist das Geschenk der Götter an die Kinder dieser Welt, damit sie eine freie, pflichtfreie Zeit haben können. Sie dachte wieder mit schmerzlicher Sehnsucht an Lanil, ihre kleine, süße Lanil, mit den dichten, braunen Locken und dem breiten Lächeln. Sie hatte das gleiche bezaubernd unschuldige Lächeln wie ihr Vater...
Alay brachte ihre Gedanken schnell unter Kontrolle, bevor sie sich anderen unerfüllten Sehnsüchten zuwenden konnten, denen sich zu stellen eine Aufgabe war, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Noch nicht.
Sie kratzte ihren Hinterkopf und verfluchte die billige Perücke, die sie trug. Sie zog sie so selten wie möglich an, nur bei Fremden zu Besuch oder wenn sie in die Stadt ging, aber jetzt wagte sie nicht sie auszuziehen, weil sie falsche Aufmerksamkeit fürchtete. Also behielt sie das Folterinstrument an und versuchte das Jucken zu ignorieren.
Da! Alays Körper spannte sich an wie Draht, als sie sich vorbeugte und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Westtor widmete. Die Magie war wie ein Leuchtfeuer über der Stadt und Alay mit ihren geschärften Sinnen schien es, als würden die magischen Blitze und Explosionen direkt neben ihr stattfinden. Sie hatte keine Zweifel daran, wer es war, der da so dreist die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt auf sich zog. Die Frage war, ob es daran lag, dass er am Tor erkannt worden war, oder ob er es freiwillig tat.
Cycil war es, der Alay Fragen aufgab, die sie nicht beantworten konnte. Die anderen waren mehr oder weniger offene Bücher für sie, in denen sie nach Belieben herumblättern konnte. Natürlich durfte sie nie den Fehler begehen und sie unterschätzen, aber solange sie sie im Augenwinkel beobachtete, konnte sie den Rest ihrer Aufmerksamkeit beruhigt Cycil widmen. Am meisten interessierte es sie, warum sie nicht in ihm lesen konnte. Da war ein Schutz, so was ähnliches wie ein Schild vor seinen Augen - nein, ein Bild, ein projiziertes Bild seines Bewusstseins, das ihn gegen ihre Kraft abschirmte. Alay rief sich ins Gedächtnis zurück, was sie gesehen hatte: eine weite Fläche bedeckt mit feinem, weißen Sand - eine Wüste möglicherweise -, das gnadenlose, rote Auge der Sonne am Himmel und überall sonst... Lachen, Flüsse, Seen von Blut.
Was hatte das zu bedeuten?
Alay beobachtete die strahlenden Blau- und Weißtöne am Himmel und fragte sich, was ihn zu solch einer gewaltigen Kraft befähigte. Gewiss nicht die Ausbildung, da war Alay hoffnungslos überlegen. Keiner wurde besser ausgebildet als eine Sorèndyo. Eine Vererbung? Möglicherweise. Sie wusste nichts über seine Herkunft, außer, dass er mit Sicherheit einer reichen Familie entstammte - die Manieren, die Ausdrucksweise, das Wissen. Vielleicht ein verstoßener Adliger? Alay erwog die These und befand sie für möglich. Ihre Richtigkeit würde sich leicht überprüfen lassen.
Aber dazu muss ich ganz in seine Nähe, überlegte sie. Er wird bestimmt keine Papiere in seiner Tasche tragen, die von solcher Wichtigkeit sind. Andererseits wäre es dennoch nützlich, seine Habseligkeiten zu erforschen, vielleicht gibt mir etwas anderes einen Aufschluss über...
In diesem Moment spürte sie die Magie des Dunkels.
Alay schnappte nach Luft und griff sich ans Herz. Ihre eigene Magie wallte auf und schickte sich an, eine leuchtende Aura um sie zu weben. Mit Mühe verhinderte sie das und sperrte die Magie tief drinnen ein, wo sie dem Dunkel entzogen war. Erst dann schaffte sie es, einen Atemzug zu nehmen.
"Ihr Götter", flüsterte sie mit weit offenen Augen. Wer setzte da so bedenkenlos die Schattenmagie ein? Welcher Trottel entfesselte die Magie des Bands ohne die Folgen zu bedenken? Und derjenige bedachte die Folgen wirklich nicht. Sie spürte es in ihrem eigenen, zitternden Körper, wie der Bindungsmagier seine volle Kraft auf Cycil richtete. Alay schloss die Augen und versetzte sich in den Zustand des Oemée, der Schwebetrance, zu der nur die Göttermagien verhalfen.
Durch die schwarze Leere des Raums schwebte sie zu den zwei leuchtenden Punkten am Horizont. Cycil war ein kalt glühender Stern, sein Gegner ein lilafarbener Nebel. Verbissen rangen sie miteinander, aber die Magien schimmerten nur schwach. Alay wusste, dass das bloß die Auren waren – noch war das Dunkel nicht erwacht. Doch dann durchlief den Stern ein Schauder und mit einmal loderte er empor, verscheuchte die Dunkelheit mit seinem Licht. Das Dunkel dehnte sich aus, wuchs in die Breite wie sein Gegner in die Höhe. Der Schattenmagier griff Cycil an, doch dieser zerschmetterte den Zauber so mühelos, dass Alay ungewollt beeindruckt war. Woher...?
Was sie dann sah, vergaß sie ihr ganzes Leben lang nicht.
Eine dritte Macht erschien in der Dunkelheit. Sie war schmutziggrau, doch flackerte hier und da ein bösartiges, rotes Licht auf. Der zerfetzt aussehende Nebel kringelte sich um Cycils Magie – nein, er hatte dort seinen Ursprung. Diese Magie kam ebenfalls aus Cycil, aber sie war nicht die seine.
Es war die Magie der Toten.
Alay wich schleunigst zurück, schirmte sich mit einem Dutzend Schilde ab, ohne darauf zu achten, dass man sie dadurch entdecken konnte. Wenn die Toten sie berührten, würden sie sie mitziehen! Doch sie hatte Glück - der Nebel der Toten richtete sich nur gegen Cycils Gegner und auch keiner der beiden Kontrahenten bemerkte ihre Anwesenheit. Dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Der Stern glühte auf und seine Energie floss in die der Todesmagie. Die lila Wolke kämpfte gegen den Nebel an, aber dazu war Cycils Stern viel zu stark. Die Magie des Dunkels sank in sich zusammen und der Nebel der Toten drang in sie ein, durchdrang sie ganz und leuchtete dann auf. Die verschiedensten Farben schimmerten auf, beherrscht von einem eisigen Blau und von dem schmutzigen Grau, die beide ineinander übergingen, fast das gleiche waren. Das Dunkel begann zu erlöschen. Es ging unter in den Schmerzen.
Alay spürte sie ebenfalls, wenn auch nur gedämpft. Aber zwischen Dunkel und Licht gab es immer eine Spannung, über die sich alles übertrug. Deshalb durchzuckten Alay auch die Angst, das Entsetzen, als wären es ihre eigenen Gefühle. Ihr Götter, woher kommt dieser ganzer Schmerz?, keuchte sie.
Die flüchtige Erinnerung an eine Wüstenlandschaft mit Unmengen von tropfendem Blut huschte an ihr vorbei.
Plötzlich tat die ganze Szene einen Ruck. Schneller als Alay ihr folgen konnte, zog die Magie der Toten sich in den Stern zurück und das Dunkel dehnte sich krampfhaft aus. Alay atmete wieder auf und spürte ihren echten Körper irgendwo draußen in der Finsternis zittern. Das Gebilde der Magie des Dunkels erlosch langsam, aber nur weil ihre Energie zu Ende ging. Ihr Träger war noch am Leben. 
Cycils Magie ging auch zur Neige. Noch einmal blitzte sie auf und glomm dann nieder, bis nur die normale Aura übrig blieb, die einen Zauberer immer umgab, und die man in der reellen Welt nicht sah. Alay flüchtete zurück in ihren Körper.
