Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 7: Sumpfblumen (1)

Mit geübter Hand ließ ich den Hammer auf das Schwert niedersausen. Ein helles Klingen ertönte, das von den gepolsterten Wänden verschluckt wurde und nicht ein Echo wiedergab. Ich registrierte es abwesend und wischte mir mit einer mechanischen Bewegung den Schweiß von der Stirn.
Es war höllisch heiß in dem Gebäude, das als Schmiede umfunktioniert worden war. Ich konnte kaum atmen, jeder Atemzug brannte wie geschmolzener Stein im Hals und in den Lungen. Jeden Augenblick fürchtete ich in Ohnmacht zu fallen und es nicht einmal zu merken. Von einer glühenden Dunkelheit in eine andere.
Trotzdem machte ich weiter, nicht der Hartnäckigkeit willen, sondern weil es ein Befehl war: Arbeite.
Man hatte es mir befohlen und so tat ich es auch. Und würde es tun, bis ich umfiel, mein Herz versagte und ich starb, immer noch den schweren Hammer umklammernd, um auch im Tode zu zeigen, dass ich nur das eine im Sinn gehabt hatte: Arbeit.
Ich stand kurz davor, als einer der Herren kam und meine Ablösung brachte.
"Geh dich waschen", befahl der Herr mit einem verächtlichen Blick auf meine schmutzige, mit Schweiß durchtränkte Kleidung. "Nach dem Essen gehst du die Ställe ausmisten." Ich ließ den Kopf auf dem Boden in einer Huldigung, bis der Herr wegging. Dann erst wagte ich es aufzusehen und mich zu erheben. Meine Ablösung, ein anderer, hagerer Mann schenkte mir keinen einzigen Blick, dieser blieb fest auf dem halb gefertigten Schwert hinter mir.
Arbeite.
Ich verließ die Schmiede.
Als ich durch die Tür nach draußen trat, war es mir, als ob der kalte Wind mich umwehen würde. Er riss an mir, hartnäckig, fordernd. Er akzeptierte keine Schwäche. Ich fand die Kraft ihm zu widerstehen und ging weiter, versuchte die unbändige Kraft des Windes zu ignorieren.
Genoss unbewusst die Kühle auf meiner Haut.
Über mir türmten sich hoch die schweren, grauen Wolken. Ihre regenschwangeren Leiber waren so aufgedunsen mit Wasser, dass ich leise Angst verspürte, sie würden über mir hereinbrechen und mich zerschmettern. Aber die Angst verschwand rasch, verzischte ins Nichts, denn ich hatte wichtigeres, worauf ich mich zu konzentrieren hatte. Befehle zu befolgen.
Der Herr hatte mir befohlen, mich zu waschen, bevor ich zum Essen ging. Gehorsam schlurfte ich in Richtung Wasser.
Es gab keinen sauberen Fluss, keine reine Quelle, kein fließendes Wasser überhaupt. Es gab nur Tümpel voller stehenden Wassers, durchwachsen von Sträuchern, Moos und Schilf. Viele schlammige Stellen und unpassierbare Gebiete erschwerten den Weg, außerdem war da die graue Dunkelheit, die über allem hing. Aber ich fand mich zurecht.
Mit traumwandlerischer Sicherheit fand ich den Weg durch die Sümpfe, schritt dahin auf schmalen Pfaden, die für alle außer den Bewohnern dieser Gebiete unsichtbar waren. Die tödlichen Fallen des Sumpfs übersprang ich leichtfüßig, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden. Dort, wo Außenseiter den Tod fanden, fand ich schließlich das Wasser.
Natürlich war überall Wasser, aber nur in diesem Tümpel war es ungiftig und konnte ohne Gefahr zu sich genommen oder zum Waschen benutzt werden. Es war eher eine Pfütze als ein Tümpel, und sehr schlammig, aber das kümmerte mich nicht. Man hatte mir befohlen mich zu waschen und das tat ich dann auch.
Das Gefühl von eisig kaltem Wasser auf dem Körper war sehr unangenehm, aber ich beeilte mich nicht, spülte sorgfältig mit schmutzigem Sumpfwasser den Schweiß und den Schmutz weg. Windbrisen beugten die Sträucher und kräuselten das Wasser.
Die Welt war grau.
Danach ging ich wieder zurück, schlug aber einen etwas anderen Kurs ein. So gelangte ich relativ schnell an den Rand der Siedlung. Vielleicht konnte man nicht wirklich von einem Rand sprechen, da die Siedlung sich über viele Kilometer erstreckte und an manchen Stellen nicht einmal eine Verbindung zwischen den einzelnen Gebäuden bestand. Vielleicht hatte die Siedlung gar keinen Rand und lag über die ganze Welt ausgebreitet. Vielleicht hatte der Sumpf die ganze Welt verschlungen.
Mich kümmerte das nicht.
Das Haus war ziemlich groß und bestand aus zusammengeflochtenen Halmen, wie fast alle Gebäude im Sumpf. Es gab nicht einmal eine richtige Tür, nur eine ungerade Öffnung, einen Schlitz in die Außenhülle. Bei starkem Regen sickerte das Wasser durch das Dach und die Wände und sammelte sich im Innern. Durch diese Tür konnte es gleich wieder rausfließen ohne großen Schaden anzurichten.
Ungefähr zwei Dutzend weitere Arbeiter hielten sich drinnen auf. Sie alle trugen graue, schäbige Kleidung und hohe Stiefel wie auch ich selbst. Bei manchen waren nur Fetzen davon übrig geblieben, aber das machte ihnen ebenso wenig aus, wie wenn sie gar nichts angehabt hätten. Keiner der Herren war anwesend, was aber kein Wunder war. Nur selten kam einer von ihnen her, wenn er einen Dienst außerhalb der normalen Arbeitsgebiete benötigte.
Ich ging zu den aufgestapelten Kisten an der gegenüberliegenden Wand und nahm mir aus einer offenen zwei Kekse. Die trockenen, großen Scheiben waren der einzige Proviant für die Arbeiter. Sie schmeckten nach nichts und man konnte sie nur schwer hinunterwürgen, aber sie spendeten Energie und erhielten uns am Leben. Was konnte man mehr verlangen?
