Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm |
Kapitel 7: Sumpfblumen (1) |
Mit geübter Hand ließ ich den Hammer auf das Schwert niedersausen. Ein helles Klingen ertönte, das von den gepolsterten Wänden verschluckt wurde und nicht ein Echo wiedergab. Ich registrierte es abwesend und wischte mir mit einer mechanischen Bewegung den Schweiß von der Stirn. Es war höllisch heiß in dem Gebäude, das als Schmiede umfunktioniert worden war. Ich konnte kaum atmen, jeder Atemzug brannte wie geschmolzener Stein im Hals und in den Lungen. Jeden Augenblick fürchtete ich in Ohnmacht zu fallen und es nicht einmal zu merken. Von einer glühenden Dunkelheit in eine andere. Trotzdem machte ich weiter, nicht der Hartnäckigkeit willen, sondern weil es ein Befehl war: Arbeite. Man hatte es mir befohlen und so tat ich es auch. Und würde es tun, bis ich umfiel, mein Herz versagte und ich starb, immer noch den schweren Hammer umklammernd, um auch im Tode zu zeigen, dass ich nur das eine im Sinn gehabt hatte: Arbeit. Ich stand kurz davor, als einer der Herren kam und meine Ablösung brachte. "Geh dich waschen", befahl der Herr mit einem verächtlichen Blick auf meine schmutzige, mit Schweiß durchtränkte Kleidung. "Nach dem Essen gehst du die Ställe ausmisten." Ich ließ den Kopf auf dem Boden in einer Huldigung, bis der Herr wegging. Dann erst wagte ich es aufzusehen und mich zu erheben. Meine Ablösung, ein anderer, hagerer Mann schenkte mir keinen einzigen Blick, dieser blieb fest auf dem halb gefertigten Schwert hinter mir. Arbeite. Ich verließ die Schmiede. Als ich durch die Tür nach draußen trat, war es mir, als ob der kalte Wind mich umwehen würde. Er riss an mir, hartnäckig, fordernd. Er akzeptierte keine Schwäche. Ich fand die Kraft ihm zu widerstehen und ging weiter, versuchte die unbändige Kraft des Windes zu ignorieren. Genoss unbewusst die Kühle auf meiner Haut. Über mir türmten sich hoch die schweren, grauen Wolken. Ihre regenschwangeren Leiber waren so aufgedunsen mit Wasser, dass ich leise Angst verspürte, sie würden über mir hereinbrechen und mich zerschmettern. Aber die Angst verschwand rasch, verzischte ins Nichts, denn ich hatte wichtigeres, worauf ich mich zu konzentrieren hatte. Befehle zu befolgen. Der Herr hatte mir befohlen, mich zu waschen, bevor ich zum Essen ging. Gehorsam schlurfte ich in Richtung Wasser. Es gab keinen sauberen Fluss, keine reine Quelle, kein fließendes Wasser überhaupt. Es gab nur Tümpel voller stehenden Wassers, durchwachsen von Sträuchern, Moos und Schilf. Viele schlammige Stellen und unpassierbare Gebiete erschwerten den Weg, außerdem war da die graue Dunkelheit, die über allem hing. Aber ich fand mich zurecht. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand ich den Weg durch die Sümpfe, schritt dahin auf schmalen Pfaden, die für alle außer den Bewohnern dieser Gebiete unsichtbar waren. Die tödlichen Fallen des Sumpfs übersprang ich leichtfüßig, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden. Dort, wo Außenseiter den Tod fanden, fand ich schließlich das Wasser. Natürlich war überall Wasser, aber nur in diesem Tümpel war es ungiftig und konnte ohne Gefahr zu sich genommen oder zum Waschen benutzt werden. Es war eher eine Pfütze als ein Tümpel, und sehr schlammig, aber das kümmerte mich nicht. Man hatte mir befohlen mich zu waschen und das tat ich dann auch. Das Gefühl von eisig kaltem Wasser auf dem Körper war sehr unangenehm, aber ich beeilte mich nicht, spülte sorgfältig mit schmutzigem Sumpfwasser den Schweiß und den Schmutz