Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 7: Sumpfblumen (2)

Der nächste Tag stand unter dem Vorzeichen eines blutroten Sonnenaufgangs.
Die Farbe kam mir gleich bekannt vor und dieses ungute Gefühl verfolgte mich, die Andeutung einer Erinnerung. Ich konnte sie nicht ignorieren, sie war nur in der Vergangenheit lebendig, ohne dass ich mich daran erinnern konnte.
Langsam schien es mir, dass ich nur ungute Erinnerungen hatte.
Dabei war der Tag eigentlich erstaunlich schön. Die Wolken gaben einen Teil des Himmels frei und zum ersten mal seit - ich weiß nicht, wann, aber es musste lange her sein - sah ich klares Blau über mir. Ich trieb mich in der ganzen Siedlung umher, tat so, als würde ich Arbeiten nachgehen und verhielt mich möglichst unauffällig und demütig. Zwar sorgte ich mich um Dajana, aber dass ich mich noch auf freiem Fuß befand, sprach eindeutig dafür, dass sie niemandem erzählt hatte, was passiert war. Was ich als gutes Zeichen deutete.
Ich hielt Ausschau nach Johannes, fand ihn aber nirgendwo. Das war vermutlich mein größtes Problem - er hatte wenigstens so etwas wie einen Plan gehabt, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck gewonnen. Außerdem erinnerte er sich besser als ich. Und er wusste, wo sich Julian befand.
Dafür fand ich Gaya.
Das passierte zufällig. Ich schlich gerade durch die Straßen und gab mir ganz den Anschein, als würde ich vor Erschöpfung gleich zusammenbrechen, damit mich bloß keiner ansprach und mir Anweisungen gab, da stieß ich mit ihr zusammen. Buchstäblich, denn in meiner angeblichen Erschöpfung hielt ich die Augen halb geschlossen und sah demzufolge nur den Weg unmittelbar vor meinen Füßen.
Es war kein heftiges Zusammenstoßen und ich fiel nicht hin, wankte nur leicht. Sie schon. Sie prallte zurück, stolperte und stürzte. Ich erkannte sie zunächst nicht, wie sie da auf der Erde kauerte, das Gesicht verborgen hinter dem Vorhang aus dunklem Haar. Sie machte eine zögerliche Bewegung mit den Händen, stand jedoch nicht auf. Blickte nur unsicher zu mir hinauf, braune Augen mit einem Schimmer Grün. Ich erkannte sie immer noch nicht.
"Tut mir leid", sagte ich und streckte eine Hand aus, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie starrte diese Hand an, als würde sie erwarten, dass sie sich gleich um ihren Hals schloss. Als die Hand keine Anstalten machte, das zu tun, atmete sie ein wenig auf und wagte es, den Kopf zu heben, wobei das Haar zur Seite glitt, und mich in Augenschein zu nehmen. Da erst wurde mir bewusst, wer sie war.
Wahrscheinlich starrte ich nun, denn es trat wieder ein ängstlicher Ausdruck in ihr Gesicht. Ich hatte ihn noch nie bei ihr gesehen und es erschütterte mich. Sie bewegte sich unruhig, als ich mich neben ihr niederkauerte, aber sie lief nicht davon. Wenigstens dafür war ich dankbar.
"Gaya?" Wieder diese nervöse Regung. "Gaya, ich bin’s, Cycil. Dein Freund."
"Willst du etwas von mir?", fragte sie leise. Die Stimme löste wieder etwas in mir aus.
"Ja", antwortete ich und lächelte. "Ich will dir helfen." Sie verstand nicht, wie konnte sie auch?
"Muss ich... muss ich wieder zurück?" Solch eine hilflose Verzweiflung. Warum war sie so voll von Hoffnungslosigkeit, während Dajana bar jedes Empfindens gewesen war?
"Nein. Nein! Egal, wo du gewesen bist, du musst nicht wieder zurück. Nie wieder." Ich wusste nicht, warum ich das sagte, obwohl ich mir nur zu gut dessen bewusst war, was meine Grenzen ausmachte. Vielleicht einfach das Bedürfnis ihr Trost zu spenden, egal, ob es der Wahrheit entsprach. Einfach irgendetwas erzählen, wie man es einem Kind erzählte, wenn es Angst hatte. Und wie bei einem Kind klang ihre Stimme ganz zitterig, als sie fragte:
"Wirklich nicht? Versprichst du es?"
"Ja. Ja, ich verspreche es dir." Etwas tippte von innen gegen mein Bewusstsein - eine leise Ermahnung. Versprechen darf man nicht brechen. Eine alte, alte Regel. Die mir in dem Augenblick völlig egal war, als Gaya, die erwachsene Gaya, die Druidin Gaya, deren Leben aus Disziplin und Kontrolle bestand, in meine Arme fiel und anfing zu weinen.
Und ich hielt sie nur fest.

Wieder ging ich durch die Straßen, doch diesmal nicht allein. Ich konnte Gaya nicht einfach anweisen zurück an die Arbeit zu gehen, nicht nachdem ich ihr dieses vorschnelle, unsinnige Versprechen gegeben hatte. Ohnehin war sie kurz vor dem Zusammenbruch, sowohl körperlich als auch seelisch. Ich wusste nicht, was passiert war, aber es gab genug schlimme Dinge, die dafür in Frage kamen, und ich wollte es gar nicht genauer wissen.
So zeigte ich ihr die einzige Sicherheit, die ich anzubieten hatte: die warme, stickige Luft der Ställe. Irgendwie waren sie wohl so etwas wie der Treffpunkt des Widerstands geworden, dachte ich mit leisem Anflug von Sarkasmus. Gaya allerdings genügte es. Sie kauerte sich in der gleichen Ecke hin, die auch Dajana innegehabt hatte, zog die Knie an den Körper, legte die Arme darum und sah mich wieder scheu von unten her an. Ich konnte dieses Bild einfach nicht mit dem Bild aus der Vergangenheit verknüpfen. Es war eine solch bizarre Wandlung, dass es erschreckte.
Ich ließ meine Stimme sanft klingen, um sie zu beruhigen.
"Du bist hier in Sicherheit, Gaya. Niemand kann dir etwas tun."
"Weil du mich beschützen wirst?" Das konnte ich ihr nicht versprechen.
"Nein, Gaya, tut mir leid. Ich kann nicht hier bleiben. Ich muss gehen und weitersuchen."
"Du lässt mich allein!"
"Ich habe keine Wahl", versuchte ich es zu erklären. "Es gibt noch andere da draußen, die gefunden werden wollen. Andere, die nach Sicherheit streben."
"Wenn du nicht hier bist, kann es keine Sicherheit geben", stellte sie fest.
"Keiner kommt hierher. Wenn du diese Kammer nicht verlässt, wird man dich nicht finden. Verstehst du, Gaya? Sie werden dich nicht finden." Sie schüttelte den Kopf.
"Sie werden mich finden", flüsterte sie. Ich konnte fast schon sehen, wie sie sich innerlich noch weiter zurückzog.
"Nein!", widersprach ich heftig. "Gib nicht so schnell auf! Ich bleibe nicht lange weg. Und du bist hier sicher, das versichere ich dir. Verhalte dich still und ruhig; schlaf ein wenig. Und ehe du dich versiehst, bin ich wieder da."