Ich setzte mich in eine Ecke auf den Boden und knabberte lustlos an einem weißen Keks. Ich beeilte mich mit dem Essen so sehr ich konnte, denn ich musste in die Ställe. Ein anderer Arbeiter verschlang die karge Mahlzeit und stand hastig auf. Auf dem Weg zum Ausgang gaben dann seine Beine nach und er fiel hin. Während er sich in Krämpfen auf dem Boden wand, sah ich stumpf zu und stopfte mir auch die letzten Krümel in den Mund. Der andere spuckte Blut und lag dann endlich still. Seine Augen hatten sich nach oben hin verdreht, so dass man nur das Weiße darin erkennen konnte.
Ungerührt aß ich auf und ging dann an dem Toten vorbei, schenkte ihm nicht mehr Beachtung als einem Stein im Weg. Warum auch? Er war tot; jemand anders würde sich um ihn kümmern. Ich hatte einen Befehl zu befolgen.
In den Ställen war es dunkel und kühl. Es roch nach Verwesung, Lehm und Mist. Nach Erde. Die Pferde rochen mich, manche schnaubten ängstlich oder stampften unruhig mit den Hufen. Die meisten jedoch waren in eine Lethargie versunken, die der meinen nicht unähnlich war und reagierten in keiner Weise auf mein Eintreten. Niemand sonst war da, was wahrlich keine Überraschung war. Die Pferde wurden so gut wie nie gebraucht, nur wenn sich mal ein Bote zur Stadt begab.
Ich nahm eine Schaufel und fing an, den Stall auszumisten. Die Arbeit verrichtete ich wie immer völlig automatisch, ohne darauf auch nur zu achten. Hätte ich tief und fest geschlafen, hätte ich es wahrscheinlich nicht anders gemacht.
Ich schrak erst aus meinem Wachschlaf auf, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Die Schaufel fiel mir aus der Hand und ich hatte sie in dem Augenblick schon vergessen. Ich sah mich einem weiteren Arbeiter entgegen und das konnte nur bedeuten, dass mir eine neue Aufgabe zugeteilt werden sollte. Erwartungsvoll begegnete ich seinem Blick.
Aber er hatte keine neue Anweisung für mich. Stattdessen sprach er mich mit einem Namen an, den ich noch nie in meinem Leben gehört hatte.
"Cycil", sagte er, "Cycil, erkennst du mich wieder?" Ich war ein wenig überrascht, dass er mich etwas fragte - wenn er überhaupt mich damit meinte, aber einen anderen sah ich eigentlich nicht. Normalerweise fragte man mich nicht, man befahl mir einfach. Deshalb wusste ich auch nicht, was ich darauf erwidern sollte. Also schwieg ich verwirrt und wartete darauf, dass mir irgendein Befehl gegeben wurde.
"Anscheinend erkennst du mich nicht", schlussfolgerte der Arbeiter und seufzte. "Verdammt. Komm schon – ich bin’s, Johannes. Eigentlich solltest du mich kennen, aber du stehst wohl immer noch unter den Einwirkungen dieser Droge." Immer noch völlig ahnungslos blinzelte ich. "Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, stimmt’s?" Wieder eine Frage.
"Hast du Anweisungen für mich?", fragte ich endlich, um diesem unverständlichen Wortschwall Einhalt zu gebieten. Es war auch ungewohnt zu reden, ohne aufgefordert zu werden. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, dass das etwas schlimmes war. Er runzelte die Stirn.
"Wie soll ich dich nur dazu bringen, dich zu erinnern... Dein Name ist Cycil. Cycil Whynneyar. Wir sind Freunde - ich bin Johannes Cynnethan. Erinnerst du dich, wir waren zu fünft - na ja, zu sechst - und sind aus Sunaj geflohen. In den Celine. Wo wir von diesen Bastarden von Hexern mit Magie überwältigt und hierhin verschleppt wurden. Sagt dir das gar nichts?" Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand immer weniger, aber anscheinend hatte dieser Johannes keine neuen Befehle. Also musste ich den alten gehorchen.
Leider hatte ich vergessen, welche das gewesen waren.
Zu meiner Verwirrung kam jetzt auch Angst dazu - ich hatte einen Befehl nicht befolgt! Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern, worin dieser bestanden hatte, und ignorierte den anderen Arbeiter.
"Wirst du mir wohl zuhören!" Er ergriff meinen Arm und musterte prüfend mein Gesicht. "Was soll ich jetzt denn tun? Ich habe gehofft, wenigstens du erinnerst dich noch ein wenig, nicht wie Dajana und Julian..." Plötzlich verstummte er. Nach einer kleinen Pause sagte er: "Komm mit." Nun, das war ein Befehl, daher folgte ich ihm bereitwillig und erleichtert, etwas zu tun zu haben.
Er führte mich über enge Pfade durch den Sumpf in einen anderen Teil der Siedlung, den ich noch nie betreten hatte. Unruhe schlich sich bei mir ein - warum mussten wir so lange gehen? Ich stellte diese Frage nicht laut - das wäre mir nie eingefallen -, aber es verstörte mich, diesen Gedanken überhaupt zu haben. Das war alles andere als wünschenswert.
Schließlich tauchte eine Ansammlung Gebäude vor uns auf, bekannte Konstruktionen, die mich beruhigten. Gleich würde ich wieder an die Arbeit gehen und alles würde wieder gut werden. Doch nein.
Johannes blieb im Schatten eines Hauses stehen und bedeutete mir ebenfalls anzuhalten. Vorsichtig spähte er über den Rand und hielt Ausschau. Dann befahl er mir flüsternd, näher zu kommen. Gehorsam gesellte ich mich zu ihm und wartete. "Schau", wisperte er. Ich schaute.
Es war eine ganz normale Straße, von beiden Seiten durch schiefe Gebäude eingegrenzt, durchwachsen von Sumpfgras und bedeckt von Schlamm. Arbeiter gingen ihren Aufgaben nach. Ich wünschte mir von Herzen es ihnen gleich tun zu können. Ich hatte keine Ahnung, was das Ganze sollte. 
"Siehst du sie nicht?"