weg. Windbrisen beugten die Sträucher und kräuselten das Wasser. Die Welt war grau. Danach ging ich wieder zurück, schlug aber einen etwas anderen Kurs ein. So gelangte ich relativ schnell an den Rand der Siedlung. Vielleicht konnte man nicht wirklich von einem Rand sprechen, da die Siedlung sich über viele Kilometer erstreckte und an manchen Stellen nicht einmal eine Verbindung zwischen den einzelnen Gebäuden bestand. Vielleicht hatte die Siedlung gar keinen Rand und lag über die ganze Welt ausgebreitet. Vielleicht hatte der Sumpf die ganze Welt verschlungen. Mich kümmerte das nicht. Das Haus war ziemlich groß und bestand aus zusammengeflochtenen Halmen, wie fast alle Gebäude im Sumpf. Es gab nicht einmal eine richtige Tür, nur eine ungerade Öffnung, einen Schlitz in die Außenhülle. Bei starkem Regen sickerte das Wasser durch das Dach und die Wände und sammelte sich im Innern. Durch diese Tür konnte es gleich wieder rausfließen ohne großen Schaden anzurichten. Ungefähr zwei Dutzend weitere Arbeiter hielten sich drinnen auf. Sie alle trugen graue, schäbige Kleidung und hohe Stiefel wie auch ich selbst. Bei manchen waren nur Fetzen davon übrig geblieben, aber das machte ihnen ebenso wenig aus, wie wenn sie gar nichts angehabt hätten. Keiner der Herren war anwesend, was aber kein Wunder war. Nur selten kam einer von ihnen her, wenn er einen Dienst außerhalb der normalen Arbeitsgebiete benötigte. Ich ging zu den aufgestapelten Kisten an der gegenüberliegenden Wand und nahm mir aus einer offenen zwei Kekse. Die trockenen, großen Scheiben waren der einzige Proviant für die Arbeiter. Sie schmeckten nach nichts und man konnte sie nur schwer hinunterwürgen, aber sie spendeten Energie und erhielten uns am Leben. Was konnte man mehr verlangen? Ich setzte mich in eine Ecke auf den Boden und knabberte lustlos an einem weißen Keks. Ich beeilte mich mit dem Essen so sehr ich konnte, denn ich musste in die Ställe. Ein anderer Arbeiter verschlang die karge Mahlzeit und stand hastig auf. Auf dem Weg zum Ausgang gaben dann seine Beine nach und er fiel hin. Während er sich in Krämpfen auf dem Boden wand, sah ich stumpf zu und stopfte mir auch die letzten Krümel in den Mund. Der andere spuckte Blut und lag dann endlich still. Seine Augen hatten sich nach oben hin verdreht, so dass man nur das Weiße darin erkennen konnte. Ungerührt aß ich auf und ging dann an dem Toten vorbei, schenkte ihm nicht mehr Beachtung als einem Stein im Weg. Warum auch? Er war tot; jemand anders würde sich um ihn kümmern. Ich hatte einen Befehl zu befolgen. In den Ställen war es dunkel und kühl. Es roch nach Verwesung, Lehm und Mist. Nach Erde. Die Pferde rochen mich, manche schnaubten ängstlich oder stampften unruhig mit den Hufen. Die meisten jedoch waren in eine Lethargie versunken, die der meinen nicht unähnlich war und reagierten in keiner Weise auf mein Eintreten. Niemand sonst war da, was wahrlich keine Überraschung war. Die Pferde wurden so gut wie nie gebraucht, nur wenn sich mal ein Bote zur Stadt begab. Ich nahm eine Schaufel und fing an, den Stall auszumisten. Die Arbeit verrichtete ich wie immer völlig automatisch, ohne darauf auch nur zu achten. Hätte ich tief und fest geschlafen, hätte ich es wahrscheinlich nicht anders gemacht. Ich schrak erst aus meinem Wachschlaf auf, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Die Schaufel fiel mir aus der Hand und ich hatte sie in dem Augenblick schon vergessen. Ich sah mich einem weiteren Arbeiter entgegen und das konnte nur bedeuten, dass mir eine neue