"Ich kann nicht schlafen. Nie wieder." Hier kam Schmerz zum Vorschein - ein bekanntes Element, wie ich feststellte.
"Doch, du kannst und du wirst. Haben wir uns verstanden?" Ich wollte sie nicht zurücklassen, ich wollte nicht weitersuchen. Was ich wollte, war schwer zu beschreiben. Weil es unmöglich war.
"Ja", erwiderte sie dumpf.
"Weißt du noch, wie ich heiße?"
"Cycil."
"Genau. Und du bist Gaya, vergiss das nicht. Ruh dich aus, ich bin schneller wieder da, als du denkst." Nach diesen Worten umarmte ich sie noch mal schnell und verschwand dann.

Ich verbrachte diese Nacht entgegen aller Vorsicht nicht bei den anderen Arbeitern, sondern in den Ställen. Ich hatte wieder Dajana geholt, denn man hatte sie auch diesmal angewiesen sich zu den Zelten zu begeben. Gaya hatte sich zuerst vor ihr gefürchtet, aber nach einer Weile kam eine gewisse Vertraulichkeit auf. Ich wusste nicht, ob es die Erinnerung an Freundschaft war, die die beiden verband oder neue Sympathie, aber es interessierte mich auch nicht sehr. Die Hauptsache war, dass sie miteinander auskamen und dicht zusammen blieben. Das schien sowohl Dajanas Teilnahmslosigkeit als auch Gayas zerrütteten Nerven zu helfen. Nach dem Essen - während des Tages hatte ich weiteren Proviant mitgehen lassen - schliefen sie ganz still ein, nebeneinander und mit gewisser Ruhe. Hoffte ich zumindest.
Die Nacht wurde unruhig, denn im Gegensatz zu Dajanas todesähnlichem Schlaf der Erschöpfung konnte Gaya keinen Frieden finden und wand sich in Albträumen hin und her. Nachdem ich einiges von dem gehört hatte, was sie vor sich hin murmelte, wunderte mich das ganz und gar nicht.
Der Morgen brachte schwierige Entscheidungen.
Dajana und Gaya beobachteten mich mit einer gewissen zurückhaltender Neugier, wie ich an der Tür stand und nachdachte.
Wir waren zu dritt, drei von sechs. Vorgestern war Johannes verschwunden, jedenfalls hatte ich seit da nichts mehr von ihm gehört. Julian musste hier sein, irgendwo in der Siedlung. Alay? Vielleicht gefangen gehalten. Johannes hatte gemeint, es wäre möglich, dass die Droge bei ihr nicht gewirkt hatte. Das konnte ich mir durchaus vorstellen. Bei Alay war alles möglich.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ich musste die fehlenden drei finden, das war keine Frage. Aber was sollte solange mit Gaya passieren? Ich bezweifelte, dass die Hexer es übersehen würden, wenn sie einfach so spurlos verschwand. Wahrscheinlich behielten sie uns alle im Auge, besonders uns, die wir Magie besaßen. Dass Dajana die Nächte hier verbrachte, brauchte nicht aufzufliegen. Es gab sehr viele Zelte und so etwas wie Ordnung existierte nicht. Dajana brauchte einfach nur zu behaupten sie wäre dort gewesen. Wie wollte man das schließlich nachprüfen?
Also war Gaya das Problem. Ich drehte mich um und musterte sie prüfend. Wog Möglichkeiten gegeneinander ab und versuchte Hilfe aus meinen Erinnerungsfetzen zu beziehen. Schließlich beschloss ich, das zu nutzen, was meine Vergangenheit aus irgendeinem Grund so völlig überschattete - den Tod.

Es war schwer, Gaya dazu zu überreden. Alle Instinkte schrieen ihr entgegen Abstand zu halten und sie sträubte sich erstaunlich lange. Aber letztendlich gehorchte sie mir, nachdem ich ihr mehrmals versichert hatte, dass ich nicht zulassen würde, dass ihr etwas geschah.
Danach versicherte ich mich, dass nur ein Arbeiter in der Nähe war und gab Gaya das Zeichen.
Sie fing an zu schreien.
Aus meinem Versteck im Schilf beobachtete ich ungesehen, wie der Arbeiter herbeigelaufen kam und dann abrupt stehen blieb. Er sah das, was er sehen sollte: eine Frau, eine Arbeiterin, bis zur Taille im Sumpf versunken, panisch um sich schlagend und um Hilfe rufend. Er tat, was er tun sollte: er lief weg, um Hilfe zu holen.
Ich erhob mich aus meinem Versteck und lief zu Gaya. "Gut gemacht, das war sehr überzeugend", sagte ich zu ihr. Sie verzog das Gesicht und streckte mir die Hände entgegen.
"Hol mich hier raus!", verlangte sie. Ich ging ihrer Forderung nach und zog sie aus dem Sumpf, vorsichtig, um nicht selbst hineinzugeraten. Als wir wieder auf festem Boden waren, atmete sie auf und ließ mich los. "Ich weiß nicht, wozu das gut sein sollte."
"Wir verschwinden jetzt", erklärte ich ihr geduldig. "Und wenn die Hexer davon erfahren, werden sie denken, dass du tot bist."
"Werden sie nicht."
"Werden sie doch. Woher sollen sie es schließlich besser wissen?"
"Sie sind mächtig", wandte sie furchtsam ein. "Man kann sie nicht hereinlegen."
"Man kann es aber versuchen", erwiderte ich. "Oder willst du jetzt aufgeben und freiwillig zu ihnen zurückgehen?"
"Nein! Nein." Sie schüttelte den Kopf; die Haare flogen um ihr Gesicht. "Bitte sprich nicht mehr davon."
"Schon gut. Weißt du denn den Weg zu den Ställen?" Sie nickte zögernd. "Gut, dann gehst du jetzt dorthin zurück."
"Ohne dich?"
"Ohne mich", bestätigte ich. "Ich muss weiterhin den Anschein wahren, als würde ich ein folgsamer Sklave sein."
"Kannst du nicht auch 'sterben'?"
"Nein, das würde zu auffällig sein, denke ich mir. Außerdem – wie könnte ich dann nach den anderen suchen?"
"Wer sind die anderen?", fragte sie.
"Unsere Freunde."
"Können wir ihnen vertrauen?"
"Du hast doch Dajana vertraut, oder? Die anderen sind auch solche guten Freunde." Gaya dachte nach, nickte.
"Ja, ihr kann ich vertrauen. Wie dir." Sie lächelte scheu. "Wenn die anderen auch so sind, musst du sie finden."
"Genau meine Meinung", stimmte ich zu. "Und jetzt geh. Bevor man dich noch sieht." Sie drehte sich gehorsam um und lief leichtfüßig davon. Doch zuvor sagte sie noch leise:
"Pass auf dich auf, Cycil."
Ich schaute ihr hinterher und fragte mich, wie es kam, dass ich solche Freunde hatte.