Ich hasste Fragen. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Johannes erwartete etwas von mir, aber was? Wen sollte ich sehen?
Dann fiel sie mir auf.
Ein normales Mädchen in Arbeiterkleidung, das die Straße entlang schritt, einen großen Korb tragend, der zu schwer für sie schien. Es war merkwürdig, aber als ich mir ihr Gesicht ansah, juckte es. Nein, nicht wirklich, aber das Gefühl, das ich verspürte, war tatsächlich wie ein Jucken an einer unerreichbaren Stelle. Als ob da etwas wäre, irgendwo in meiner Nähe, das ich nicht zu fassen bekam. 
"Wer... wer ist sie?", fragte ich zögernd.
"Du weißt es. Du kennst sie", erwiderte er und beobachtete mich genau. Ich nahm das allerdings kaum zur Kenntnis. Ich suchte einen Weg, mich zu kratzen.
Dieses blonde Haar, das trotz des abwesenden Sonnenscheins so golden glänzte. Diese großen, grünen Augen. Diese Bewegungen... Das Jucken wurde stärker.
"Wie heißt sie?", wollte ich atemlos wissen.
"Dajana."
Der Name passte; keine Ahnung, warum, aber er passte. Er schien in jeden Millimeter dieser glatten Haut eingebrannt zu sein, sang aus der fließenden Bewegung ihrer Locken, strahlte aus ihren Augen wie ein Leuchtfeuer. Ein Leuchtfeuer, um jemanden heimzuholen. Um mich heimzuholen.
"Sie ist so schön...", flüsterte ich und kämpfte mit dem Impuls, das Versteck zu verlassen, zu ihr hinzulaufen, ihr zu helfen. Sie in meine Arme zu reißen.
"Nicht", sagte Johannes und ich merkte, dass ich schon drei Schritte in ihre Richtung getan hatte. Mit Mühe zog ich mich zurück. Es war schwer, den Blick von ihr abzuwenden.
"Warum fühle ich mich so merkwürdig?", fragte ich ihn. Er lächelte auf einmal.
"Das nennt man Liebe, glaube ich." Ich runzelte die Stirn. Liebe... Seltsames Wort, so abstrakt und unwirklich. Dieses Mädchen war aber wirklich, so real, dass es mir den Atem verschlug.
"Warum ist sie hier? Sie gehört nicht hierhin", sagte ich langsam.
"Keiner von uns gehört hierher. Wir wurden gefangen, erinnerst du dich? Im Wald. Mit einer Art Droge ließen sie uns vergessen, wer wir sind. Sie ließen uns alles vergessen. So wie sie es den anderen Menschen hier angetan haben." Ich hörte zu und beobachtete dabei dieses Mädchen, Dajana. So schön, so fremdartig, so unschuldig. Sie gehörte wirklich nicht hierher. Ich konnte sie mir gut auf einem Pferd vorstellen, frei und ungebunden über grüne Wiesen reitend.
"Man hat ihr befohlen, heute Nacht zu den Herrenzelten zu kommen", sagte Johannes. Ich zuckte zusammen. "Du weißt, was das bedeutet." Und ob ich es wusste. Ein unerwartetes Gefühl brach in mir aus – Wut. Nie im Leben würde ich zulassen, dass irgendjemand Dajana zu seinem Vergnügen missbrauchte! Eher würde ich tausender Tode sterben.
"Ich werde es verhindern", sagte ich bestimmt.
"Wie willst du das anstellen?", fragte Johannes. Ich wusste es nicht. Selber nachzudenken, sich etwas zu überlegen, überstieg meine Fähigkeiten. Ich hatte schon Probleme damit, auf Fragen zu antworten, wie sollte ich mir da einen Plan ausdenken? Verärgert sah ich Johannes an, als ob er die Ursache für all meine Probleme wäre.
"Keine Ahnung", gab ich schließlich zu.
"Es ist schon Nachmittag", erinnerte er mich. "Wir müssen uns etwas überlegen."
"Schön! Dann überleg doch!" Ich strich mir einige Haare aus dem Gesicht und atmete aus. "Können wir sie nicht einfach mitnehmen und... weggehen?" Das Wort hörte sich ungewohnt an.
"Nein. Wir befinden uns mitten im Sumpf, schon vergessen? Bis zum Celine ist es mindestens ein Tag hin. Man wird unsere Flucht bestimmt bemerken und uns wieder einfangen, schließlich sind es Hunderte von diesen Hexern. Wir brauchen unsere Waffen, Proviant, unsere Pferde - außerdem sind wir nicht vollständig. Ohne die anderen verlassen wir diesen Ort nicht."
"Die - anderen?" Ich strengte mein Gedächtnis an. Da war tatsächlich etwas, eine schwache Erinnerung an weitere Personen, die man zu meinen Freunden zählen konnte.
"Gaya, Julian und Alay", sagte Johannes und die Namen kamen mir in der Tat bekannt vor. Ich konnte sie zwar nicht mit Gesichtern in Zusammenhang bringen, aber etwas war mit Sicherheit da. "Ich weiß, wo Julian sich befindet, obwohl er sich an nichts erinnert, aber Gaya konnte ich nicht finden. Alay wird von den Hexern gefangen gehalten, glaube ich. Wahrscheinlich wirkte die Droge bei ihr nicht..."
"Sie ist mächtig", sagte ich leise. "Sie... hat Licht auf ihrem Weg." Er verstand mich nicht, das konnte ich in seinem Gesicht sehen, aber ich verstand mich selbst auch nicht. Die Lethargie war weg, diese Teilnahmslosigkeit, aber an ihre Stelle war etwas getreten, das sich rau und kantig anfühlte. Verschwommene Erinnerungen, Gedanken und Bilder warteten an der Oberfläche, aber noch konnte ich sie nicht ergreifen. Noch hinderte mich etwas daran. Aber die Erinnerung an Dajana hatte einen Spalt darin aufgerissen, den ich vergrößern konnte - vergrößern musste. Um ihretwillen.
"Wir trennen uns...", schlug ich langsam vor. "Jeder macht sich einzeln auf die Suche nach den anderen, nach den Waffen und dem Proviant. Abends treffen wir uns dann... irgendwo. Tauschen Neuigkeiten aus und bringen Dajana in Sicherheit. Planen die Flucht." Ihren Namen auszusprechen, tat mir richtig gut. Johannes nickte.