Das erste, was sie tat, war das Zeichen der Götter gegen den Wind zu malen und ein Gebet zu sprechen. Dann fing sie an, langsam und sorgfältig ihre Muskeln zu entkrampfen. Kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn und sie wischte ihn weg. Der Schrecken steckte noch in ihren Knochen und würde nicht so schnell vergehen. Was hatte sie da gerade gesehen?
"Ich werde nie wieder an Euren Entscheidungen zweifeln", flüsterte sie in der Hoffnung, die Allmächtige Fünf würden ihr törichtes Benehmen verzeihen. Jetzt wusste sie, dass da etwas Großes im Gange war, etwas, das sie durchaus anging.
Die Magie der Toten.
Alay erschauderte wieder.

Tomas hielt an. "Jetzt seid ihr in Sicherheit, glaube ich." Gaya sah zur Stadt zurück. Die Mauern verdeckten die Gebäude weitgehend, nur die Türme, manche Anwesen und das Schloss ragten darüber empor. Sie zupfte an einer Haarsträhne, beunruhigt.
"Danke, Tomas. Ich bin dir was schuldig", sagte sie schließlich.
"Keine Ursache. So was mache ich doch gerne! Aber denk dran, Gaya, das nächste mal, wenn du vorbeikommst, wirst du meine Mutter dazu überreden, mich zu einem Magier zu schicken, damit er mir alles über Acippa und die Drachen beibringt." Gaya sah ihn überrascht an.
"Was soll ich tun?"
"Du hast es mir versprochen." Er grinste frech.
"Wann denn?"
"Gerade eben", behauptete er. "Du hast gesagt, du bist mir was schuldig. Also wirst du zu meiner Mutter gehen und sie überreden."
"Erklär mir mal, wie ich Morgana zu etwas überreden soll! Sie wird mich bloß wieder anfauchen und..."
"Du bist doch Druidin. Ich dachte, ihr fürchtet euch vor gar nichts!"
"Na ja, ich fürchte mich auch nicht vor Morgana..."
"Prima! Also komm schnell wieder, Gaya, denn ich will so schnell wie möglich nach Acippa!" Er ließ ihr keine Zeit mehr für Protest, sondern redete gleich weiter. "Ich sollte jetzt zurück, sonst kriege ich Hausarrest für den Rest meines Lebens. Ähm, aber dürfte ich die Umhänge zurückhaben? Sonst kriege ich richtigen Ärger."
"Klar. Aber sag mal, woher hast du sie überhaupt?", fragte Gaya, der diese Frage sowieso schon die ganze Zeit über auf der Zunge gelegen hatte.
"Sie wurden bei uns in Auftrag gegeben. Meine Ma’ führt nämlich ein Geschäft, in dem Wäsche gewaschen wird, "Die Seemuschel" heißt es", erklärte er für Johannes. "Und es war halt so, dass zwei Kyazc-Priester ihre Gewänder zum Waschen gegeben haben. Und ich hab sie kurzerhand stibitzt." Er grinste wieder breit, während Gaya ihn anstarrte.
"Und wie hast du vor, das denen zu erklären?", erkundigte sie sich fassungslos.
"Es waren die Hunde", erwiderte er großäugig.
"Die Hunde?" Er nickte voller Unschuld.
"Die Hunde. Ganz gemeine Hunde waren das, die immer nach den Abfällen wühlen. Ich wollte gerade die frisch gewaschenen Umhänge den ehrwürdigen Priestern bringen, als sie mich angriffen, weil die Wäsche so lecker nach Kirsche gerochen hat. Was konnte ich da schon tun? Bin knapp mit dem Leben davon gekommen. Die Viecher haben mich fast in Stücke gerissen! Haben mich durch die halbe Stadt gejagt. Ich konnte nur knapp die Gewänder retten, aber dafür sind sie wieder schmutzig." Er schniefte höchst überzeugend mitleidserregend. "Es tut mir ganz doll leid." Gaya fragte sich, ob alle Jungen in seinem Alter schon so überzeugend lügen konnten. War das schon selbstverständlich geworden? Aber warum traute ihnen dann überhaupt noch jemand?
"Sehr überzeugend", meinte sie dann. "Aber hast du schon vergessen, dass niemand mehr in die Stadt reinkommt?" Tomas verzog das Gesicht und dachte nach. Schließlich zuckte er mit den Schultern.
"Ich schaff es schon irgendwie. Bin ja schließlich kein Kleinkind mehr! Die Wachen sind sowieso alle am Westtor. Unbemerkt vorbeizuschlüpfen, wird da kein Problem sein."
"Sicher?", fragte sie ihn besorgt.
"Sicher. Aber jetzt her mit den Umhängen, soviel Zeit bleibt mir nun wieder auch nicht."
Johannes und Gaya entledigten sich der silbernen Gewänder und gaben sie Tomas zurück. Gaya fühlte sich gleich viel besser. Nicht mehr so schuldig. Tomas nahm die Tasche vom Sattel des Pferdes, in der er den Rest der Sachen versteckt hatte, die er mitgenommen hatte.
"Hoffentlich merkt Ma’ nicht, dass ihr Schmuck weg ist", murmelte er und rieb einen Schmutzfleck von einem langen, goldenen Ohrring.
"Wolltest du die Wachen damit bestechen?", wollte Gaya wissen.
"Es hätte geklappt!", verteidigte er sich.
"Was ist nur aus Sunaj geworden?", brummte sie. Tomas verstaute alles ordentlich und gab dem zusammengeschnürten Bündel ein möglichst unscheinbares Aussehen.
"Na also, geht doch. So, ich mach mich dann auf. Viel Glück, bei was auch immer ihr vorhaben mögt. Ich glaube, ihr könnt es gebrauchen." Gaya umarmte ihren Cousin. Der Junge schlang die Arme um sie und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.
"Pass auf dich auf", sagte sie, nachdem sie ihn losgelassen hatte, und kam sich dabei unglaublich dämlich vor. Aber was gab es sonst noch zu sagen? Tomas schien ein wenig verlegen, brummte irgendetwas und drehte sich dann abrupt um. Gaya sah ihm nach, wie er davonging und sich nicht ein mal umdrehte, und fragte sich, ob sie ihn wiedersehen würde.
Doch, bestimmt. Vielleicht nicht in nächster Zeit und vielleicht nicht in Sunaj, aber wir sehen uns mit Sicherheit wieder. Das Gespräch mit Morgana werde ich wohl oder übel führen müssen. Schicksalsergeben wandte sie den Blick von ihrem zehnjährigen Cousin ab, schob ihre Sorgen und Ängste beiseite, damit sie sie nicht behinderten, und dabei fiel ihr der schweigsame Mann an ihrer Seite auf.
"Magst du Kinder nicht?", fragte sie Johannes. Er schreckte aus seinen Gedanken auf.
"Wie?"
"Ich habe dich gefragt, ob du keine Kinder magst", wiederholte sie geduldig.
"Wie... wie kommst du darauf?"
"Na ja, du warst so still, solange Tomas in der Nähe war."
"Das liegt nicht daran. Ich habe nichts gegen Kinder."
"Ach? Aber du hast ihn immer so komisch angesehen", gab sie nicht auf.
"Das ist nichts persönliches. Ich musste nur an... an Lex denken", antwortete er. Sie runzelte die Stirn.
"Lex? Ich glaube nicht, dass du ihn mir gegenüber schon mal erwähnt hast."
"Habe ich auch nicht", erwiderte Johannes. "Komm, wir sollten los. Vielleicht warten sie schon auf uns." Er ergriff die Zügel der Stute und ging los. Gaya musste sich beeilen, um mit seinen langen Schritten mithalten zu können.
"Wer ist Lex?", hakte sie nach. Er warf ihr einen schiefen Blick zu.
"Was kümmert es dich, Gaya? Es ist meine Angelegenheit."
"Ach, und hast du nicht selbst vor nicht allzu langer Zeit gesagt, dass Neugier kein Verbrechen sei?"
"Ich will nicht darüber sprechen", beharrte er stur.