Ich beobachtete unauffällig, wie sich die Nachricht von Gayas Tod unter den Hexern verbreitete. Sie reagierten mit Unruhe darauf, was ich auch erwartet hatte, schließlich war Gaya eine von uns und wir waren nicht zu unterschätzen, soweit ich mich erinnern konnte. Ich hatte ebenfalls erwartet, dass sie nun besondere Aufmerksamkeit auf mich richteten - auf Dajana natürlich auch und diese Tatsache machte mir Sorgen. Würde sie es durchstehen?
Dann aber stellte sich heraus, dass sich die Hexer überwiegend auf mich konzentrierten und Dajana kaum beachteten.
Das fand ich auf sehr direkte Weise heraus, als mich nämlich drei Hexer aus der Straße ansprachen. Ich war darauf überhaupt nicht vorbereitet und deshalb fiel es mir nicht besonders schwer, den unterwürfigen Diener zu spielen. Die Furcht war nicht geschauspielert.
Sie befahlen mir barsch wieder aufzustehen, doch selbst als ich langsam gehorchte, hielt ich die Augen gesenkt, das Gesicht unten, da ich um ihre magischen Fähigkeiten fürchtete. Außerdem passte dieses Verhalten durchaus zu einem Arbeitersklaven. Doch sie waren darauf aus, mich zu prüfen und gaben sich damit nicht zufrieden.
"Sieh auf", befahl einer mir. Innerlich grauste es mir, doch äußerlich blieb ich völlig unbewegt. Hob bloß das Gesicht und blickte in seine Augen. Dunkel waren sie, fast schwarz, aber ich sah einen Funken darin brennen, der die Macht verriet, die diesem nach Außen hin so harmlos wirkenden, älteren Mann innewohnte.
"Wie heißt du?", fragte mich ein anderer.
"Ich habe keinen Namen, Herr", antwortete ich. Der Funke brannte heller, irgendwie schienen die Augen an Tiefe zu gewinnen, während sich gleichzeitig jeglicher Glanz darin verlor. Ich hatte das Gefühl, in einen Sog geraten zu sein, dunkel und stark.
"Wie heißt du", wiederholte er und gleichzeitig war es mir, als würde die Frage in meinem Schädel wiederhallen, leer, oh, so leer.
"Ich... habe keinen... Namen." So schwarz, so endlose Schwärze um mich herum. Sie ergriff mich, zerrte an mir, suchte einen Weg nach innen, durch meinen Körper hindurch in das, was mich ausmachte - Verstand, Gedanken, Geist, Seele... Der Boden schien mir zu entgleiten.
"Wo ist deine Freundin?" Gaya. Er fragte nach Gaya. Aber war sie nicht tot?
Sprich die Wahrheit.
"Hab keine... Freundin." Schwer, so schwer diesen Satz auszusprechen. "Keine... Freunde..." Noch schwerer, als würde ein Gewicht an den Worten hängen und sie runterziehen, mich runterziehen. Überall gab es nur Dunkelheit, gnadenloses Schwarz, durchsetzt von grellen Lichtsternen, die mich durchbohrten, wie Schwerter, so fein und dünn, doch so schmerzhaft... Ah, Schmerz, Schmerz, Schmerz. Und der Sog, so kraftvoll, so zerstörend. Zerriss mich, mein Innerstes sowie mein Äußerstes, alles, alles und der Schmerz...
"Wer bist du?", fragte eine harte Stimme, von überall her kam sie, brüllend und flüsternd, Feuer und Eis, Stein, der auf mich einhieb.
SPRICH DIE WAHRHEIT!
SPRICH DIE WAHRHEIT!
"Euer... Arbeiter... Herr..." Die Qualen, die Pein, es war zuviel. Die Finsternis drückte mich zusammen, immer kleiner, winzig, am winzigsten, bis ich nur noch ein Staubkorn war, weniger als das. Ein Bewusstsein ohne Bewusstsein, alles nur Schmerzen und der Sog, der Sog, der Ruf...
SPRICH DIE WAHRHEIT!
Es barst.
Das ganzen Universum barst in einer einzigen ungeheuer großen Explosion, die Dunkelheit flog in Scherben auseinander wie ein zerschlagener Spiegel, klirrendes Eis, dazwischen loderndes Feuer, das mich, das alles versengte. Alles flog auseinander, expandierte, dehnte sich in die Unendlichkeit aus – und ließ mich alleine zurück, ganz alleine, mitten im Nichts. Die Schmerzen waren noch da, doch verändert. Nicht mehr eindringend, sondern ausdringend. Von mir heraus nach außen.

Als ich zu mir zurück fand, krümmte ich mich auf dem Boden und versuchte Luft zu holen. Die Lungen brannten, das Herz stotterte, der Kopf flammte schier, die kleinste Bewegung schmerzte höllisch. Ich lag da und zitterte, konnte meinen Körper nicht beruhigen. Über mir standen die drei Hexer und sprachen miteinander als wäre ich nicht vorhanden.
"...nicht verändert", sagte einer von ihnen. "Er hat immer noch diese Abwehr."
"Aber warum? Die Droge sollte doch all seine Magie lähmen!"
"Das ist keine Magie", meinte derjenige mit den schwarzen, bodenlosen Augen. "Das ist etwas völlig anderes... etwas eigenes, persönliches, das nicht vom Gedächtnis abhängig ist. Eine Art... Projektion."
"Projektion?"
"Ein Bild. Es ist immer nur ein Bild da, egal, was ich tue. Eine ausgedehnte Wüste, bedeckt mit Blut. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber allein deswegen kann ich nicht in seinen Verstand eindringen."
"Bist du sicher, dass es keine Magie ist?"
"Absolut", erwiderte der Schwarzäugige bestimmt. "Mit Magie hat das rein gar nichts zu tun. Es ist in seinem Fleisch, in seinem Blut, in jedem einzigen Stück seines Körpers..."
"Also, weiß er nun etwas oder nicht?", unterbrach der Dritte das Gespräch.
"Ich weiß nicht. Wenn er etwas verbirgt, dann kann ich es nicht herausfinden. Wegen dieser Abwehr kann ich nicht einmal erkennen, ob er die Wahrheit spricht oder lügt!"
"Das gibt es doch nicht! Wie kann das sein? Wer ist dieser Mann, dass er über diese Macht verfügt, obwohl er nicht einmal mehr seine Magie besitzt?"
"Das ist ja das Problem mit dieser Droge. Wenn nicht einmal er selbst es weiß, wie sollen wir es dann erfahren?", meinte der Erste trocken.
"Nachdem wir das mit der Stadt erledigt haben, werden wir uns darum kümmern müssen. Dann können wir auch unsere ganze Kraft darauf konzentrieren, ihn zu brechen. Jetzt fehlt uns die Zeit dafür, der Angriff steht kurz bevor."
"Gerade deshalb sollten wir besonders vorsichtig sein!", widersprach der Schwarzäugige. "Ich sage euch, diesen Kerl kann man nicht außer Acht lassen, wer weiß, was er sonst noch kann, was wir nicht unter Kontrolle haben? Diese Abwehr hat mit meiner Macht zurückgeschlagen! So etwas darf nicht noch einmal passieren."
"Sollen wir ihn töten?", schlug der Erste vor.