"Ja, das machen wir. Als Treffpunkt schlage ich die Ställe vor."
"Gut, treffen wir uns dort. Wir dürfen aber nicht auffallen, auf gar keinen Fall." Ich meinte mich zu erinnern, dass das sehr wichtig war.
"Wirst du sie denn erkennen, wenn du ihnen begegnest?" Ich verstand; er machte sich Sorgen, dass ich noch zu sehr unter dem Einfluss der Droge stand, um alleine etwas zu vollbringen. Ein Lächeln schlich sich ganz von alleine auf mein Gesicht und überraschte mich selbst mindestens genauso sehr wie ihn.
"Ich denke schon." Ich wusste nicht, woher meine Sicherheit stammte, aber irgendwo tief in meinem Innern war sie da: ich würde sie alle zu erkennen wissen, wenn ich sie sah. Johannes lächelte auch, aber sehr angespannt, wie auch seine Stimme klang. Ich fragte mich auf einmal, wie lange er schon nach uns suchte. Wie lange waren wir überhaupt schon hier?
"Gut. Aber Cycil, du darfst auf keinen Fall etwas von dem Zeug essen, das sie den Arbeitern geben. Ich vermute stark, dass sie uns so die Droge geben. Ihre Wirkung lässt nämlich nach gewisser Zeit nach und man muss eine weitere Dosis verabreichen. Wenn du das Essen nicht anrührst, kommt auch dein Gedächtnis zurück."
"Aber warum fange ich schon an mich zu erinnern?", fragte ich. Johannes zuckte mit den Schultern.
"Ich nehme an, das liegt an der Magie. Sie macht uns ein wenig resistent gegen die Droge, deshalb bedurfte es nur eines starken Auslösers, damit ihre Wirkung nachlässt."
"Magie? Soll das heißen, wir sind beide Magier?", fragte ich überrascht.
"Ja, das sind wir. Aber die Magie funktioniert nicht, solange die Droge sich im Körper befindet, daher kannst du dich nicht darauf verlassen. Ich habe es schon ausprobiert - man spürt ihre Anwesenheit nicht einmal. Ich kann nur annehmen, dass sie nach gewisser Zeit wiederkehren wird." Ich spürte hinter seinen Worten die Furcht, die er sich nicht eingestehen wollte - dass die Magie vielleicht gar nicht wiederkehren würde.  Aber ich ging nicht darauf ein, ein anderer Gedanke beschäftigte mich mehr.
"Was ist mit... Gaya?" Ich war mir wegen dem Namen nicht ganz so sicher. "Hat sie nicht auch magische Fähigkeiten?" Johannes nickte.
"Doch, hat sie. Wenn du sie findest, kannst du versuchen auch ihre Erinnerungen zu wecken. Dazu braucht man nur einen Auslöser, eine Erinnerung, die ihr besonders wichtig ist. Etwas, das ihr im Leben viel bedeutet."
"Was könnte das sein?"
"Ich weiß es nicht. Vielleicht ihr Cousin Tomas. Wir werden sehen, wenn es soweit ist." Er sah hoch zum Himmel. Zwar sah man die Sonne nicht, aber sie musste ungefähr auf halbem Weg zwischen Zenit und Horizont sein. "Wir haben nicht mehr viel Zeit. Also bei den Ställen, Cycil, wenn die Sonne in der siebten Stunde steht." Ich nickte. Warf noch einen Blick in die Straße, wo Dajana gerade im Innern eines Hauses verschwunden war. Der Gedanke daran, was man alles diesem hilflosen Mädchen antun konnte, stärkte meinen Entschluss nur noch. Ich schwor mir, dass sie nie zu Schaden kommen sollte, solange ich am Leben war.
Vielleicht sogar darüber hinaus.

Normalerweise geht ein Arbeiter nicht über sein bestimmtes Gebiet hinaus. Man gibt ihm nur Arbeiten innerhalb dieses Umkreises und kann ihn so besser im Auge und unter Kontrolle behalten. Johannes hatte mich nun völlig aus meinem Gebiet gebracht und ich machte mir Sorgen, was passieren würde, wenn man es bemerkte. Deshalb beeilte ich mich sehr auf den Sumpfpfaden und wäre zwei mal beinahe ausgerutscht. Beinahe hätte es ein schlechtes Ende mit mir genommen. Aber glücklicherweise hatte ich mir ein gewisses Geschick und schnelle Reaktionsfähigkeit bewahrt und schaffte es so, knapp dem Tod zu entkommen.
Als ich in meinem Teil der Siedlung ankam, war ich dreckig, nass und müde. Was sich durchaus ziemte für einen Menschen, der gerade von einer harten Arbeit zurück kommt. Ich erinnerte mich daran, dass die Ställe noch immer dreckig waren und wandte mich also dorthin. Auf halbem Wege begegnete ich jedoch einem Herren - halt, ich musste daran denken, dass sie keine Herren waren, sondern üble Hexer, denen ich am liebsten das Herz aus der Brust gerissen hätte -, der mich anhalten ließ und fragte, wohin ich unterwegs sei. Ich antwortete wahrheitsgemäß, zu den Ställen.
"Warum hast du dich von ihnen entfernt?", wollte er daraufhin wissen. "Es war deine Aufgabe dort zu bleiben und die Ställe auszumisten." Mein neu erwachter Verstand überlegte fieberhaft.
"Ich musste mich waschen, Herr", sagte ich mit unterwürfig gesenktem Blick. "Ein Herr hat mir befohlen mich zu waschen und danach in die Ställe zu gehen, aber ich fürchte, ich habe die erste Anweisung vergessen und bin gleich zu den Ställen gegangen. Aber dann ist es mir wieder eingefallen und ich gehorchte. Jetzt bin ich auf dem Weg zurück zu meiner Arbeit." Selbst ich musste zugeben, dass das so gar nicht nach einer typischen Antwort klang, die Arbeiter üblicherweise von sich gaben. Bevor ich eine gewisse Erinnerung zurück erlangte, hatte ich auch nur wenige Sätze auf einmal gesprochen. Der Mann runzelte dementsprechend misstrauisch die Stirn.