Normalerweise hätte Gaya an diesem Punkt die Befragung abgebrochen, aber sie tat es nicht. Erstens, weil sie beunruhigt und nervös war, und einen Weg brauchte, um sich abzureagieren. Zweitens, weil es ihr nicht gefiel, was sie vor kurzem bei sich selbst bemerkt hatte – dass sie tatsächlich an Isolationsfolgen litt. Das musste sich schnell legen und das hieß im Klartext, dass sie sich wieder ihrer Ausbildung entsinnen musste, die Geheimnisse nicht tolerierte. Und zu guter Letzt wusste sie nicht, wann sie wieder die Gelegenheit bekommen würde, so viel über einen ihrer Begleiter herauszufinden. Drei Gründe, warum Gaya weiterfragte.
"Komm schon, Johannes, erzähl es mir. Bitte. Wir sind doch Freunde, oder? Und Freunde sollten einander alles erzählen." Er sah sie von der Seite her an.
"Wahrscheinlich hast du Recht", sagte er langsam. Sie nickte.
"Natürlich habe ich Recht. Und jetzt sag schon - wer ist Lex?"
"Lex...", wiederholte er langsam. "Mein Sohn."

Sie mussten die halbe Stadt umrunden, um die Brücke zu erreichen, und trotz Dajanas Einwände ritt Julian ostwärts an ihr vorbei. Er hielt es für entschieden zu gefährlich, das Westtor zu passieren, nachdem sie wussten, dass fast alle Wachen dorthin abkommandiert worden waren. Dajana scherte sich nicht um solche Kleinigkeiten wie die Gefahr, gefangen genommen zu werden - sie wollte nur erfahren, was Cycil zugestoßen war. Nachdem der Himmel wieder klar war, spielten sich in ihrer Phantasie die schrecklichsten Szenen ab, angefangen mit Folter bis zu grausamen Totschlag. Sie versuchte rational zu denken, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie versuchte wieder zu beten, um dadurch Ruhe zu gewinnen, aber sie musste immer wieder abbrechen, weil ihr eine Zeile entfallen war. Dabei wusste sie nicht einmal, warum sie sich solche Sorgen machte!
Gut, sie hatte eine schlechte Vorahnung gehabt. Gut, sie hatte sich bewahrheitet. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass... Aber was bedeutet es dann? Dajana beneidete Julian um seine Ruhe.
Er bemerkte ihre Nervosität daran, dass sie sich nicht über den schnellen Ritt beschwerte. Sie nahm ihn nicht einmal zur Kenntnis. Julian wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.  Letztendlich hatte er das Schweigen satt und versuchte sie zu einer Unterhaltung zu bringen.
"Die Ishvar-Brücke erreichen wir in circa einer halben Stunde", sagte er also. Sie schwieg. "Warst du schon mal am Königsfluss?"
"Ich bin in N’hoa aufgewachsen", erinnerte sie ihn geistesabwesend.
"Stimmt. Aber du hast den Hafen noch nie gesehen, oder?"
"Sind sie nicht alle gleich?"
"Mm, kann sein", lenkte er ein. "Aber in Sunaj..." Er wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich seufzte er und fragte sie dann, worüber sie nachdachte.
"Hä?"
"Worüber denkst du nach, Dajana?"
"Worüber schon."
"Über Cycil also", stellte er fest.
"Was, denkst du, ist da passiert?"
"Bin mir nicht sicher. Ich glaube, er ist auf einen anderen Zauberer getroffen." Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.
"Wieso? Wie kommst du darauf?"
"Wegen den Blitzen. Hast du bemerkt, dass sie verschiedenfarbig waren?" Sie nickte; er spürte es an seinem Rücken. "Soweit ich weiß, haben die Elementarmagien alle eine bestimmte Farbe. Hängt irgendwie mit den Göttern zusammen."
"Und die kann man nicht ändern?"
"Nicht, dass ich wüsste."
"Aber was ist... Violett für eine Magie?"
"Da bin ich überfragt. Gaya und Johannes werden es wissen."
"Wann hast du gesagt, sind wir da?"
"In einer halben Stunde."
"In einer Ewigkeit also", meinte sie resigniert. "Sag mal, Julian, wie schätzt du Cycils Chancen ein, lebend die Stadt zu verlassen?"
"Ich weiß nicht, Dajana", gab er zu. "Ich hab mich nie viel mit Magie beschäftigt. Wenn er stark genug ist, nehme ich an, dass er es schaffen kann."
"Aber es ist nichts mehr zu sehen. Keine Blitze, kein Garnichts. Was hat das zu bedeuten?" Julian seufzte.
"Woher soll ich das wissen? Dass er zurück in die Stadt geflohen ist. Dass sie ihn geschnappt haben. Dass er frei ist und auf dem Weg zur Brücke. Dass er tot ist. Irgendetwas ist passiert, aber was, werden wir erst später erfahren."
"Ich mache mir Sorgen."
"Ich weiß. Ich auch."

Gaya meinte, nicht richtig gehört zu haben. "Dein Sohn?"
"Ja. Klingt das so abwegig für dich?"
"Ich... ich weiß nicht. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du einen Sohn hast...".
"Habe ich auch nicht." Jetzt war sie verwirrt.
"Wie? Was denn jetzt?"
"Ich habe keinen Sohn mehr. Lex ist vor sechs Jahren gestorben." Gaya war bestürzt. Was hatte sie nur dazu getrieben, so erbarmungslos weiterzufragen? Meine Ausbildung. Und mein Egoismus, beantwortete sie die Frage selbst.
"Ich hätte nicht fragen sollen. Tut mir leid."
"Warum? Du hast ja recht - Freunde sollten voreinander keine Geheimnisse haben."
Er macht das genauso wie ich - hält einem seine eigenen Worte vor. Gaya strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die nicht vorhanden war, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Wieder lagen ihre Gefühle im Widerstreit – nachfragen oder nicht? In schmerzhaften Erinnerungen bohren oder nicht? Einerseits betraf es die Vergangenheit und diese sollte einem nicht mehr zu schaffen machen. Andererseits gab es wohl im Leben jedes Menschen Ereignisse, die man am liebsten vergessen wollte.
Gaya stellte wieder einmal fest, dass sie auf die Welt außerhalb Yasings überhaupt nicht vorbereitet war.
"Soll ich dir mehr darüber erzählen?", fragte Johannes völlig unerwartet. Sie unterbrach ihre Gedanken und fand seine Augen auf ihr Gesicht gerichtet.
"Wenn... wenn du willst", sagte sie unsicher.
"Wenn du willst", erwiderte er, ansatzweise lächelnd. Götter, durchschaute er sie wirklich so leicht? 
"Ja, ich denke schon. Ich würde gerne mehr über dich erfahren", antwortete sie schnell, bevor ihre Verwirrung überhand nehmen konnte.
"Sag das doch gleich." Er schien zu überlegen. "Eloise hieß sie. Sie war ein Jahr älter als ich und eine von Kathalinas besten Freundinnen. Wir verstanden uns ziemlich gut und aus Freundschaft wurde dann rasch mehr. Dann kam Alexander zur Welt, am 28. Febrevar des 718. Jahres nach der Besiedlung. Er war ein kräftiger, kleiner Bursche und strotzte geradezu vor Leben. Eloise und ich heirateten gleich nach seiner Geburt. Es schien alles so... perfekt." Er zögerte kurz. "Aber natürlich blieb es das nicht. In Raven ging eine Kinderkrankheit um, nichts schweres, aber sehr ansteckend. Lex wurde krank. Wir nahmen es nicht sehr ernst – fast jeder hatte sie mal gehabt und es überlebt. Lex tat das nicht."
Gaya wartete darauf, dass er weitersprach, aber er tat es nicht. Sie bewunderte seine Ruhe – auch wenn sie nur vorgetäuscht war.
"Habe ich schon gesagt, dass es mir leid tut?", fragte sie schließlich, nur um etwas zu sagen. Er zuckte mit den Schultern.
"Es ist lange her. Ich habe mich damit abgefunden."