"Nein! Wir müssen dieses Phänomen erforschen, dafür muss er am Leben bleiben."
"Euch ist doch klar, dass wir nicht das Fassungsvermögen haben, ihn gefangen zu halten und richtig zu beaufsichtigen? Die Überwachung der beiden anderen macht schon genug Schwierigkeiten, den da können wir nicht auch noch einzeln einsperren! Wir sind ohnehin schon unterbesetzt!"
"Das bringt uns nicht weiter", stellte der Dritte fest. "Wir müssen ihn weiterhin arbeiten lassen, ungeachtet dieses Vorfalls..."
"Aber das ist ein Risiko..."
"Wir werden natürlich dafür sorgen, dass er mehr Drogen bekommt als die anderen. Damit dürfte er dann keine Gefahr mehr darstellen."
"Dafür übernimmst dann allein du die Verantwortung", sagte der Schwarzäugige. "Ich lasse mich da nicht mit hineinziehen."
"Das ist mir schon klar. Ich verantworte dies." Der Erste nickte zustimmend, dann sahen sie zusammen mich an, der ich mich auf dem Boden wand.
"Der Rückschlag hat ihn gestreift", stellte der Schwarzäugige fest.
"Umso besser. Das wird ihm eine Weile zu schaffen machen. Geht jetzt, die Versammlung hat bereits angefangen. Ich komme nach." Der mit den schwarzen Augen zögerte noch.
"Soll ich vielleicht..."
"Nichts sollst du! Geht!" Nach einem erneuten Blick auf mich folgte der Schwarzäugige dem anderen. Übrig blieb der Erste, ihr Anführer, der mir vorhin die Fragen gestellt hatte. Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen, wie einer, der sich gerade überlegt, ob er die Fliege auf dem Tisch zerquetschen soll oder ob das zuviel Aufwand wäre. Ich verhielt mich völlig still, erstarrte fast und wartete auf seine Entscheidung.
Zerquetschen oder nicht?
Er beschloss, es nicht zu tun.
"Steh auf!", befahl er mir barsch. Leichter gesagt als getan, dachte ich, versuchte dennoch seinem Befehl zu gehorchen. Leider fügten sich die Knochen nicht meinem Willen, so dass ich wieder zurückfiel und um Atem kämpfen musste. Vor meinen Augen tanzten farbige Punkte. Auf und ab. Auf und ab. Der Hexer wartete mit verschränkten Armen und machte nicht den Anschein, als ob er mir helfen wollte. Also versuchte ich es erneut. Mit dem gleichen Ergebnis, das mich mit dem Wunsch zurückließ, einfach den Geist aufzugeben. Das tat ich jedoch nicht, da ich mir vage bewusst war, dass der Hexer wohl nicht viel Geduld hatte und sich auch nicht nach meiner Schwäche richten würde.
Ich sammelte Kraft aus verschwommenen Erinnerungen an Dajana und stemmte mich in eine sitzende Position hoch, wobei sich mir der Kopf drehte. Der Hexer schüttelte den Kopf und reichte mir schließlich etwas, das er aus seiner Tasche hervorgeholt hatte.
"Iss es." Es war eine der geschmacklosen Scheiben, die hier als Proviant galten. Denen Drogen zugesetzt worden waren, so dass sie jede Erinnerung auslöschten und den Menschen seiner Würde beraubten. Ich streckte zögernd die Hand aus und nahm den Keks. Er war leicht und fühlte sich rau an, krümelte ein wenig unter meinen Fingern.
"Iss!" Ein Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Also führte ich den Keks zum Mund und biss ab. Es tat weh zu kauen und runterzuschlucken, dennoch tat ich es. Aß mühsam den ganzen Keks auf und dann fünf weitere, die er mir hinhielt. Er beobachtete mich dabei, aufmerksam, lauernd. Stumpf erwiderte ich seinen Blick und wartete. Wieder warten.
Schließlich löste er seine verschränkten Hände und schüttelte den Kopf.
"Und doch bist du nur ein dummer Sklave", sagte er und ging weg. Ich sah ihm nach, bis er von der Straße abbog und so aus meinem Blickfeld verschwand. Dann stand ich vorsichtig auf, indem ich mich an einer Mauer abstützte. Schwindel ergriff mich, meine Beine zitterten. Rückschlag hatte der eine das genannt. Nun, von mir aus.
Erinnerung.
Ich verließ die Straße, stolperte am Haus entlang und wäre mehrere male beinahe hingefallen. Dann atmete ich langsam durch und fasste einigermaßen festen Stand. Öffnete meinen Mund und - Erinnerung - berührte einen bestimmten Punkt weit hinten im Rachen.
Nachdem ich meinen Mageninhalt vollständig entleert hatte, fühlte ich mich noch wackliger als vorher. Die Punkte tauchten wieder auf und dunkle Bewusstlosigkeit drohte mich hinabzuziehen. Doch, aus welchen Quellen auch immer ich Kraft schöpfte, hielt ich dem stand und taumelte weiter. 
Ich kam erst wieder ganz zu mir, als kaltes Wasser mir ins Gesicht schlug. Ich riss die Augen auf, wollte Luft holen - und stellte fest, dass es keine gab. Wasser war über und unter mir, nass, kalt und durchdringend. Furcht, die an Panik grenzte, ergriff mich. Ich schlug mit den Armen um mich, suchte nach Halt - doch es war ein Sumpf und es gab keinen festen Halt in einem Sumpf. Es gab nur nachgiebige Pflanzen, Schlamm und den Tod.
Sauerstoffmangel, schoss mir durch den Kopf. Rote Punkte vor meinen Augen. Mein Brustkorb wurde zusammengedrückt, die Lungen schrieen nach Luft. So tief kann doch ein Tümpel gar nicht sein... Panik, so viel Panik. Sie durchströmte meine Adern und machte jeden vernünftigen Gedanken unmöglich. Ich will nicht sterben!
Sterben. Das Wort löste etwas in mir auf, scheuchte die Fledermaus einer weiteren Erinnerung auf, die aus dem Dunkeln ans Licht flog.
Ich wollte sterben. In meiner Vergangenheit hatte ich den Tod gesucht, mich nach ihm gesehnt. Um dem zu entfliehen, was mich verfolgte, unerbittlich, durch Tage und Nächte hindurch, durch Hitze und Kälte. Doch ich durfte dem nicht entkommen. Es gab eine Schuld zu begleichen.
Eine Göttin hatte mir einst gesagt, dass ich weiterleben musste.
Ihre Haare hatten in der heißen Wüstenluft geflimmert...
Heftig um mich schlagend durchbrach ich die Wasseroberfläche und schnappte keuchend nach Luft.. Sie kam mir süßer vor als jeder Honig dieser Welt, belebend und berauschend wie eine Droge. Ich sog sie gierig ein und spürte sie durch meinen Körper rasen. Leben, pures Leben. In diesem Moment spürte ich seine Berührung.
Mühsam kroch ich aus dem Tümpel an festes Land und blieb einfach liegen, regungslos. Hörte mein Herz schlagen. Es dröhnte in meinen Ohren. Was war passiert?!