"Wenn du gerade beim Wasser warst, warum bist du dann wieder so schmutzig?" Eine berechtigte Frage, die mich überforderte.
"Ich weiß es nicht, Herr. Ich bin durch Schlamm gelaufen." Das hörte sich schon realistischer an, befand ich. Kurz, unterwürfig und dumm. Anscheinend sah das auch der Hexer so, denn die Falten des Misstrauens glätteten sich ein wenig. Er trat mich mit einem Fuß in den Magen, so dass ich mich krümmte und Mühe hatte, mein Essen nicht über seine Stiefel zu verteilen.
"Dummes Vieh", murmelte er. "Iss mehr!" Mit diesem Befehl ließ er mich links liegen - wortwörtlich - und ging seiner Wege. Während ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu kriegen, ebenso wie die Dunkelheit, die sich über mich zu senken drohte. Schließlich schaffte ich das irgendwie und richtete mich keuchend wieder auf, die Schmerzen verdrängend. Es wunderte mich, wie leicht das war. Anscheinend war ich schon früher gut darin gewesen, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte.
Ein wenig unsicher, aber dennoch erstaunlich fest auf den Beinen, legte ich den restlichen Weg zu den Ställen zurück. Ich schaufelte den Mist aus den Pferdeboxen und dachte gleichzeitig nach. Warum hatte er vorhin gesagt: 'Iss mehr'? Das passte irgendwie gar nicht ins Bild. Ich strengte meinen Verstand an, bemühte ich all die Nebel beiseite zu schieben, die alles so ins Unkenntliche verzerrten, und versuchte es zu verstehen.
Nach der sechsten Box erinnerte ich mich schließlich an das, was Johannes gesagt hatte, kurz bevor wir uns getrennt hatten. Die Drogen wurden uns durch das Essen verabreicht... Also das war’s, der Hexer dachte, dass ich nicht genug der Drogen zu mir nahm. Ich hielt inne, wischte mir den Schweiß aus den Augen und fühlte eine merkwürdige Zufriedenheit mein Rückgrat emporsteigen. Ich war alleine draufgekommen. Ich konnte nachdenken, selbstständig, brauchte keine Hilfe. Das überzeugte mich endgültig von Johannes’ Geschichte. Ich war kein Sklave, kein bloßer Arbeiter der Hexer. Nein, ich war etwas anderes, etwas - hoffentlich - besseres. Ich hatte Freunde, ich hatte ein Leben außerhalb der Sümpfe und ich war etwas wert. Das war es, was mir Zuversicht schenkte. Ich war etwas wert.
Schön zu wissen.

Ich ging den restlichen Nachmittag umher und hielt unauffällig Ausschau. Ich fand Gaya nicht, dafür erfuhr ich, wo der Proviant aufbewahrt wurde. Ich schaffte es sogar, etwas davon zu entwenden, wie ich hoffte, unbemerkt. Ich versteckte es im Stall, damit es im Falle einer übereilten Flucht schnell zu finden war. Währenddessen überlegte ich mir noch nebenbei, wie wir Dajana vor diesen Mistkerlen in Sicherheit bringen konnten. Schließlich erinnerte sie sich nicht und das würde sich laut Johannes auch nicht ändern, solange sie dieses Zeug aß. Ich kam tatsächlich auf eine Idee, die sich mir anbot, obwohl ich nicht sicher war, ob es auch bei ihr funktionieren würde. Aber ich beschloss es unbedingt Johannes zu erzählen. Nach dem Essen.
Natürlich wollte ich nichts essen, aber im Versorgungshaus versammelten sich zur Essensstunde die meisten Arbeiter. So konnte ich am effektivsten nach anderen von uns suchen. Falls ich sie wirklich erkennen würde. Aber ich wagte es nicht daran zu zweifeln.
Zu meiner Enttäuschung traf ich niemanden, den ich kannte. Johannes hatte gesagt, Julian gefunden zu haben, aber wegen Gaya und Alay war ich sehr besorgt. Zwar hatte ich bei Alay ein merkwürdiges Gefühl, aber da ich mich vage zu erinnern meinte, dass sie eine Freundin war, verdrängte ich es. Konnte sein, dass man sie gefangen hielt, aber auch nicht. Wir konnten uns diesbezüglich einfach nicht sicher sein.
Jedenfalls fand ich keine von ihnen. Enttäuscht und müde - sowohl physisch als auch seelisch – verließ ich das Versorgungshaus und machte mich auf den Weg zu den Ställen. Es war noch die sechste Stunde, aber ich wollte Hexern aus dem Weg gehen, die mir sonst eine Aufgabe zugeteilt hätten, an der ich möglicherweise lange sitzen würde. Außerdem hatte ich Hunger. Ein merkwürdiges Gefühl, dachte ich. Eigentlich unangenehm, aber dennoch erfreute es mich. Es war ein Bedürfnis, das erfüllt werden wollte. Ein Zeichen, dass ich gesund war und lebte.
Am Treffpunkt fand ich nur Pferde vor, was mich gar nicht wunderte. Ich holte die Vorräte heraus, die ich versteckt hatte, und nahm mir einen Apfel. Er war grün und unreif, aber herrlich fest und sauer. Ich empfand ihn als die köstlichste Frucht, die ich je probiert hatte.
Während ich da wartete und den Apfel genoss, fragte ich mich, wie mein bisheriges Leben verlaufen war. Schon merkwürdig, wenn man so darüber nachdachte. Ich wusste nichts über mich außer meinem Namen: Cycil Whynneyar. Ich sagte den Namen leise auf und horchte dem Klang der Silben nach. Whynneyar. Ein Familienname. Hatte ich also Familie? Eltern? Geschwister? Lebte ich in einem schönen, großen Haus am Wasser?
Mit geschlossenen Augen malte ich mir mein Leben aus, wie es perfekter nicht sein konnte.
Schlief unbemerkt ein.
Durch meine wirren Träume geisterte ein goldhaariges, grünäugiges Mädchen, lachend, tanzend...