Aufgabe zugeteilt werden sollte. Erwartungsvoll begegnete ich seinem Blick. Aber er hatte keine neue Anweisung für mich. Stattdessen sprach er mich mit einem Namen an, den ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. "Cycil", sagte er, "Cycil, erkennst du mich wieder?" Ich war ein wenig überrascht, dass er mich etwas fragte - wenn er überhaupt mich damit meinte, aber einen anderen sah ich eigentlich nicht. Normalerweise fragte man mich nicht, man befahl mir einfach. Deshalb wusste ich auch nicht, was ich darauf erwidern sollte. Also schwieg ich verwirrt und wartete darauf, dass mir irgendein Befehl gegeben wurde. "Anscheinend erkennst du mich nicht", schlussfolgerte der Arbeiter und seufzte. "Verdammt. Komm schon – ich bin’s, Johannes. Eigentlich solltest du mich kennen, aber du stehst wohl immer noch unter den Einwirkungen dieser Droge." Immer noch völlig ahnungslos blinzelte ich. "Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, stimmt’s?" Wieder eine Frage. "Hast du Anweisungen für mich?", fragte ich endlich, um diesem unverständlichen Wortschwall Einhalt zu gebieten. Es war auch ungewohnt zu reden, ohne aufgefordert zu werden. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, dass das etwas schlimmes war. Er runzelte die Stirn. "Wie soll ich dich nur dazu bringen, dich zu erinnern... Dein Name ist Cycil. Cycil Whynneyar. Wir sind Freunde - ich bin Johannes Cynnethan. Erinnerst du dich, wir waren zu fünft - na ja, zu sechst - und sind aus Sunaj geflohen. In den Celine. Wo wir von diesen Bastarden von Hexern mit Magie überwältigt und hierhin verschleppt wurden. Sagt dir das gar nichts?" Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand immer weniger, aber anscheinend hatte dieser Johannes keine neuen Befehle. Also musste ich den alten gehorchen. Leider hatte ich vergessen, welche das gewesen waren. Zu meiner Verwirrung kam jetzt auch Angst dazu - ich hatte einen Befehl nicht befolgt! Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern, worin dieser bestanden hatte, und ignorierte den anderen Arbeiter. "Wirst du mir wohl zuhören!" Er ergriff meinen Arm und musterte prüfend mein Gesicht. "Was soll ich jetzt denn tun? Ich habe gehofft, wenigstens du erinnerst dich noch ein wenig, nicht wie Dajana und Julian..." Plötzlich verstummte er. Nach einer kleinen Pause sagte er: "Komm mit." Nun, das war ein Befehl, daher folgte ich ihm bereitwillig und erleichtert, etwas zu tun zu haben. Er führte mich über enge Pfade durch den Sumpf in einen anderen Teil der Siedlung, den ich noch nie betreten hatte. Unruhe schlich sich bei mir ein - warum mussten wir so lange gehen? Ich stellte diese Frage nicht laut - das wäre mir nie eingefallen -, aber es verstörte mich, diesen Gedanken überhaupt zu haben. Das war alles andere als wünschenswert. Schließlich tauchte eine Ansammlung Gebäude vor uns auf, bekannte Konstruktionen, die mich beruhigten. Gleich würde ich wieder an die Arbeit gehen und alles würde wieder gut werden. Doch nein. Johannes blieb im Schatten eines Hauses stehen und bedeutete mir ebenfalls anzuhalten. Vorsichtig spähte er über den Rand und hielt Ausschau. Dann befahl er mir flüsternd, näher zu kommen. Gehorsam gesellte ich mich zu ihm und wartete. "Schau", wisperte er. Ich schaute. Es war eine ganz normale Straße, von beiden Seiten durch schiefe Gebäude eingegrenzt, durchwachsen von Sumpfgras und bedeckt von Schlamm. Arbeiter gingen ihren Aufgaben nach. Ich wünschte mir von Herzen es ihnen gleich tun zu können. Ich hatte keine Ahnung, was das Ganze sollte. "Siehst du sie nicht?" Ich hasste Fragen. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Johannes erwartete etwas von mir, aber was? Wen sollte ich sehen? Dann fiel sie mir auf. Ein normales Mädchen in Arbeiterkleidung, das die Straße entlang schritt, einen großen Korb tragend, der zu schwer für sie schien. Es war merkwürdig, aber als ich mir ihr Gesicht ansah, juckte es. Nein, nicht wirklich, aber das Gefühl, das ich verspürte, war tatsächlich wie ein Jucken an einer unerreichbaren Stelle. Als ob da etwas wäre, irgendwo in meiner Nähe, das ich nicht zu fassen bekam. "Wer... wer ist sie?", fragte ich zögernd. "Du weißt es. Du kennst sie", erwiderte er und beobachtete mich genau. Ich nahm das allerdings kaum zur Kenntnis. Ich suchte einen Weg, mich zu kratzen. Dieses blonde Haar, das trotz des abwesenden Sonnenscheins so golden glänzte. Diese großen, grünen Augen. Diese Bewegungen... Das Jucken wurde stärker. "Wie heißt sie?", wollte ich atemlos wissen. "Dajana." Der Name passte; keine Ahnung, warum, aber er passte. Er schien in jeden Millimeter dieser glatten Haut eingebrannt zu sein, sang aus der fließenden Bewegung ihrer Locken, strahlte aus ihren Augen wie ein Leuchtfeuer. Ein Leuchtfeuer, um jemanden heimzuholen. Um mich heimzuholen. "Sie ist so schön...", flüsterte ich und kämpfte mit dem Impuls, das Versteck zu verlassen, zu ihr hinzulaufen, ihr zu helfen. Sie in meine Arme zu reißen. "Nicht", sagte Johannes und ich merkte, dass ich schon drei Schritte in ihre Richtung getan hatte. Mit Mühe zog ich mich zurück. Es war schwer, den Blick von ihr abzuwenden. "Warum fühle ich mich so merkwürdig?", fragte ich ihn. Er lächelte auf einmal. "Das nennt man Liebe, glaube ich." Ich runzelte die Stirn. Liebe... Seltsames Wort, so abstrakt und unwirklich. Dieses Mädchen war aber wirklich, so real, dass es mir den Atem verschlug. "Warum ist sie hier? Sie gehört nicht hierhin", sagte ich langsam. "Keiner von uns gehört hierher. Wir wurden gefangen, erinnerst du dich? Im Wald. Mit einer Art Droge ließen sie uns vergessen, wer wir sind. Sie ließen uns alles vergessen. So wie sie es den anderen Menschen hier angetan haben." Ich hörte zu und beobachtete dabei dieses Mädchen, Dajana. So schön, so fremdartig, so unschuldig. Sie gehörte wirklich nicht hierher. Ich konnte sie mir gut auf einem Pferd vorstellen, frei und ungebunden über grüne Wiesen reitend. "Man hat ihr befohlen, heute Nacht zu den Herrenzelten zu kommen", sagte Johannes. Ich zuckte zusammen. "Du weißt, was das bedeutet." Und ob ich es wusste. Ein unerwartetes Gefühl brach in mir aus – Wut. Nie im Leben würde ich zulassen, dass irgendjemand Dajana zu seinem Vergnügen missbrauchte! Eher würde ich tausender Tode sterben. "Ich werde es verhindern", sagte ich bestimmt. "Wie willst du das anstellen?", fragte Johannes. Ich wusste es nicht. Selber nachzudenken, sich etwas zu überlegen, überstieg meine Fähigkeiten. Ich hatte schon Probleme damit, auf Fragen zu antworten, wie sollte ich mir da einen Plan ausdenken? Verärgert sah ich Johannes an, als ob er die Ursache für all meine Probleme wäre. "Keine Ahnung", gab ich schließlich zu. "Es ist schon Nachmittag", erinnerte er mich. "Wir müssen uns etwas überlegen." "Schön! Dann überleg doch!" Ich strich mir einige Haare aus dem Gesicht und atmete aus. "Können wir sie nicht einfach mitnehmen und... weggehen?" Das Wort hörte sich ungewohnt an. "Nein. Wir befinden uns mitten im Sumpf, schon vergessen? Bis zum Celine ist es mindestens ein Tag hin. Man wird unsere