Ich kam zum Entschluss, dass ich wohl der Bewusstlosigkeit nahe den Weg verlassen habe und einfach... reingefallen bin. Immer noch fühlte ich die Nachwirkungen des - Rückschlags? - und des Erbrechens, eine tiefergehende Schwäche, die selbst meine Knochen zu erfüllen schien. Doch mein Kopf war wieder klar, noch ein wenig schwindelig, aber klar. Das kalte Wasser hatte mich wieder zur Besinnung gebracht.
Ich entsann mich der Erinnerung. Eine Göttin? Das war doch unmöglich! Andererseits hatte ich bereits festgestellt, dass ich anscheinend in meiner Vergangenheit etwas besonderes gewesen war. Dass meine Vergangenheit selbst etwas besonderes war. Ich besaß die Fähigkeit, mich vor den Hexern abzuschirmen, wie sie es noch nie erlebt hatten. Ich wurde von etwas verfolgt, das mich fast in den Wahnsinn getrieben hatte, und mich wünschen ließ zu sterben. Doch das wurde mir verwehrt, weil die Götter wollten, dass ich lebte.
Plausibel?
Von wegen.
Ich stützte mich auf und fuhr mit den Fingern durch meine nassen, schwarzen Haare. Wenn ich doch nur endlich alles erfahren würde! Dieses bruchstückhafte Gedächtnis war kaum erträglich, es verwirrte und ängstigte mich. Wer war ich, dass ich so viel in Bewegung setzte?
Kontrolle. Ein Atemzug, ruhig, ein weiterer. Selbst wenn in meinem Kopf dieses Chaos herrschte, gab es Dinge, die erledigt werden mussten, Menschen, die sich auf mich verließen. Das sagte ich mir immer wieder vor und erlangte so schließlich meine Disziplin wieder.
Vorsichtig stand ich auf. War es schon Abend? Das wunderte mich. Wo war der Nachmittag hin? Ein kalter Schauder schüttelte mich. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Anscheinend länger als gedacht.
Soll ich zurück zu Gaya gehen? Sie macht sich bestimmt große Sorgen. Doch da war noch etwas, ein Gedanke im Hinterkopf, der nach Aufmerksamkeit verlangte. Ich zog mir das Hemd vom Leib und fing an es auszuwringen. Das Wasser tropfte in den Teich zurück. Währenddessen versuchte ich herauszufinden, was es da so wichtiges gab, das mir aufgefallen war.
Das Gespräch zwischen den Hexern. Sie hatten sich über meine Zukunft unterhalten. Einer hatte gemeint, sie könnten keine Leute mehr abstellen, um mich zu bewachen, weil sie ohnehin unterbesetzt waren. Was hatte er genau gesagt?
"Euch ist doch klar, dass wir nicht das Fassungsvermögen haben, ihn gefangen zu halten und richtig zu beaufsichtigen? Die Überwachung der beiden anderen macht schon genug Schwierigkeiten, den da können wir nicht auch noch einzeln einsperren!"
Die Überwachung der beiden anderen! Ich erstarrte. Er musste zwei aus meiner Gruppe damit gemeint haben. Alay, dachte ich sofort. Sie muss eine von ihnen sein. Und Johannes? Das würde erklären, warum ich ihn nicht finden kann. Sie müssen etwas gemerkt haben. Es gab da noch Julian, doch bezweifelte ich, dass er aus dem Drogennebel aufgewacht war. Er war kein Magier, für ihn war das so gut wie unmöglich, genauso wie für Dajana. Also Johannes und Alay.
Nachdem ich auch meine Hose einigermaßen abgetrocknet hatte, überlegte ich. Wo konnte man zwei gefährliche Gefangene, Magier, die schwer bewacht werden mussten, unterbringen? Bei den Zelten vielleicht. Nein, dachte ich. Zu große Gefahr, falls sie sich befreiten. Es musste eine abseits gelegene Stelle sein, schwer zu erreichen, weit weg von den Arbeitern, aber mit genug Platz für eine große Gruppe Hexer...
Mir fiel etwas geeignetes ein.

Es war eine alte Werkstatt, deren Betrieb man jedoch eingestellt hatte, weil sie an einer ungünstigen Stelle stand. Bei heftigen Regenfällen wurde sie regelmäßig überflutet. Man hatte die Schmiede also in ein anderes Gebäude verlegt und das alte einfach vor sich hinfaulen lassen. Wegen dem misslichen Standplatz gab es auch keine anderen Häuser in weiter Nähe. Nur wenige Pfade führten durch den Sumpf zu diesem gottverlassenem Ort, die alles andere als sicher waren. Neue wurden nicht angelegt, da das keinen Sinn hatte.
Woher ich das alles wusste? Keine Ahnung. Ich wusste es einfach, die Informationen warteten in meinem Verstand, jederzeit abrufbereit. Ich nahm an, dass ich sie unbewusst aufgenommen hatte, während meiner Zeit als willenloser Sklave der Hexer. Es wunderte mich nur, dass ich so viel wusste. Wieder kam die Frage auf, wie lange ich eigentlich schon hier war.
Egal. Jedenfalls schien sich dieses riesige Haus hervorragend als Gefängnis zu eignen. Stabile Mauern, keine Fenster und nur ein Eingang, in der Mitte von ausgedehntem Sumpfgebiet liegend, erinnerte es an eine einsame Insel, die man nur schwer betreten konnte. Oder verlassen.
Es war Abend, leichter Regen fiel nieder und der Himmel war wieder einmal trist grau. Ich war nass bis auf die Knochen, fror und fühlte mich ganz erbärmlich. Gelegentliches Niesen legte den Verdacht nahe, dass ich mich erkältet hatte - wieder etwas, das meine Aufgabe erschwerte. Vor mir lag eine stumpfe Wasserfläche, hier und da von Pflanzen unterbrochen, die kühn in die Höhe ragten, um am nächsten Tag vom Wind und Regen endgültig gebrochen zu werden. Ich stand auf dem letzten Flecken festen Bodens und schaute niedergeschlagen auf den fernen Schatten des Hauses, das durch den Regenfall nur verschwommen zu erkennen war. Die Sonne, eine kleine, orangefarbene Scheibe, hatte kaum mehr Kraft, um sich auf dem Wasser zu spiegeln.
Ich musste da durch, herausfinden, ob meine Freunde sich im Haus befanden, irgendwie mit ihnen in Kontakt treten, unbemerkt wieder verschwinden und Dajana holen. Alles, bevor die Sonne unterging. Ein Kinderspiel, versuchte ich mir einzureden. Leider war ich Realist und meine Zukunftsaussichten deprimierten mich zutiefst. Keine Disziplin der Welt konnte helfen, wenn Müdigkeit und Verzweiflung die Seele ergriffen.
Da passierte etwas, das mich wieder der Göttin gemahnte, der ich in meiner Vergangenheit wohl gegenüber gestanden hatte.