"Es muss schwer gewesen sein."
"Ja."
"Wo ist Eloise jetzt? Lebt sie noch in Raven?", wollte Gaya wissen.
"Nein. Aber sie liegt dort begraben", antwortete er.
"Sie ist tot?", fragte Gaya entsetzt.
"Wäre ich sonst hier?", gab er zurück. Mitgefühl wallte in ihr auf und ehe sie sich versah, umarmte sie ihn. Es war eine sehr kurze Umarmung, aber Gaya fühlte sich irgendwie anders, nachdem sie ihn losgelassen hatte.
Vielleicht war nicht alle Vergangenheit vergangen.
"Da vorne ist die Brücke", sagte Johannes.

"Ich weiß es nicht!", antwortete Julian gereizt. "Woher soll ich wissen, was Alay vor hat? Denkst du, sie hat mich in ihre Pläne eingeweiht?"
"Ich habe ja gefragt, was du denkst, was sie vor hat!", gab Dajana ebenso gereizt zurück. Die Wunde auf ihrem Rücken tat wieder weh, weil ihr neuer Bogen beim Reiten immer wieder dagegen schlug, ihr ganzer Körper fühlte sich wie ein einziger Krampf an und ihre Laune, die am Morgen noch strahlend wie der Sonnenaufgang gewesen war, näherte sich nun rasant dem Tiefpunkt. Sorge, Ungeduld, leise Furcht und die Unfähigkeit, etwas zu tun, machten sie nicht gerade besser.
"Keine Ahnung. Ich habe in meinem bisherigen Leben möglichst versucht, mich von Bindungsmagiern fernzuhalten."
"Ich hatte nie die Gelegenheit, welche kennen zu lernen. Schade eigentlich. Was muss es wohl für ein Gefühl sein, über solche Macht zu verfügen?"
"Frag Alay doch selbst", schlug Julian vor.
"Ich traue ihr nicht. Es gefällt mir nicht, wie sie in meine Gedanken eindringen kann. Sollte das nicht verboten werden?"
"Finde ich auch. Aber wer sollte Bindungsmagiern schon etwas verbieten?"
"Julian", fing sie zögernd an, "mir ist da etwas aufgefallen... Ganz am Anfang, als ich, Gaya und Cycil in ihr Haus gekommen sind..."
"Da, wo sie Cycil angefallen hat?", fragte er trocken.
"Ja. Sie hat ihn nach seinem Namen gefragt."
"Und?"
"Aber unsere kannte sie schon vorher. Oder hat sie dich je nach deinem gefragt?" Julian runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern.
"Nein, ich glaube nicht. Sie hat sie gleich gewusst."
"Meine ich auch. Aber warum wusste sie Cycils nicht?"
"Ich weiß nicht. Aber du hast Recht. Da war doch noch etwas - ist dir auch aufgefallen, dass sie ihn immer formell anspricht?" Dajana nickte nachdenklich, obwohl er es nicht sehen konnte.
"Das habe ich auch bemerkt. Hat sie ihn nicht auch noch gefragt, warum sie nichts sehen kann?"
"Hat sie?"
"Ja, ich meine mich daran zu erinnern", sagte sie. "Sie hat ihn das gefragt und er hat geantwortet: Weil ich es nicht will..."
"Vielleicht liegt es einfach an seiner Magie?", schlug Julian vor.
"Was war denn mit Johannes und Gaya?", erwiderte Dajana. "Die konnten auch nichts dagegen tun."
"Vielleicht ist er ein besonders fähiger Magier."
"Vielleicht ist er ja auch ein... Bindungsmagier", sagte sie leise. Julian drehte sich überrascht zu ihr um.
"Wie kommst du denn darauf?"
"Ich weiß nicht. Es kam mir nur so in den Sinn. Aber könnte es nicht so sein? Deshalb spricht ihn Alay auch immer so an – weil er einer der ihren ist..."
"Soweit ich weiß, haben weder Gaya noch Johannes je an seinen Worten gezweifelt, dass er die Wassermagie besäße", meinte er. "Sollten die das nicht beurteilen können?"
"Kann sein. Aber wer weiß das schon so genau? Wenn ein Bindungsmagier nicht erkannt werden will - denkst du nicht, dass er dann nicht erkannt wird?" Julian drehte sich wieder nach vorne und lenkte vorsichtig die Schritte des Pferdes über den unebenen Grund. Sie waren bereits in der Nähe des Hafens, obwohl sie ihn im weiten Bogen umgingen. Die Ishvar-Brücke, ein schmaler Holzsteg über dem breiten Königsfluss, tauchte in seinem Blickfeld auf. Nicht weit entfernt fing der Celine an, eine gerade Linie dunkler Baumstämme.
"Ist es nicht gefährlich, sich hier zu treffen?", fragte Dajana dicht an seinem Ohr. "Jeder kann uns hier sehen."
"Nur wenige kommen je so nah an den Wald", entgegnete Julian. "Sie fürchten ihn. Wer wirklich auf die andere Seite will, nimmt die Schanie-Brücke am Hafen."
"Wozu wurde dann die hier gebaut?"
"Als Fluchtweg, falls mal was schief geht", antwortete Julian. Die Stute wieherte leise, als sie den Geruch der anderen Pferde witterte, die sie kannte. Da sahen auch Julian und Dajana die Gestalten dreier Personen und zwei Pferde am Wasser. Nach kurzer Zeit erkannte Dajana Alay, Johannes und Gaya. Ihr Herz wurde schwer. Cycil war nicht da.
"He!", rief Julian den anderen entgegen. "Wartet ihr schon lange?"
"Wir sind erst vor kurzem angekommen", antwortete Gaya und warf Alay einen vorsichtigen Blick zu. "Und Alay... nun, Alay war schon die ganze Zeit über da."
Die Zauberin wirkte etwas abwesend, aber darauf achtete Julian nicht besonders, denn etwas anderes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich: wo vorher wirres, dunkelbraunes Haar gewesen war, erstreckte sich jetzt eine kahle Landschaft mit einer schwarzen, eintätowierten Schlange darauf. Es war eine grobe Tätowierung, aber dennoch hatte sie eine eigenartige Lebendigkeit und Faszination inne. Alay wirkte dadurch noch entrückter und merkwürdiger als sonst.
"Äh, was ist denn mit euch passiert, Alay?", fragte Julian vorsichtig. Sie sah überrascht auf, als hätte sie erst jetzt seine Anwesenheit bemerkt.
"Was... Ach so, meine Haare meinst du. In der Stadt trage ich immer eine Perücke, damit ich weniger auffalle, wenn ich mal rausgehe. Aber sie macht mich immer halb wahnsinnig mit ihrem Jucken... deshalb trage ich sie so selten wie nur irgend möglich." Julian beschloss, nicht weiter zu fragen, da das wahrscheinlich sicherer war, und brachte das Pferd zum Stehen.
"Steig ab. Dajana."
"Absteigen?" Ihre Angst, für kurze Zeit von Sorge verdrängt, kehrte mit voller Macht zurück. Sie klammerte sich wieder an Julian. "Nie im Leben!" Er seufzte genervt.
"Du hast es sogar geschafft alleine im Sattel zu bleiben, Dajana! Da wirst du es wohl schaffen abzusteigen! Schließlich willst du doch nicht dein ganzes Leben lang auf dem Pferd sitzen bleiben, oder?"
"Nein...", gab sie zu.
"Also benimm dich nicht wie ein kleines Kind und steig ab!" Sie sah sich hilfesuchend um, aber die anderen musterten sie bloß erwartungsvoll. Der einzige Mensch, der ihr auf jeden Fall geholfen hätte, war derzeit verschollen oder gar tot. Die anderen wollten, dass sie es allein schaffte. Dajana nahm sich zusammen. Du bist jetzt eine Kriegerin!, sagte sie sich streng. Also benimm dich auch wie eine! Der Bogen schlug wieder gegen ihren Rücken, wie als Unterstützung. Dajana atmete tief ein und schob einen ihrer Füße in einen Steigbügel. Das Pferd blieb zum Glück geduldig stehen, während sie ihr Gewicht verlagerte und schließlich auch das andere Bein auf die rechte Seite holte. Leider funktionierte das nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte, der Schwung zerstörte ihr Gleichgewicht und ließ sie nach hinten kippen.