Ich erwachte ruckartig. Blinzelte mehrmals verwirrt und versuchte mich in der Dunkelheit zurechtzufinden, die mich umgab. War ich bei der Arbeit eingeschlafen? Erschrocken bei dem Gedanken fuhr ich hoch, merkte, dass ich schon halb stand und sog den Geruch nach Pferden ein. In den Ställen. Ich war in den Ställen. Was machte ich da?
Ich schüttelte mich, um den Kopf freizubekommen. Das machte ihn tatsächlich klar und gab mir die Erinnerung an die Geschehnisse des heutigen Tages zurück. Ich war im Stehen, im Warten eingeschlafen. Alles war bereits dunkel, daher nahm ich an, dass ich wohl längere Zeit über in meinen Träumen gewandert bin.
Aber wo war dann Johannes?
Durch den Gedanken sofort ernüchtert, trat ich aus dem Stall. Nur noch ein kleiner Rand der Sonne war zu sehen, sie hatte den Horizont größtenteils bereits überwunden. Ich schätzte die Zeit auf die achte, neunte Stunde. Auf jeden Fall nach der verabredeten Zeit.
Wo war Johannes?
Ungute Gefühle stiegen in mir auf. Es gab viel, das ihm zugestoßen sein konnte. Von einem Unfall bei der Arbeit oder in den Sümpfen bis zu einer Gefangennahme von den Hexern. All das gab mir mehr als einen Grund zur Besorgnis.
Und mehr als einen Grund zum Handeln.
Die Notwendigkeit dazu war mir sogleich klar. Wie ein scharfes Messer gemahnte es mich an die Wirklichkeit, an die hilflose Dajana, an die heutige Nacht, an weitere Freunde, die Sklaven waren ohne es zu wissen. Der Gedanke, dass ich auf mich allein gestellt war und zur Zeit nur ich das alles retten konnte, trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. Ich war doch nicht einmal richtig an dieses eigenständige Denken gewöhnt!
Doch gleichzeitig mit diesem Gefühl kam Erinnerung hoch, eine aus weiter Vergangenheit.
Ich wusste sehr wohl, wie ich alles selbst erledigen konnte. Das war mir von Kindheit an gelehrt worden – Selbstständigkeit. In Notsituationen kühl nachdenken zu können. Immer kühl nachdenken zu können. Sich nicht an die zu klammern, auf die ich mich verließ. Und später - nicht so lange her, nicht einmal ein Jahr - hatte ich alle verloren, auf die ich mich verließ.
Kälte ergriff mich bei diesem Gedanken. Das Traumleben, welches ich mir vorgestellt hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase. Ein Schatten schwebte über meinem Leben und hatte immer darüber geschwebt, Dunkelheit, die das Atmen erschwerte.
Gefangen...
Gebunden...
Geknechtet...
Der Wind zerrte an mir, doch ich stand ganz ruhig da und starrte auf die Scheibe der Sonne, wie sie langsam verschwand. Finsternis, die sich über alles legte.
Schüttelfrost. Kälte. Flüsternde Stimmen.
Gelassenheit.
Ich empfand keine Zweifel mehr, die nagende Angst war verschwunden. Aus den Tiefen des Gedächtnisses war etwas emporgekommen, das dies alles beseitigt und mir Ruhe gegeben hatte. Kein Gefühl störte mehr die klare Oberfläche des Pflichtbewusstseins.
Ich hatte eine Aufgabe, eine Verantwortung. Niemand außer mir konnte sie erledigen und ich konnte sie nicht einfach ignorieren - wie hatte ich das nur in Erwägung ziehen können? Es ging um mehr als nur um mich.
Zielsicher verließ ich die Ställe und vertiefte mich in die Sümpfe.

Ich war noch nicht zu spät. Dajana war immer noch am Arbeiten. Sie wusch Wäsche in einem leidlich sauberen Tümpel und verstaute diese in einem großen Korb. Allerdings war sie fast fertig, nur noch zwei Kleidungsstücke warteten in dem anderen, fast leeren Korb.
Ich wartete geduldig bis sie auch diese zufriedenstellend gesäubert hatte und löste mich dann von dem Gebäude, aus dessen Schatten heraus ich sie beobachtet hatte. Beim leisen Geräusch meiner Schritte schaute sie auf und unsere Blicke trafen sich. Trotz aller Gefühlskälte, die mir die Erinnerung geschenkt hatte, fühlte ich dennoch einen Stich als ich sie ansah. Sie sah mager und kränklich blass aus, mit einigen Falten im Gesicht, an die ich mich nicht erinnern konnte. Schrammen, kleine Blessuren und blaue Flecke zierten ihre frei liegenden Arme. Die Haare, hinten zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden, hatten ihren goldenen Schimmer verloren und sahen jetzt bloß struppig aus. Die Augen, diese wundervollen, grünen Augen, blickten mir stumpf entgegen, ohne jedes Erkennen. Ich fühlte mich als ob mir jemand das Herz in der Brust umdrehen würde, langsam und unendlich subtil.
Der kalte Teil von mir befahl dem anderen zu schweigen. Es gab Dinge, um die ich mich kümmern musste. Da war keine Zeit für Sentimentalität.
Trotz dieser Einstellung ergriff ich ihren Arm sanft, ganz sanft. Ich bezweifelte zwar, dass sie das viel kümmerte und es überhaupt zur Kenntnis nahm, aber ich konnte nicht anders. Ihre Haut war nicht weich, sondern fest und ein wenig schorfig, von harter Arbeit mitgenommen. Aber mir war das vollkommen egal. In diesem Moment schien es mir die schönste Empfindung zu sein, die ich kannte. 
Sie starrte mich weiterhin ausdruckslos an.
Ich nahm mich zusammen, versuchte einen Ton zu finden, der meine Gefühle nicht wiedergab.
"Wohin sollst du die Wäsche bringen?", fragte ich rau.
"In das Haus", lautete ihre Antwort.
"Bring sie dorthin und komm sofort zurück. Sprich mit keinem, befolge nur meinen Befehl."
"Ich habe einen anderen Befehl", sagte sie. "Ich soll zu den Zelten kommen, nachdem ich mit der Wäsche fertig bin." Ich atmete hastig aus. Kontrolle. Disziplin.