Schritte. Tollpatschige Schritte, durchs Wasser stolpernd und dabei einen Höllenlärm veranstaltend. Ich reagierte völlig instinktiv, duckte mich und suchte ein Versteck zwischen einigen Rohrpflanzen. Der Regen, den ich vor einem Augenblick noch verwunschen hatte, gab mir jetzt Deckung. Regungslos im Schlamm kauernd, hielt ich fast den Atem an und schärfte alle Sinne. Die Gestalt war kein Hexer, doch das hatte ich schon dem Hören nach entschieden. Kein Hexer machte solchen Lärm. Es war ein Arbeiter, ein in Lumpen gekleideter Junge. Jetzt verstand ich, warum er so unbeholfen ging: ein großer Korb in seinen Händen machte jede Bewegung zu einem gefährlichen Wagnis. Ausrutschen und hinfallen war bei diesen Bedingungen nicht besonders schwer.
Aber was wollte er hier, fragte ich mich verwundert. Was suchte ein Sklave hier in diesem Ödland und was war in diesem Korb?
Er kam auf mich zu, besser gesagt hatte er wohl vor an meinem Versteck vorbeizugehen und sich zum regenverhangenen Haus zu begeben. Da ich eine Chance für mein Vorhaben sah, dachte ich nicht einmal daran, ihn so ohne weiteres gehen zu lassen. Stattdessen wartete ich ruhig, bis er ganz nah dran war und stand dann auf. Er hielt abrupt an, konnte keinen festen Halt auf dem Boden finden und rutschte aus. Ich war schnell; kaum hatte er erschrocken die dunklen Augen aufgerissen, im entsetzten Verstehen, dass sein Auftrag gescheitert war, da war auch schon ich zur Stelle und hielt ihn fest, half ihm sein Gleichgewicht wiederzufinden. In seinem Korb klimperte es.
Als er wieder alleine stehen konnte und ich ihn losließ, verging ein stummer Moment, in dem wir uns beide sorgfältig musterten. Er war wirklich ziemlich jung, höchstens fünfzehn Jahre alt, und trotz der Droge wirkte er aufmerksam und auf jugendliche Art neugierig. Das lag allerdings nur an seinen Augen, die nicht den dumpfen Ausdruck hatten, den alle anderen Sklaven besaßen. Ich erriet mehr, als das ich es wusste, dass er erst seit kurzer Zeit der Droge unterlag und deshalb noch nicht sein ganzes Selbst verloren hatte. Dafür sprach auch, dass er von sich selbst aus sagte:
"Danke." Das war ein Wort, das ich noch von keinem anderen Arbeiter gehört hatte. Dementsprechend war ich ein wenig erstaunt es von diesem zu hören.
"Gern geschehen", erwiderte ich schließlich. Der Junge fragte nicht, was ich hier zu suchen hatte, natürlich nicht, denn auf solch eine Idee würde kein Arbeiter je kommen. Er machte Anstalten an mir vorbeizugehen, ganz selbstverständlich, denn mit diesem einfachen Wortwechsel war seiner Meinung nach alles gesagt. Meiner Meinung nach nicht.
"Warte." Es war ein Befehl, also gehorchte er automatisch. Doch er wirkte mäßig überrascht. Ich ließ ihm keine Zeit zum Überlegen. "Was ist deine Aufgabe?", fragte ich barsch.
"Ich überbringe den Herren Nahrung", antwortete er. Ach, tatsächlich? Mein Interesse stieg.
"Den Herren in dem Gebäude da hinten?"
"Ja." Also hielten sich dort tatsächlich Hexer auf, viele, nach dem Ausmaß des Korbes zu urteilen.
"Auch den Gefangenen?", riskierte ich es zu fragen.
"Ja." Treffer, dachte ich. Doch äußerlich zeigte ich keine Reaktion.
"Gut. Dann geh zum Haus." Er setzte sich in Bewegung, immer noch schwerfällig und langsam wegen des Gewichts seiner Last. Ich folgte ihm ungeduldig und sah wieder hoch. Sehr viel Zeit blieb mir nicht. "Gib mir den Korb", befahl ich also. Der Junge wurde misstrauisch und umklammerte das monströse Ding fester. "Ich will dir doch nur helfen!", sagte ich, doch er weigerte sich immer noch stumm. Ich seufzte. "Also gut - ich habe den Auftrag diesen Korb zu den He...rren zu bringen, doch du musst mir den Weg weisen." Ich traute ihm durchaus zu, mich "Warum" zu fragen, aber er tat es zum Glück nicht und so blieb es mir erspart, ihn mit Gewalt zwingen zu müssen. Nach kurzem Zögern übergab er mir tatsächlich den Korb – der wirklich schwer war und alles andere als bequem zu tragen - und ging voraus, auf Wegen, die unter dem Wasser unsichtbar waren. Ich folgte ihm und überlegte, wie gut solche Zufälle doch waren.
Dann entsann ich mich der Götter und glaubte nicht mehr an einen Zufall.
Es dauerte gar nicht so lange das Haus zu erreichen, wie ich befürchtet hatte. Die Entfernung war nicht leicht einzuschätzen unter solchen Wetterbedingungen. Der Regen hatte inzwischen so gut wie aufgehört, nur noch ab und zu fielen kleine Tropfen aus dem Himmel und kräuselten die Wasseroberfläche.
Das Gebäude war noch größer als ich gedacht hatte. Ein steinerner Gigant, ragte er finster gegen den Abendhimmel auf. Doch selbst dieser Anblick schaffte es nicht, mich einzuschüchtern. Dazu hatte ich gar nicht die Zeit. 
In einiger Entfernung zum Haus hieß ich den Jungen anzuhalten, bedankte mich für seine Hilfe und sagte, dass es von nun an meine Aufgabe, meine Verantwortung war. Er musterte mich beunruhigend lange und was sich dabei hinter seiner Stirn abspielte, konnte ich nur vage erahnen. Doch schließlich akzeptierte er es, drehte sich um und ging den Pfad zurück, den ich mir hoffentlich gut genug gemerkt hatte, um ihn später allein zu bewältigen. Ich zwang mich ein wenig zu warten, obwohl ich vor Ungeduld fast schon fieberte. Dann, als ich mir einigermaßen sicher war, dass der Junge mich schon vergessen hatte, setzte ich den Korb auf dem Boden ab und öffnete ihn behutsam.
Dampfende Wärme stieg davon auf und ein würziger Geruch. Vorsichtig, damit man später nicht bemerkte, dass sich jemand daran vergriffen hatte, durchsuchte ich den Inhalt des Korbs: verschieden große Behälter, eingewickelt in ein raues Material, das vermutlich aus Pflanzenfasern bestand und als Schutz fungieren sollte. Welches davon war für die Gefangenen bestimmt?
Nach sorgfältigem Prüfen und Überlegen kam ich zu dem Entschluss, dass dafür nur der braune Topf mit salatähnlichem Inhalt in Frage kam. Salatähnlich, weil das braun-grüne Zeug nicht wirklich nach Salat aussah, sondern eher nach einer Mischung zwischen Regenwürmern und Baumblättern. Es roch dementsprechend sehr... vielversprechend, doch es war immerhin lauwarm, wofür man in diesem Klima dankbar sein musste. Ich war inzwischen so hungrig, dass ich alles gegessen hätte und es fiel mir sehr schwer, das Essen unbehelligt zu lassen. Doch ich hatte mich unter Kontrolle und packte alles wieder ein, außer dem braunen Topf.