Fast hätte sie Julian mit runter gezogen, doch noch bevor sie den Boden berührte, wurde sie aufgefangen.
"Ich glaube, du kannst mich loslassen", meinte Julian, der noch knapp sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Mit Mühe löste Dajana die Hände von ihm.
"Kannst du wieder stehen?", fragte Gaya sie. "Du bist nämlich nicht besonders leicht..."
Schließlich stand Dajana wieder auf eigenen Füßen und Julian konnte selbst absteigen – was er mit viel mehr Eleganz fertig brachte als sie. Die Stute, ein außergewöhnliches ruhiges Tier, zuckte mit einem Ohr.
"Danke, Gaya! Du hast mir das Leben gerettet!", sagte Dajana als erstes. Ihre Retterin sah sie skeptisch an.
"Na ja, ich würde nicht gleich sagen das Leben..."
"Doch, und wie! Dafür werde ich dir bis an mein Lebensende dankbar sein!"
"Wir werden ja sehen, wie du dich revanchieren kannst", sagte Gaya mit einem dünnen Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst. "Ich nehme an, ihr habt das mit Cycil mitbekommen?"
"Wer nicht?", meinte Julian trocken.
"Habt ihr eine Ahnung, was mit ihm passiert ist?"
"Nein. Wir sind ostwärts geritten", sagte er.
"Ich habe ihn nach dem Kampf verloren", sagte Alay.
"Ach ja, der Kampf - gegen wen hat er eigentlich gekämpft?", fragte Dajana schnell.
"Gegen einen Bindungsmagier des Dunkels", antwortete Johannes und wechselte einen düsteren Blick mit Gaya. Dajana wurde blass.
"Er kann nicht gewonnen haben..."
"Doch", unterbrach Alay sie. Alle sahen sie überrascht an. "Er hat gewonnen und den gegnerischen Magier fast getötet. Allerdings war er am Ende ziemlich erledigt. Ich weiß nicht, ob er es noch aus der Stadt geschafft hat. Ich habe versucht, ihn im Oemée zu finden, aber seine Aura ist verschwunden."
"Oemée?", fragte Gaya.
"Aura?", fragte Julian.
"Das Oemée ist ein Trancezustand, zu dem nur wir Bindungsmagier fähig sind. So können wir Magie in unserer Nähe spüren - magische Auren zum Beispiel. Eine magische Aura umgibt jeden Menschen, der auch nur ein Fünkchen Magie in sich trägt. Cycils Aura ist nicht mehr auffindbar."
"Aber wie kann er einen Bindungsmagier besiegt haben?", fragte Johannes.
"Es war kein angeborener Bindungsmagier", antwortete sie. "Es war einer, der das Dunkel erlernt hatte."
"Man kann keine Göttermagien erlernen!", widersprach Gaya sofort.
"Woher willst du das wissen?", erwiderte Alay scharf. "Man kann es sehr wohl, allerdings nur in begrenztem Umfang. Im Gegensatz zu den Elementarmagien kann erlernte Bindungsmagie niemals so stark werden wie angeborene. Aber es ist durchaus möglich, sie zu lernen und weiterzuentwickeln. Cycils Gegner war ziemlich stark, aber nicht stark genug, um gegen die..." Sie verstummte kurz. "...um gegen seine Magie etwas anzurichten", beendete sie den Satz schnell.
"Und das habt ihr alles in einer Trance erfahren?", fragte Dajana skeptisch. Alay streifte sie mit einem verächtlichen Blick und Dajana trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
"Was machen wir jetzt also? Warten wir auf ihn oder ziehen wir weiter?", stellte Julian die entscheidende Frage.
"Wir haben verabredet, bis Sonnenuntergang zu warten", erinnerte Gaya. Alle sahen hoch zum Himmel. Die Sonne stand noch recht hoch und weit vom Horizont entfernt, aber den Zenit hatte sie schon überschritten. Vielleicht noch vier, fünf Stunden, schätzte Julian, dann würde sie untergehen. Eine lange Zeit zum Warten, eine kurze, wenn man bedachte, was die Alternative war.
"Wir warten", sagte Alay fest.
Weder wagten sie es, ihr zu widersprechen, noch wollten sie es.

Sie zogen sich zum Wald hin zurück, zwischen die ersten Ausläufer des Celine. Es war mehr ein symbolischer Schutz als irgendetwas anderes, aber auch das wirkte beruhigend. Die Pferde wurden nicht angebunden, da Alay versicherte, dass sie gut ausgebildet waren und sich ihrem Hengst als Leittier fügen würden. Man ließ sie in Ruhe grasen.
Der Fluss verlief in der direkten Nähe. Auch in dieser Beziehung bot der Standort eine Sicherheit – falls man sie entdeckte, konnten sie sofort den Fluss überqueren. Außerdem bedeutete er eine bequem erreichbare Wasserquelle, was nie zu unterschätzen war.
Da sie nicht wussten, wie lange sie zu warten hatten, luden sie nichts ab, richteten kein Lager ein. Nachdem man sich gegenseitig erzählt hatte, wie es gelungen war, aus der Stadt zu entkommen - Alay hatte diesbezüglich nichts erzählt, aber das hatte auch keiner der anderen erwartet -, hatte keiner mehr das Bedürfnis nach Unterhaltung. Sie setzten sich einfach hin und versuchten, Kraft für weiteres zu schöpfen.
Julian machte sich daran, sein Schwert zu schärfen – nicht, weil es dessen bedurft hätte, sondern um seinen Händen etwas zu tun zu geben, während sein Verstand nachdachte. Das Schwert, welches man in N’hoa speziell für ihn angefertigt hatte, lag gut ausgewogen in seiner Hand und bot einen hervorragenden Halt. Er war zufrieden damit, mehr sogar.
Als Gaya ihm dabei zusah, erinnerte sie sich daran, wie sie und Julian sich überhaupt kennen gelernt hatten, in der Waffenschmiede, wo dieses Schwert hergestellt worden war. Bei der Erinnerung musste sie lächeln.
Alay setzte sich mit gekreuzten Beinen hin, schloss die Augen und versetzte sich in den Oemée. Verbissen suchte sie Cycil, suchte und suchte, ohne zu finden.
Johannes ging zwischen den Bäumen umher, strich ab und zu über die glatte Rinde und gab sich seinen Erinnerungen hin, Erinnerungen an Zeiten, als es in Raven nichts gegeben hatte außer friedliche Abgeschiedenheit.
Dajana konnte keine solche Ruhe finden, sie konnte dieses Nichtstun einfach nicht ertragen. Hilflosigkeit war ihr schon von Kindheit an verhasst. Also tat sie es Julian nach und suchte Beschäftigung für ihren Körper, um ein wenig der Unruhe loszuwerden. Sie nahm ihren Bogen, ging damit tiefer in den Wald hinein und versenkte einen Pfeil nach dem anderen in den schwarzen Baumstämmen. Der Bogen war gut, besser als irgendeiner, den sie je besessen hatte. Aber auch diese Tatsache half ihr nicht sich abzulenken.
Schließlich ließ sie den Bogen sinken und setzte sich hin, an einen Baum gelehnt. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie N’hoa verlassen und diesen Wald zum ersten mal betreten hatten. Ja, das war merkwürdig gewesen. Und jetzt waren sie wieder hier, obwohl keiner das gewollt hatte.
Diese Gedanken erinnerten sie an etwas anderes. Dajana wühlte in ihrer Tasche herum und fand schließlich, was sie suchte - einen flachen Stein mit eingeritzten Buchstaben darin. Sie strich über ihren Namen und legte den Stein dann behutsam aufs Gras. Vorsichtig berührte sie den Obsidiandolch an ihrem Gürtel, streichelte den glatten Griff. Als sie die Klinge zog und ins Licht hielt, schimmerte sie grün.