"Dieser Befehl wird widerrufen. Tu, was ich dir sage."
Selbstbeherrschung.
"Jawohl, Herr", sagte sie hohl und beugte sich runter, um den Korb hochzuheben. Ich ließ ihre Hand los, widerstrebend, und beobachtete einige blonde Strähnen, die sich aus Knoten gelöst hatten und ihr über die Schultern fielen, sich an den schlanken Hals schmiegten.
Es fiel mir schwer zu schlucken, geschweige denn nachzudenken.
Kontrolle.
Ich verfolgte sie mit meinen Blicken als sie sich entfernte, verschlang förmlich die schlanke Gestalt, den weichen Gang. Das Verlangen sie zu berühren machte mich fast wahnsinnig. Ich wollte ihr Gesicht streicheln. Über ihre Haare streichen. Ihren Atem spüren. Ihre Lippen schmecken.
Ich wollte sie.
Regentropfen fielen auf mein erhitztes Gesicht und liefen als Tränen meine Wangen herab. Ich schloss die Augen und ließ das kühle Nass auf meinen Lippen zergehen, in meinen Mund einsickern. Es durchnässte meine Kleidung, meine Haare, meine Stiefel. Der Regenfall war stark und heftig, kam mit großen, schwammigen Tropfen und prallte schwer auf dem ohnehin feuchten Boden auf. Das Geräusch, ein stetiges Rauschen, zischte in meinen Ohren.
Der Regen sog die Hitze aus mir, ernüchterte meine Gedanken und kühlte die Gefühle.
Erinnerte mich wieder an die verschwommene Vergangenheit, die mich beeinflusste.
Es gab mir Kraft alles zu verdrängen und mich nur auf eins zu konzentrieren: auf Dajanas Rettung. Meine Sehnsüchte waren unwichtig. Meine Wünsche waren nicht relevant. Alles, was zählte, war Dajana.
Als sie zurückkam, war ich wieder gefasst und hatte mich weitgehend unter Kontrolle.
"Folge mir", befahl ich ruhig und ging los. Ohne Widerspruch trabte sie hinter mir her, wie ein willenloses Tier. Ich fragte mich, ob ich auch so gewesen war, als Johannes mich fand. War das möglich? Einerseits fand ich es eine furchtbare Vorstellung. Andererseits bedeutete es, dass auch Dajana sich erholen konnte, der Wirkung der Droge entzogen und sich an ihr altes Selbst erinnernd. 
In diese und ähnliche Gedanken versunken ging ich die schlammigen Pfade entlang, überquerte die morschen Brücken und achtete immer darauf, dass sie mir folgte. Das tat sie, unbeirrbar und mit sicherem Tritt. Den Blick nach unten gerichtet, ganz Unterwürfigkeit und Demut.
Bis ich, durch viele Gedanken unachtsam geworden, auf eine schwache Stelle der Brücke trat und diese unter mir nachgab. Ich hatte nur Zeit einen kurzen, erschrockenen Atemzug zu machen und schon war ich im Wasser. Im sumpfigen, faulig riechendem Wasser. Im Innern aufs Heftigste fluchend tauchte ich auf und spuckte aus. Dann bemerkte ich, dass es schlimmer war als ich gedacht hatte.
Es war kein Wasser. Es war Sumpfteig.
Sumpfteig - ein heimtückisches Gebräu, dem Aussehen nach mehr oder weniger harmloses Wasser, nur einige Zentimeter tief. In Wirklichkeit aber eine zähe Brühe, die einen packte und nicht wieder losließ. Sie war nicht wie Treibsand, sog den Menschen nicht in ihren Schlund um unersättlichen Hunger zu befriedigen. Sie hielt ihn einfach nur fest. So lange, bis seine Kräfte nachgaben und er nach einer qualvoll langen Zeit an Durst oder anderen unangenehmen Dingen starb. Dann machten sich riesige Moskitos, kleinere Reptilien und Fleischfresserpflanzen über den Leichnam her. Und nach einigen wenigen Tagen blieb nichts mehr zurück, denn das Skelett wurde von einer Säure zersetzt, die eine im Sumpf heimische Vogelart absonderte.
Ende der Geschichte.
Kein sehr angenehmes. Keines, das ich erleiden wollte.
Ich versuchte, nach dem Holz der Brücke zu greifen, die sich aber knapp oberhalb meiner Reichweite befand. Vielleicht eine halbe Handlänge. Der Druck des Sumpfteigs legte sich wie ein eisernes Band um meine Brust und machte es schwer zu atmen. Ich kämpfte erfolgreich gegen den Impuls an um mich zu treten und dadurch meine Kraft noch eher zu erschöpfen. Stattdessen rief ich um Hilfe.
"Dajana! Dajana, komm her!" Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich der Einbruchsstelle. Ich sah ihr Gesicht über mir, das etwas von seiner Starrheit eingebüßt hatte. Normalerweise hätte mich das erfreut, aber jetzt war ich zu sehr damit beschäftigt, die Panik zu unterdrücken. "Hilf mir!" Sie starrte mich nur an. Ich wiederholte den Befehl dringender, aber sie reagierte immer noch nicht. Ich wusste nicht, was sie zurückhielt. Angst? Unvermögen?
Wollte sie es nicht?
"Dajana..."
"Wieso nennt ihr mich so?", fragte sie zögernd. Ich war mehr als überrascht von ihrer Frage. Allein die Tatsache, dass sie fragte, war mehr als merkwürdig. Trotzdem antwortete ich.
"Weil das dein Name ist. Du heißt Dajana. Dajana Stromsyard." Der Nachname war mir selbstständig über die Lippen gekommen - vor zwei Sekunden hätte ich ihn nicht gewusst. In ihren grünen Augen war kein Wiedererkennen, kein Aufglühen erwachenden Bewusstseins.
Oder doch?
"Arbeiter haben keine Namen", sagte sie leise, in sich gekehrt. Mir erschien ein Vergleich - wie eine Schnecke, die ihre Fühler vorsichtig aus dem Panzer streckt, das ihr Haus ist. Oder in Dajanas Falle, ihr Gefängnis. Ich atmete langsam aus und versuchte die Ruhe zurückzuholen.