Dann förderte ich das schmutziggelbfarbene Blatt einer Sumpfblume zutage, welches ich nach meinem unfreiwilligen Bad eingesteckt hatte. Ich hatte vorgehabt, eine Botschaft zu schreiben, die ich dann irgendwie den Gefangenen zukommen lassen wollte. Das Essen bot die ideale Möglichkeit dazu und zufälligerweise - dachte ich mit gewisser Ironie - würde das Blatt in diesem Salat nicht bemerkt werden. Natürlich würde daraus nichts werden, wenn die Hexer ihre Gefangenen nicht aus den Augen ließen, aber ich setzte darauf, dass nach all der Zeit der Bewachung ihre Aufmerksamkeit nachgelassen hatte und sie sich ausschließlich dem Essen widmen würden.
Somit verließ ich mich ganz auf - Schicksal? Die Götter? Auf irgendetwas außerhalb meiner Reichweite.
Die Nachricht ritzte ich mit einer weiteren Pflanze in das Blatt - mithilfe eines Grashalms, der überaus scharf war, Schneidezahngras genannt. Ich fasste mich kurz und schrieb nur das Nötigste:

"Hab Dajana und Gaya in Sicherheit gebracht. Wo ist Julian? Nächste Nacht bereit zur Flucht? Cycil."

Ich hoffte, dass sie es einigermaßen entziffern konnten. Würden sie überhaupt bemerken, dass es eine Nachricht war? Es war gut möglich, dass das Blatt einfach mitgegessen wurde. Zweifel an meinem Tun regten sich tief in mir, aber mein Verstand schloss sie sofort aus. Ich war zu weit gekommen, um zu zweifeln.
Ich versteckte das Blatt und mit ihm den Schneidezahngrashalm im Essen. Es war mir nur zu gut bewusst, was passieren würde, wenn ein Hexer das las. Daher achtete ich sehr darauf das Essen wieder ordentlich im Korb zu verstauen, so dass es den Eindruck machte, als sei nie etwas geschehen. Wäre mir ein Gebet eingefallen, hätte ich wahrscheinlich gebetet.
Dann beschäftigte ich mich mit mir selbst. Man durfte mich nicht erkennen, auf gar keinen Fall. Also rieb ich mir Schmutz ins Gesicht - eine sehr unangenehme Prozedur, wie man sich leicht vorstellen kann - und verwuschelte mein Haar, das nach dieser Behandlung wie ein wilder Strauch aussah. Ich wusste, dass man sich mein Gesicht nur schwer einprägen konnte und hoffte, dass das genügen würde.
Derart vorbereitet, hob ich den Korb auf, brachte ihn in eine einigermaßen bequeme Position und ging schließlich auf das Gebäude zu. Mein Herz klopfte erstaunlicherweise nicht schneller als sonst auch und das einzige Anzeichen von Unruhe war ein kaltes Kribbeln im Nacken. Mit ausdruckslosem Gesicht hielt ich vor der großen Tür an und klopfte - eine recht spitzfindige Prozedur, da ich den Korb mit beiden Händen hielt und ihn auch nicht abstellen durfte. Mit ein wenig Geschick war es dann geschafft und ich stand auf der Schwelle. Gespannt, wartend.
Die Tür wurde ohne Vorwarnung aufgerissen und ich stand einem jener Männer gegenüber, die zu hassen ich allen Grund hatte und die zu töten mein Blut eigentlich schwören sollte. Er warf einen Blick auf mich, einen weiteren auf den Korb in meinen Händen und ließ mich dann hinein. Drinnen war es taghell, denn unzählige Lampen verbreiteten warmes, gelbes Licht. In ihrem Schein zählte ich an zwei Dutzend der Hexer, die sich in dem großen Raum aufhielten. Meine Rechnung ging offensichtlich auf: sie sahen allesamt gelangweilt aus und nicht besonders aufmerksam. Dafür erntete ich großes Interesse, als sie meine Last sahen, denn sie ließen alles stehen und liegen und versammelten sich um mich herum. Der, welcher mir die Tür geöffnet hatte, nahm mir den Korb ab und ging damit zu einem der Tische rüber, die an der linken Wand standen. Sogleich war ich vergessen und alle konzentrierten sich auf das Essen, dessen Duft sich umgehend im Raum verbreitete.
Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte, also blieb ich einfach an der Tür stehen und versuchte den Eindruck zu erwecken, dass ich ein Teil der Umgebung war, ebenso geistlos wie ein Stuhl. Währenddessen musterte ich meine Umgebung.
Wie schon erwähnt, befanden sich die Tische und Stühle auf der linken Seite des Raumes. Rechts stapelten sich große Kisten; teils moderten sie vor sich hin, teils dienten sie als Möbelstücke. Der Boden war dreckig und ich sah einige Insekten, die sich dort wie zu Hause fühlten. Die runden, gelben Lampen standen und hingen an allen möglichen und unmöglichen Stellen, daher gab es die verwirrendsten Schatten, die wie lebende Wesen hin und her huschten, falls eine Lampe mal angestoßen wurde. Im hinteren Teil des Gebäudes sah ich eine morsche Treppe hoch führen. Wenn die Gefangenen irgendwo waren, dann dort, dachte ich mir.
Inzwischen hatten die Hexer die Behälter geöffnet und das Essen auf dem Tisch verteilt. Ich hielt unauffällig nach dem braunen Topf Ausschau und entdeckte ihn am Rande eines Tisches stehen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als ein Hexer sich den Salat vornahm und etwas davon aß. Doch er spuckte ihn gleich wieder mit angewiderter Miene aus und schob die Schüssel beiseite. Ich hörte nicht, was er sagte, aber die anderen stimmten ihm zu. Einer der ihren stand auf, nahm den Topf und ging mit ihm nach hinten. Wie ich es mir gedacht hatte, stieg er die Treppe hoch und verschwand dann in einem Gang.
Jetzt blieb mir wirklich nichts anderes übrig als zu warten.
Qualvolle Zeit verstrich, während der ich regungslos am Eingang verharrte und mich zwang den Blick auf den Boden zu richten, statt unablässig zur Treppe zu spähen. Ich beobachtete mit mildem Interesse eine mutige Kakerlake, die sich in Gefahrgebiet begab und nahe meinen Stiefeln die Gegend auskundschaftete. Ich verscheuchte sie nicht, denn sie bot wenigstens so etwas wie Unterhaltung, aber nachdem ihre Fühler meinen Fuß gestreift hatten, zog sie sich hastig zurück und schlüpfte in den Riss einer Kistenwand. Ich überlegte gerade, ob es wohl auffallen würde, wenn ich mich hinsetzte, als eine Stimme mich rief.
"Sklave!", rief ein Hexer plötzlich. "Komm her!" Was konnte er von mir wollen, fragte ich mich äußerst beunruhigt, während ich mit gesenktem Blick seiner Aufforderung nachkam. Ich blieb stehen, als seine Stiefel in mein Blickfeld gerieten und wartete ab, was da meiner harrte.
"Ja, Herr?" Demütig, leise gesprochen.
"Was hast du auf dem Hinweg gemacht?" Kalt lief es mir den Rücken runter. Gab es da noch eine Aufgabe, die ich hätte erledigen müssen? Etwas, das er erledigt wissen wollte? Oder hatten sie mich gar durchschaut? Trotz des inneren Aufruhrs war meine Stimme immer noch völlig emotionslos.