"Du hast mal rot geschimmert", sagte sie leise zum Dolch. "Du bist mit Blut befleckt gewesen - erinnerst du dich? Und jetzt fließt vielleicht in Sunaj das gleiche Blut in Strömen..." Trostsuchend umklammerte sie den Dolch und versuchte sich selbst zu überzeugen, dass alles gut werden würde. Als sie ihn wieder eingesteckt hatte, nahm sie den Stein an sich. Er fühlte sich warm an, fast schon lebendig. 
"Dich habe ich auch gefunden. Du kennst mich, mein Name ist in dich eingeritzt. Aber wer hat das getan? Wer wollte, dass ich den Dolch an mich nehme?" Plötzlich erschien er ihr kalt. Die Sonne verschwand hoch oben hinter Wolken und Schatten senkten sich über den Wald.
Schnell steckte Dajana den Stein in die Tasche, stand auf und lief zu den anderen.

"Sag mal, Julian, was sind eigentlich Stammpapiere?" Julian sah auf und betrachtete Dajana prüfend.
"Warum willst du das wissen?"
"Einfach nur so." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht, was ich tun soll, und du bist auch nicht so übermäßig beschäftigt, wie es mir scheint."
"Stimmt." Er seufzte.  "Also gut, setz dich zu mir." Sie folgte der Aufforderung und machte es sich neben ihm gemütlich.
"Stammpapiere sind wichtige Dokumente", begann er. "Alle adligen Familien besitzen welche. Darauf ist der Name der Person geschrieben, das Geburtsdatum, die Position der Familie am Hofe und der Stammbaum der Familie. Diese Stammpapiere sind so etwas wie Ausweise. Falls im Schloss irgendein Fest gegeben wird oder so, kannst du dich darauf verlassen, dass nur Leute mit Stammpapieren reinkommen. Durch diese Papiere kann man auch kontrollieren, welcher Familie du angehörst und ob du nun erwünschst bist oder nicht. Das ist manchmal ziemlich nützlich. Wenn Adlige verreisen, nehmen sie immer ihre Stammpapiere mit, um sich ausweisen zu können."
"Ach, deshalb bist du so in Panik geraten, als dieser Wachmann meine Stammpapiere sehen wollte. Ich habe gar nicht verstanden, was eigentlich los war."
"Ich bin nicht in Panik geraten. Ich war nur etwas besorgt", korrigierte er sie.
"Schon klar."
Ihnen gegenüber öffnete Alay abrupt die Augen und atmete aus.
"Habt ihr ihn gefunden?", fragte Gaya sofort.
"Nein, alles vergeblich." Die Zauberin hörte sich erschöpft und nach miserabler Laune an. "Ich weiß nicht, was mit ihm ist. Wir können nur warten." Dajana dachte bei sich, dass sie anscheinend nicht die einzige war, der Warten etwas ausmachte.
"Bis Sonnenuntergang ist es noch lange hin", seufzte Gaya. "Ich werde bis dahin wahnsinnig werden." 
"Da bist du nicht die einzige", murrte Dajana, aber so leise, dass man sie nicht hörte.
Damit verstummte die Unterhaltung, kaum, dass sie aufgekommen war. Es war schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als auf das, was in den Gedanken eines jeden von ihnen war. Und keiner wollte seine Ängste und Sorge mit den anderen teilen. Sie saßen nah beieinander, in Gedanken versunken und warteten. Warteten qualvoll darauf, dass etwas geschah.

Ein Geräusch.
Wie auf einen geheimen Befehl hin, drehten sich alle Köpfe in die Richtung, aus der es gekommen war. Zum Fluss.
Waffen wurden gezogen, Mächte der Magie geweckt, Körper gingen in angriffsbereite Stellungen über. Der Umhang aus Unbehagen war gegen einen aus Spannung eingetauscht worden.
Nichts regte sich, alles war still. Als Gaya dachte, sich das Geräusch eingebildet zu haben, erklang es wieder: ein leises Plätschern, wie von jemandem am Fluss, der sich unbemerkt anzuschleichen versuchte. Frederiques Männer!, dachte Gaya und fühlte ihr Herz schneller schlagen. Julian machte ein Zeichen - sie sollten ausschwärmen und den oder die Verursacher des Geräuschs einkreisen. Lautlos befolgten sie seine Anweisung.
Gaya spürte überdeutlich das weiche Gras unter ihren Füßen, obwohl sie Stiefel anhatte. Es wehte kein Wind in diesem Wald, aber das Laub raschelte trotzdem leise. Oder bildete sie es sich ein? Es kam ihr vor, als wäre sie völlig allein, zwischen den schlanken, schwarzen Baumstämmen verloren. Allein mit ihrem Herzschlag, der in ihren Ohren den ganzen Wald zu erfüllen schien. Aber sie wusste, irgendwo in ihrer Nähe waren ihre Freunde, ebenso leise und vorsichtig wie sie selbst, doch ebenso kampfbereit. Spürten sie auch diese nervenzerrende Anspannung?
Ein rasches Gefühl von Verbundenheit tauchte in Gaya auf und erfüllte ihren Körper mit angenehmer Wärme. Sie war nicht allein, sie hatte Freunde. Richtige Freunde, zum ersten mal in ihrem Leben.
Geräuschlos näherte sich Gaya dem Fluss.
Zwar war die Sonne noch an die zwei Stunden vom Horizont entfernt, aber weil Wolken aufgezogen waren und weil der Celine immer seine ganz eigene Dunkelheit ausstrahlte, schien der Fluss voller Schatten. Gaya konnte ihn nur als breites, fließendes Band voller Schwärze erkennen. Sie sah ihre Freunde nicht, spürte aber fast ihre Anwesenheit. Das Gefühl der Verbundenheit wurde stärker.
Hinter einem der letzten Bäume blieb sie stehen und hielt angestrengt Ausschau nach den Wachen.
Das Geräusch wiederholte sich mehrmals, dazu ein leises Wispern von einer Stimme. Gaya umklammerte fest ihren Stab und dämmte gleichzeitig sein Leuchten, damit er sie nicht verriet. Dann entdeckte sie einen der Männer.
Er ging am Rande des Flusses dahin, dort, wo das Wasser ihm bis zu den Knien reichte. Er führte ein Pferd am Zügel und flüsterte ihm ab und zu etwas zu. Sie bewegten sich sehr langsam und vorsichtig, nur manchmal verursachte das Pferd ein leises Geräusch. Gaya machte sich bereit zum Angriff. Wartete nur noch auf ein Zeichen.
Warum kommt mir dieses Bild nur so bekannt vor? Wie... aus einem Traum...
Der Mann blieb stehen und schien zu lauschen. Gaya hielt fast den Atem an. Dann hörte sie ein scharfes Einatmen von ihrer rechten Seite. Sie hätte am liebsten geflucht über so viel Unachtsamkeit. Der Mann hörte das Geräusch, erstarrte.
Eine Gestalt brach zwischen den Bäumen hervor. Nach der angespannten Stille erschien das Geräusch von rennenden Füßen auf dem Gras fast wie Donner.
Gaya erkannte Dajanas Stimme; dann erstarrte sie, als sie hörte, was das Mädchen rief.
Es war eine kurze Strecke vom Wald bis zum Fluss. Noch bevor Gaya richtig begreifen konnte, was da eben geschah, war Dajana bei ihm angekommen und warf ihre Arme um seinen Hals.
"Dajana, Vorsicht, ich falle ja gleich wieder in den Fluss...", hörte sie ihn sagen.
Es war Cycil.

Fassungslos senkte sie ihren Stab und lockerte ihren Griff darum. Um sich herum hörte sie Geräusche, die von ähnlichen Ereignissen kündeten: ein Schwert wurde in die Scheide zurückgeschoben, ein erleichterter Laut, leichte Schritte. Zusammen mit den anderen verließ sie ihr Versteck und kam zum Wasser.