Flucht bestimmt bemerken und uns wieder einfangen, schließlich sind es Hunderte von diesen Hexern. Wir brauchen unsere Waffen, Proviant, unsere Pferde - außerdem sind wir nicht vollständig. Ohne die anderen verlassen wir diesen Ort nicht." "Die - anderen?" Ich strengte mein Gedächtnis an. Da war tatsächlich etwas, eine schwache Erinnerung an weitere Personen, die man zu meinen Freunden zählen konnte. "Gaya, Julian und Alay", sagte Johannes und die Namen kamen mir in der Tat bekannt vor. Ich konnte sie zwar nicht mit Gesichtern in Zusammenhang bringen, aber etwas war mit Sicherheit da. "Ich weiß, wo Julian sich befindet, obwohl er sich an nichts erinnert, aber Gaya konnte ich nicht finden. Alay wird von den Hexern gefangen gehalten, glaube ich. Wahrscheinlich wirkte die Droge bei ihr nicht..." "Sie ist mächtig", sagte ich leise. "Sie... hat Licht auf ihrem Weg." Er verstand mich nicht, das konnte ich in seinem Gesicht sehen, aber ich verstand mich selbst auch nicht. Die Lethargie war weg, diese Teilnahmslosigkeit, aber an ihre Stelle war etwas getreten, das sich rau und kantig anfühlte. Verschwommene Erinnerungen, Gedanken und Bilder warteten an der Oberfläche, aber noch konnte ich sie nicht ergreifen. Noch hinderte mich etwas daran. Aber die Erinnerung an Dajana hatte einen Spalt darin aufgerissen, den ich vergrößern konnte - vergrößern musste. Um ihretwillen. "Wir trennen uns...", schlug ich langsam vor. "Jeder macht sich einzeln auf die Suche nach den anderen, nach den Waffen und dem Proviant. Abends treffen wir uns dann... irgendwo. Tauschen Neuigkeiten aus und bringen Dajana in Sicherheit. Planen die Flucht." Ihren Namen auszusprechen, tat mir richtig gut. Johannes nickte. "Ja, das machen wir. Als Treffpunkt schlage ich die Ställe vor." "Gut, treffen wir uns dort. Wir dürfen aber nicht auffallen, auf gar keinen Fall." Ich meinte mich zu erinnern, dass das sehr wichtig war. "Wirst du sie denn erkennen, wenn du ihnen begegnest?" Ich verstand; er machte sich Sorgen, dass ich noch zu sehr unter dem Einfluss der Droge stand, um alleine etwas zu vollbringen. Ein Lächeln schlich sich ganz von alleine auf mein Gesicht und überraschte mich selbst mindestens genauso sehr wie ihn. "Ich denke schon." Ich wusste nicht, woher meine Sicherheit stammte, aber irgendwo tief in meinem Innern war sie da: ich würde sie alle zu erkennen wissen, wenn ich sie sah. Johannes lächelte auch, aber sehr angespannt, wie auch seine Stimme klang. Ich fragte mich auf einmal, wie lange er schon nach uns suchte. Wie lange waren wir überhaupt schon hier? "Gut. Aber Cycil, du darfst auf keinen Fall etwas von dem Zeug essen, das sie den Arbeitern geben. Ich vermute stark, dass sie uns so die Droge geben. Ihre Wirkung lässt nämlich nach gewisser Zeit nach und man muss eine weitere Dosis verabreichen. Wenn du das Essen nicht anrührst, kommt auch dein Gedächtnis zurück." "Aber warum fange ich schon an mich zu erinnern?", fragte ich. Johannes zuckte mit den Schultern. "Ich nehme an, das liegt an der Magie. Sie macht uns ein wenig resistent gegen die Droge, deshalb bedurfte es nur eines starken Auslösers, damit ihre Wirkung nachlässt." "Magie? Soll das heißen, wir sind beide Magier?", fragte ich überrascht. "Ja, das sind wir. Aber die Magie funktioniert nicht, solange die Droge sich im Körper befindet, daher kannst du dich nicht darauf verlassen. Ich habe es schon ausprobiert - man spürt ihre Anwesenheit nicht einmal. Ich kann nur annehmen, dass sie nach gewisser Zeit wiederkehren wird." Ich spürte hinter seinen