"Hilf mir hier raus", sagte ich wieder, diesmal sehr scharf und eindringlich. "Sofort!" Ob da nun etwas gewesen war, ein Zurückkehren des Gedächtnisses, ein Schatten der Vergangenheit, es erlosch jedenfalls, nachdem ich diese Worte gesagt hatte.
Sie kniete sich hin, presste sich flach gegen die morschen Bretter und kroch vorsichtig näher an die Einbruchsstelle. Ihre Hand kam durch die Öffnung, langsam, aber zielsicher. Sie berührte die meine – warm, sehnig, doch auf unbestimmte Weise samtig - und schloss sich darum, verschränkte ihre Finger in meine.
Dann warf sie sich zurück und zog.
Ein harter Ruck, aber weder sie noch ich ließen los. Der Sumpfteig allerdings auch nicht. Hartnäckig weigerte er sich, sein Opfer gehen zu lassen. Erstaunlicherweise blieb Dajana jedoch ebenso unnachgiebig und legte ihre ganze Kraft hinein. Deren Ausmaß erstaunte mich wieder mal.
Ich ergriff den Rand der Brücke und konnte so auch mithelfen mich herauszuziehen. Es war ein langer, harter Kampf, aber wir gewannen knapp. Mit einem schmatzenden Geräusch ließ mich der Sumpf frei und Dajana half mir endgültig auf die Brücke zu klettern. Da saß ich nun, schwer atmend, von Kopf bis Fuß mit faulig riechendem Wasser durchnässt, dem sicheren Tod entkommen. Ein überaus angenehmes Gefühl, bemerkte ich, dem der Gestank keinen Abbruch bereitete.
Dajana ließ mich nicht aus den Augen. Sie saß ebenfalls, gefährlich nah am Rand der Holzkonstruktion, die man Brücke schimpfte. Ebenfalls erschöpft und schwer atmend. Um ein Haar hätte ich sie umarmt.
Dann kroch sie vom Rand fort und presste ihr Gesicht auf die feuchten, schimmligen Bretter in dem Akt der Unterwürfigkeit, der Huldigung genannt wurde. Mir wurde übel.
"Steh auf!", befahl ich barsch und erhob mich mit ihr. "Wir gehen weiter." Wortlos ließ sie mich vorbei und trottete mir dann hinterher.

Wohin konnte ich sie bringen, außer in die Ställe? Es erschien mir als das einzige Versteck, das einigermaßen sicher war. So betraten wir also zusammen das Gebäude und wurden von unruhigem Wiehern empfangen. Es war dunkel, aber ich hörte ihre Schritte hinter mir, gedämpft durch das Stroh auf dem Boden.
Ich brachte sie in die hinterste Kammer, dort, wo das Werkzeug des Hufschmieds aufbewahrt wurde. Wer würde schließlich mitten in der Nacht Hufeisen anbringen? Ich hieß sie an, sich hinzusetzen - sie gehorchte mit einer Plumpheit, die schmerzte, denn ich erinnerte mich an Tage der Grazie und Eleganz der Bewegungen - und hockte mich dicht neben sie.
"Hör jetzt genau zu." Ich sah ihr fest in die Augen, versuchte zu ihr durchzudringen. "Du wirst die ganze Nacht über hier bleiben. Verstehst du? Du wirst diesen Raum nicht verlassen, egal, was passiert."
"Ich habe Anweisungen", meinte sie tonlos.
"Die sind hiermit aufgehoben. Aufgehoben! Du gehst auf gar keinen Fall zu den Zelten, verstanden? Das ist ein absolutes Verbot! Wiederhole es."
"Ich werde die ganze Nacht hier in diesem Raum verbringen. Es ist verboten zu den Herrenzelten zu gehen. Die Anweisungen sind aufgehoben."
"Gut so! Hast du dir den Weg gemerkt, den wir genommen haben?"
"Ja, Herr."
"Sobald die Sonne aufgeht, wirst du den Weg zurückgehen, dorthin, wo du beim Sonnenaufgang immer sein sollst."
"In der Küche."
"In der Küche", bestätigte ich. "Wirst du das schaffen?"
"Ja, Herr."
"Wenn man dich fragt, was du diese Nacht über getan hast, wirst du sagen, du warst bei den Zelten."
"Das werde ich aber nicht gewesen sein."
"Stimmt. Aber du wirst es dennoch sagen. Ist dir das klar?"
"Ich werde heute Nacht hier in diesem Raum bleiben. Falls mich jemand fragt, bin ich aber bei den Zelten gewesen", sagte sie. Ich fühlte mich nicht wohl bei dieser Sache - ich war mir nicht sicher, inwiefern sie mit einer Lüge zurechtkommen konnte. Aber ich musste es darauf ankommen lassen.
"Genau das." Ich sah nach draußen: dunkelste Nacht, dichte Finsternis, keine Sterne, da sie von den unsichtbaren Wolken verdeckt wurden. Um diese Zeit sollten alle Arbeiter längst schlafen. "Ich werde jetzt gehen", wandte ich mich noch mal an Dajana. "Vergiss nicht, was dir aufgetragen wurde. Es ist sehr wichtig." Sie sah mich bloß stumm an.
Jetzt kam das Schwierigste an der ganzen Sache. Ich musste sie verlassen. Wie konnte ich das tun? Freiwillig? Ich suchte in mir nach Entschlusskraft und fand nur Sehnsucht, blind, unvernünftig.
Wo blieb die Kontrolle? Die Disziplin?
Anscheinend musste ich mich in manchen Situationen auf mich selbst verlassen. Auf mein schwaches, wankelmütiges Ich, fügte ich in Gedanken hinzu und war gar nicht erfreut.
Irgendwie schaffte ich es aber doch noch. Erreichte tatsächlich die Tür ohne mich umzusehen und stieß sie mühsam auf. Dann erst wagte ich es, einen Blick zurückzuwerfen. Ich sah sie nicht, natürlich nicht, in diesem Dunkeln, aber ich meinte einen Umriss zu erkennen. So allein. Konnte ich...?
Ich konnte.
Ich verließ sie.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 2. Teil des 7. Kapitels :-)

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