Erst mal aus dem Schatten des Waldes herausgetreten, erkannte sie Cycil sofort. Die vertraute Kleidung, die schwarzen Haare, die wohlbekannte Gestalt. Wie hatte sie ihn für einen Feind halten können?
Bis sie bei den beiden angekommen waren, hatte Dajana ihn schon losgelassen und betrachtete ihn nun prüfend.
"Du siehst furchtbar aus", meinte sie nur. Cycil sah auf, als sie näher kamen, und Gaya konnte ihn nur anstarren.
'Furchtbar' war eine Untertreibung. Das Gesicht war so mit Blut befleckt, dass sie es nur an den unveränderten blauen Augen erkannte. Die Kleidung war zerrissen, der ganze Körper ebenfalls mit Blut bedeckt. Unter der roten Schicht war sein Gesicht leichenblass, tiefe Linien der Erschöpfung hatten sich darin eingegraben.
Als Alay ihn ansah, wich sie zurück. Sie spürte den Tod hinter seinen Augen.
"Ich weiß", sagte er bloß vor ihren bestürzten Blicken. "Ich weiß."
"Wie hast du nur überlebt...", flüsterte Gaya erschüttert, aber so leise, dass er es nicht hörte. Dann tat sie es Dajana gleich und umarmte ihn. Wie dünn er war! Doch es lag Kraft in seinen Armen, als er sie kurz an sich drückte.
Nachdem auch Johannes und Julian ihn willkommen geheißen hatten, standen er und Alay sich gegenüber. Sie wusste, was er verbarg, und er wusste, dass sie es wusste.
Langsam machte Alay das Zeichen der Allmächtigen Fünf.
"Mögen die Götter euch beschützen", sagte sie rau. Seine Antwort war ein dünnes Lächeln.
"Ich kann auf ihren Schutz verzichten."

Der graue Hengst war bedeckt von rot-braunen Blutflecken und auch von frischem Blut, das aus seinen eigenen Wunden strömte. Aber er war nicht ernstlich verletzt, nur sehr erschöpft, nass und hungrig. Johannes führte ihn aus dem Wasser und brachte ihn zu den anderen Pferden, damit er sich satt fressen konnte.
Sie hatten beschlossen, sich ein wenig tiefer in den Celine zurückzuziehen, aber nicht mehr weiterzureisen. Erst des Nachts wollten sie die relative Sicherheit des Waldes verlassen und den Königsfluss überqueren. Wohin dann, blieb ungewiss. Nur weit weg von Sunaj und Frederique, das war allen klar.
Zwar hätte ein kleines Feuer ihnen in der stickigen Düsternis des Celine gut getan, aber sie wagten es nicht, eines anzuzünden. Frederique sollte sie letzten Endes nicht doch noch erwischen.
Cycil hatte sich am Fluss so gut es ging das Blut abgewaschen, aber von seiner Kleidung ließ es sich nicht entfernen. Und andere hatten sie nicht, dazu hatten sie in Sunaj wirklich nicht die Zeit gefunden. Vorläufig zog er sich einen der Umhänge über, die Alay ihnen übergeben hatte. In der nächsten Stadt wollten sie dann alles weitere besorgen.
"Setz dich hin und ruh dich aus", sagte Gaya besorgt. "Bis wir aufbrechen sind noch einige Stunden hin, da kannst du ein wenig schlafen..." Er winkte ab.
"Danke für die Fürsorge, Gaya, aber ich bin nicht müde. Nicht körperlich jedenfalls." Er nahm unter einem Baum Platz und lockerte seine verkrampften Muskeln. Die anderen setzten sich ebenfalls hin, konnten aber nicht so locker bleiben; sie alle warteten gespannt auf Cycils Erklärung. Ihm schien das Gewicht der versammelten Blicke nichts auszumachen, die auf ihn gerichtet waren, oder aber er zeigte es nicht. Vielleicht überlegte er, was er sagen sollte.
"Na gut. Ich weiß, ihr wartet alle ungeduldig auf eine Erklärung", fing er schließlich an. "Es war alles nicht so dramatisch. Nachdem wir uns getrennt haben, bin ich mit voller Geschwindigkeit zum Westtor geritten. Ich musste Aufmerksamkeit erregen und das gelang mir auch ganz gut, denke ich. Als ich am Tor angekommen bin, war dort natürlich schon viel los: viele Wachleute, kampfbereit, mit gezückten Waffen, weitere Leute dorthin unterwegs. Das Tor selbst war natürlich verriegelt. Ich bin durchgebrochen und habe meine Magie entfesselt. Dann tauchte einer von Frederiques Zauberern auf und ich musste mit ihm kämpfen - das könnt ihr alle gar nicht übersehen haben. Jedenfalls habe ich ihn am Ende besiegt, das Tor aufgesprengt und bin in den Celine geflüchtet."
Alay sagte nichts, obwohl es viel zu sagen gegeben hätte. Aber sie beschloss, die Sache mit der Todesmagie vorerst für sich zu behalten. Cycil erzählte weiter:
"Ich musste tief in den Wald eindringen, bevor meine Verfolger aufgegeben haben. Ihr wisst, wie es im Celine ist. Es gibt keinen richtigen Weg, nicht einmal eine Richtung, die irgendwohin führt. Ich hatte die Orientierung verloren, ich wusste nicht weiter. Also bin ich einfach geradeaus gegangen, immer weiter. Und irgendwie bin ich dann rausgekommen, direkt zum Fluss. Dann hörte ich Stimmen - eure - und wollte mich anschleichen, da es genauso gut Frederiques Männer hätten sein können. Aber ihr wart es zum Glück." Er lächelte. "Mehr gibt es da nichts zu erzählen."
"Wie hast du diesen Magier besiegt?", wollte Gaya wissen. "Es war ein Bindungsmagier, das konnten wir ganz deutlich sehen. Wie konntest du gegen so einen ankämpfen?" Alay musterte ihn interessiert.
"Ich hatte wohl Glück. Er schien nicht gerade in Hochform zu sein. Außerdem war es kein geborener Dunkelmagier, sonst hätte ich es nicht schaffen können." Gaya zog die Augenbrauen zusammen. Woher wusste er das? Sie hatte selbst erst vor kurzem erfahren, dass es möglich war, diese Magie zu erlernen. Wie hatte er es erfahren? Sie merkte, dass auch Johannes etwas verwirrt aussah.
"Bist du schwer verletzt?", fragte Julian mit einem Blick auf seine Kleidung. Cycil folgte seinem Blick.
"Nein. Das meiste davon ist nicht mein Blut. Ich habe nur einige Kratzer davon getragen. Wie gesagt, ich muss ziemlich viel Glück gehabt haben."
"Sehr viel Glück", sagte Julian trocken. Dann lächelte er. "Freut mich, dass du noch am Leben bist, Cycil. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, dich allein gehen gelassen zu haben."
"Selbst wenn mir tatsächlich etwas zugestoßen wäre, wäre es ganz sicher nicht deine Schuld. Aber es freut mich auch, euch lebend anzutreffen. Wie ist das..." Er wurde unterbrochen.
"Halt." Es war Dajana. "Ich habe da noch eine Frage, Cycil. Wie kommt es, dass die Wachen in Sunaj dich kennen?" Sie erwiderte seinen erschrockenen Blick herausfordernd. Denkst du, ich hätte es vergessen? Oder glaubst du, nur weil ich fast verrückt war vor Sorge um dich, wäre ich dazu geneigt, es nicht zu erwähnen? Anscheinend beides.
Jetzt fiel es auch den anderen ein.
"Das würde mich auch interessieren", sagte Julian. "Du hast uns gesagt, du wirst es ein anderes mal erklären. Warum nicht jetzt?" Alay, die zum ersten mal davon hörte, hob neugierig die Augenbrauen. 
Cycil fühlte sich wieder dazu getrieben, in Wahrheiten zu flüchten, deren grobe Umrisse keine Lügen waren, aber auch nicht viel aussagten.