Worten die Furcht, die er sich nicht eingestehen wollte - dass die Magie vielleicht gar nicht wiederkehren würde. Aber ich ging nicht darauf ein, ein anderer Gedanke beschäftigte mich mehr. "Was ist mit... Gaya?" Ich war mir wegen dem Namen nicht ganz so sicher. "Hat sie nicht auch magische Fähigkeiten?" Johannes nickte. "Doch, hat sie. Wenn du sie findest, kannst du versuchen auch ihre Erinnerungen zu wecken. Dazu braucht man nur einen Auslöser, eine Erinnerung, die ihr besonders wichtig ist. Etwas, das ihr im Leben viel bedeutet." "Was könnte das sein?" "Ich weiß es nicht. Vielleicht ihr Cousin Tomas. Wir werden sehen, wenn es soweit ist." Er sah hoch zum Himmel. Zwar sah man die Sonne nicht, aber sie musste ungefähr auf halbem Weg zwischen Zenit und Horizont sein. "Wir haben nicht mehr viel Zeit. Also bei den Ställen, Cycil, wenn die Sonne in der siebten Stunde steht." Ich nickte. Warf noch einen Blick in die Straße, wo Dajana gerade im Innern eines Hauses verschwunden war. Der Gedanke daran, was man alles diesem hilflosen Mädchen antun konnte, stärkte meinen Entschluss nur noch. Ich schwor mir, dass sie nie zu Schaden kommen sollte, solange ich am Leben war. Vielleicht sogar darüber hinaus. Normalerweise geht ein Arbeiter nicht über
sein bestimmtes Gebiet hinaus. Man gibt ihm nur Arbeiten innerhalb dieses
Umkreises und kann ihn so besser im Auge und unter Kontrolle behalten.
Johannes hatte mich nun völlig aus meinem Gebiet gebracht und ich
machte mir Sorgen, was passieren würde, wenn man es bemerkte. Deshalb
beeilte ich mich sehr auf den Sumpfpfaden und wäre zwei mal beinahe
ausgerutscht. Beinahe hätte es ein schlechtes Ende mit mir genommen.
Aber glücklicherweise hatte ich mir ein gewisses Geschick und schnelle
Reaktionsfähigkeit bewahrt und schaffte es so, knapp dem Tod zu entkommen.
Ich ging den restlichen Nachmittag umher und
hielt unauffällig Ausschau. Ich fand Gaya nicht, dafür erfuhr
ich, wo der Proviant aufbewahrt wurde. Ich schaffte es sogar, etwas davon
zu entwenden, wie ich hoffte, unbemerkt. Ich versteckte es im Stall, damit
es im Falle einer übereilten Flucht schnell zu finden war. Währenddessen
überlegte ich mir noch nebenbei, wie wir Dajana vor diesen Mistkerlen
in Sicherheit bringen konnten. Schließlich erinnerte sie sich nicht
und das würde sich laut Johannes auch nicht ändern, solange sie
dieses Zeug aß. Ich kam tatsächlich auf eine Idee, die sich
mir anbot, obwohl ich nicht sicher war, ob es auch bei ihr funktionieren
würde. Aber ich beschloss es unbedingt Johannes zu erzählen.
Nach dem Essen.
Ich erwachte ruckartig. Blinzelte mehrmals
verwirrt und versuchte mich in der Dunkelheit zurechtzufinden, die mich
umgab. War ich bei der Arbeit eingeschlafen? Erschrocken bei dem Gedanken
fuhr ich hoch, merkte, dass ich schon halb stand und sog den Geruch nach
Pferden ein. In den Ställen. Ich war in den Ställen. Was machte
ich da?
Ich war noch nicht zu spät. Dajana war
immer noch am Arbeiten. Sie wusch Wäsche in einem leidlich sauberen
Tümpel und verstaute diese in einem großen Korb. Allerdings
war sie fast fertig, nur noch zwei Kleidungsstücke warteten in dem
anderen, fast leeren Korb.
Wohin konnte ich sie bringen, außer in
die Ställe? Es erschien mir als das einzige Versteck, das einigermaßen
sicher war. So betraten wir also zusammen das Gebäude und wurden von
unruhigem Wiehern empfangen. Es war dunkel, aber ich hörte ihre Schritte
hinter mir, gedämpft durch das Stroh auf dem Boden.
© Martha
Wilhelm
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