"Bei meinem letzten Aufenthalt in Sunaj hatte ich große Schwierigkeiten mit Frederiques Männern", sagte er also. "Sie wollten mich verhaften und wahrscheinlich auch umbringen. Nur knapp bin ich ihnen entwischt, aber sie kennen mich, wissen wie ich aussehe. Deshalb sind sie auch nicht gut auf mich zu sprechen und würden mich wohl nur zu gern in die Finger kriegen. Wie ich es schon Dajana gesagt habe - mein Leben ist in den Mauern Sunajs nicht viel wert. Mein Tod dagegen..." Er zögerte. "...könnte jemandem sehr viel Geld einbringen." Sie warteten, aber keine weiteren Einzelheiten folgten.
"Was hast du denn getan, dass sie dich so verfolgen?", fragte Gaya schließlich.
"Mir Ärger eingehandelt", antwortete er knapp.
"Was für Ärger", fragte sie hartnäckig weiter.
"Ärger eben."
"Du willst es nicht sagen", stellte Julian fest. Cycil lächelte plötzlich.
"Stimmt. He, gibst du mir mal etwas zu trinken? Ich verdurste fast schon..." Mit finsterem Gesicht reichte Julian ihm einen gefüllten Lederbottich.
"Du hast gesagt, du wirst es uns erzählen!", erinnerte er nachdrücklich. Cycil nahm einen Schluck aus dem Bottich.
"Das ist kein Wasser", stellte er dann überrascht fest. "Das ist... Tee."
"Tee?", wiederholte Julian, ebenfalls erstaunt. Er nahm den Behälter und kostete. "Es schmeckt tatsächlich wie Tee. Wie kommt Tee da rein?"
"Ich habe ihn reingegossen", sagte Alay ruhig.
"Warum denn das?", wollte Julian wissen. Ungerührt sah sie ihn an.
"Es ist Kräutertee, der die Kräfte erstarkt und Ausdauer verleiht. Außerdem stützt er die Gesundheit. Ich fand das nützlicher als normales Wasser."
"Ist er auch vergiftet?", fragte Julian bissig.
"Vergiftet?", fragte Gaya.
"Auch?", fragte Johannes seinerseits.
"Wie dieser Wein, den wir in ihrem Haus getrunken haben", erklärte Julian. Alay runzelte die Stirn.
"Der Wein war nicht vergiftet."
"Ach, nein? Und auch nicht irgendwie präpariert?", entgegnete er scharf.
"Wie kommst du auf so einen Einfall", verlangte sie zu wissen.
"Ihr könnt mir sagen, was ihr wollt, es war nie und nimmer normaler Wein", sagte Julian. "Ich fühlte mich danach wie von einem Pferd getreten..."
"Das nennt man einen Kater", wandte Gaya sanft ein.
"Nicht so etwas!", widersprach er. "Ich habe geschlafen wie ein Toter. Und du, Gaya – bist du nicht während des Essens eingeschlafen?" Leichte Röte schlich sich in ihre Wangen.
"Danach", berichtigte sie halbherzig.
"Trotzdem. Ist das normal für eine ausgebildete Druidin? Wohl kaum." Gaya gab nicht auf.
"Ich war müde und entspannt von der Mahlzeit. Das kann allen mal passieren!" Sie hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Er schüttelte aber den Kopf.
"Darauf will ich doch gar nicht hinaus. Ich will damit nur sagen, dass unsere werte Lichtzauberin hier etwas in den Wein gemischt hat."
"Ich habe keinen Wein getrunken", fiel Gaya ein. "Nur Tee."
"Dann war der auch präpariert!", meinte Julian trotzig.
"Julian, sei doch nicht immer so stur..."
"Er hat Recht", sagte da Alay. Alle starrten sie an, als wären ihr gerade drei Köpfe gewachsen.
"Ihr habt etwas in die Getränke gemischt?", fragte Gaya ungläubig. Alay neigte langsam den Kopf.
"Wie kommt ihr dazu, so etwas zu tun?", fragte Johannes, in der Stimme leise Wut mitanklingend. 
"Könnt ihr es nicht verstehen?" Sie breitete die Arme in einer - beinahe - hilflosen Geste aus. "Ich kannte euch nicht, ihr wart völlig Fremde. Woher sollte ich wissen, was ihr vorhattet. Möglicherweise bedeutetet ihr Gefahr, vor der ich mich natürlich schützen musste. Und anstatt euch niederzuschlagen oder zu fesseln, habe ich euch nur ein wenig schläfrig gemacht. Ich finde, das war mehr als zuvorkommend."
"Zuvorkommend?" Skeptisch wie eh und je sah Dajana die Zauberin mit schief gelegtem Kopf an. "Also ich verstehe etwas anderes unter diesem Wort."
"Überhaupt habt ihr uns in euer Haus eingeladen", gemahnte Johannes. "Wenn ihr uns als Menschen in Verdacht hattet, die euch Böses wollten, warum habt ihr uns dann erst eingelassen?"
"Es sind schwierige Zeiten angebrochen. Man kann nicht mehr das tun, was man will", sagte Alay leise.
"Ach, dann wollt ihr uns also sagen, ihr hättet keine Wahl gehabt?", fragte Dajana. "Warum habt ihr es dann getan, hm?" Alays Augen blitzten auf.
"Weil es mir befohlen worden war", antwortete sie.
"Ach? Von wem denn?"
"Von den Göttern."
"Sicher." Dajana wandte sich halb von der Zauberin ab und verschränkte ihre Arme ineinander. "Warum musste ich auch fragen."
"Warum sollten die Götter darauf bestehen, dass ihr so etwas tut?", erkundigte sich Johannes. 
"Warum sollte ich euch das sagen?", gab sie zurück. "Ausgerechnet euch? Wer von euch ist denn tatsächlich gottesfürchtig?" Sie gab Gaya keine Gelegenheit etwas zu sagen. "Außer der Druidin. Noch nie bin ich Menschen begegnet, die so wenig Respekt von den Allmächtigen Fünf zeigen!"
"Woher wollt ihr das wissen?", rief Julian, blass geworden. "Ihr kennt uns kaum..."
"Ich kenne euch besser, als ihr euch selbst", unterbrach sie. "Ich habe in eure Seelen gesehen."
"Wozu ihr kein Recht hattet!", ergänzte Johannes. Sie sah ihn skeptisch an.
"Ich habe die Macht und daher jede Rechtfertigung dafür."
"Das reicht, Alay." Das war Cycil, ruhig wie immer. Sie sah zu ihm hin, der sich am Rande gehalten hatte, froh, dass die allgemeine Aufmerksamkeit einem anderen Thema galt. Jetzt stand er auf, immer noch mit dem Bottich in der Hand, und reichte ihn ihr. "Beweis einfach, dass es nicht vergiftet ist", schlug er vor. Mit angespanntem Gesicht nahm sie den Behälter entgegen und trank einige kräftige Schlücke daraus.
"Zufrieden?", richtete sie sich danach an Julian.
"Nein", antwortete er. "Es ist mir alles zu unklar, Alay. Ihr verbergt etwas vor uns." Sie zuckte mit den Schultern.
"Tut das nicht jeder?" Bei diesen Worten sah sie bedeutungsvoll zu Cycil.
"Aber bei euch haben diese Geheimnisse direkt mit uns zu tun", ließ Julian nicht locker. "Und es gefällt mir nicht, mit diesen Ungewissheiten zu leben."
"Nicht alles im Leben kann nach deinem Kopf gehen, Ritter", versetzte sie. Julian biss die Zähne zusammen und tastete nach seinem Schwert. Gaya war sich unschlüssig, was sie tun sollte, und wechselte einen zögernden Blick mit Johannes.
"Bitte, denkt ihr nicht, dass...", fing Cycil wieder als Streitschlichter an. Doch er sollte diesen Satz nie beenden.
Das magische Netz, das vorsichtig während all der Zeit um sie herum gewebt worden war, zog sich abrupt zu.
Sechs Körper landeten schwer auf dem grünen Gras.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 1. Teil des 7. Kapitels :-)

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