"Ich habe den Krug getragen, Herr", antwortete ich. Ein heftiger Schlag traf mich ins Gesicht; ich wankte und wäre beinahe hingefallen.
"Das weiß ich, du Dummkopf!" Mein Gesicht brannte und ich widerstand nur schwer der Versuchung zurückzuschlagen. Wieder sagte ich mir das magische Wort vor: Disziplin. "Aber was hast du sonst gemacht?"
"Ich... ich weiß nicht, was ihr meint, Herr." Ich hielt es für sicherer meine Unwissenheit zuzugeben, anstatt zu lügen. Ich war schließlich ein Sklave, und normalerweise unterschätzt man Sklaven, hält sie ohnehin für dumm und unfähig. Darauf vertraute ich.
Ein erneuter Schlag. Diesmal trieb mich der Schwung einige Schritte zurück, bis ich mein Gleichgewicht wiederfand. Wollte er mich provozieren?
"Irgendetwas musst du ja gemacht haben, Tölpel, denn sonst hätte es nicht so lange gedauert und unser Essen wäre noch warm!" Ich atmete erleichtert auf.
"Der Krug war schwer und der Weg...", fing ich an, doch diesmal traf mich sein Hieb völlig unerwartet unter dem Kinn. Dunkle Schmerzen explodierten in meinem Kopf. Ehe ich wusste, was mir geschah, lag ich auf dem Boden und schluckte mein eigenes Blut. Der Impuls aufzuspringen und diesem Bastard zu zeigen, was wirkliche Schmerzen waren, durchschoss mich, doch gleichzeitig war da etwas, das mich runterdrückte und jede Reaktion vereitelte. Wie eine Stimme flüsterte mir die Vergangenheit zu, liegen zu bleiben. Ihre Macht war überwältigend, ich konnte mich nicht bewegen. Eine Lektion, die ich vor langer Zeit gelernt hatte, war Geduld zu haben. Sie tauchte jetzt wieder aus meinem Gedächtnis auf und zwang mich ihr zu gehorchen.
Also blieb ich liegen.
Die Stiefel kamen vor meinem Gesicht zum Stillstand. Ich sah genau den Schmutz daran und der Gestank von Fäulnis schlug mir in die Nase. Mein Körper verkrampfte sich, metallisch schmeckte das Blut in meinem Mund.
"So, der Krug war also schwer?", zischte der Hexer. "Soll ich dir dein Gesicht eindrücken, damit du mal erfährst, was wirklich schwer ist?" Ich hörte undeutlich andere Stimmen im Hintergrund. "Nein, das will er wohl nicht!" Lachen. Ich atmete bemüht flach und spannte meine Muskeln an. Falls dieser Hexer wirklich Ernst machte, hatte ich keine Wahl mehr...
Der Stiefel hob und senkte sich. Berührte meinen Rücken, nachdrücklich und ermahnend. Der Druck verstärkte sich und ich biss die Zähne zusammen. Meine Finger scharrten über den Boden.
Kontrolle, bis zum letzten Atemzug.
Dann die Erleichterung. Nach einem letzten Stoß nahm der Hexer seinen Fuß von mir und ich holte wieder tief Luft. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn, aber ich wagte es nicht ihn wegzuwischen. Noch war es nicht ausgestanden.
"Steh auf, Waschlappen. Dein Angstgestank verdirbt das Essen!" Beleidigungen. Damit konnte ich ebenfalls umgehen. Bedächtig stemmte ich mich hoch, ignorierte die pochenden Schmerzen im Gesicht und das leise Knacken des Rückens. Meine Beine gaben nicht unter mir nach und schließlich stand ich wieder senkrecht. Blut tropfte auf den Boden und hinterließ dunkle Flecken.
"Warum habe ich dich geschlagen, Sklave?", fragte der Hexer.
"Weil ich es verdient habe, Herr", antwortete ich.
"War es eine ungerechte Behandlung?"
"Nein, Herr."
"Soll ich dich noch mal schlagen?"
"Wenn es euer Wunsch ist, Herr", murmelte ich abwesend und sah wie gebannt auf den Boden.
Tropf. Tropf.
"Wenn es mein Wunsch ist!", lachte der Hexer auf. "Habt ihr das gehört? Wenn es mein Wunsch ist! Das ist doch ein guter Junge! Wirklich gut! Wenn es mein Wunsch ist..." Er musterte mich amüsiert, doch ich bemerkte es kaum. Warum nur sprach mich das so an?
Blut auf dem Boden. Sickerte in Rinnsälen, bildete dunkle Lachen, immer mehr, immer weiter breitete es sich aus, bedeckte die ganze helle Fläche... Rot auf Weiß, ein bekanntes Muster, so furchtbar bekannt. Und Schreie, Schmerzen, von außen und von innen. Überall waren sie, man konnte ihnen nicht entkommen.
Oh, bei den Allmächtigen Fünf, gibt es keinen Ort mehr auf dieser Welt, an dem kein Blut strömt?..

Man schüttelte mich grob. Ich wankte und riss dann die Augen auf. Der Hexer musterte mich prüfend, mit zusammengezogenen Augenbrauen und hielt mich dabei an meinen Schultern fest. Obwohl sein Griff unangenehm grob war, war ich trotzdem dankbar dafür, denn ansonsten wäre ich wohl wieder umgefallen. Ich fühlte mich erschreckend schwach.
"Mann, ich habe dir wohl mehr zugesetzt als ich dachte, Junge", murmelte er und schob mich in irgendeine Richtung. Meine Füße gehorchten nicht recht meinem Willen, ich spürte sie nicht einmal richtig, aber irgendwie schaffte ich es dennoch mitzukommen. Ich wurde auf eine Kiste gedrückt und dann losgelassen. Erleichtert lehnte ich mich zurück und sog gierig die Luft ein. Stieß sie zischend wieder aus. Mehrere male, bis ich wieder ein wenig Kraft in meinem Körper spürte. Dann öffnete ich die Augen - obwohl ich gar nicht wusste, wann ich sie überhaupt zugemacht hatte – und sah mich wieder dem Hexer gegenüber. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch verstärkte sich abrupt. Aber er machte keine Anstalten auf mich loszugehen. Stattdessen kratzte er sich am Kopf und betrachtete mich eindringlich. Ich wusste nicht, wonach er suchte und es interessierte mich in dem Augenblick auch nicht besonders. Mir war alles egal. Endlich wandte er seinen Blick ab.
"Bleib sitzen, Sklave. Und wag es ja nicht, noch mal in Ohnmacht zu fallen!", knurrte er. "Das stört beim Essen." Abrupt drehte er sich um und ging zu den anderen. Ich blieb sitzen und konzentrierte mich darauf, wieder alle meine Körperteile spüren zu können. Als das geschafft war und ich keine Angst mehr hatte zu ersticken oder umzufallen, schloss ich wieder die Augen, diesmal bewusst, und dachte eine Zeitlang an gar nichts. Erholte mich, sowohl physisch als auch psychisch.
Erst nach dieser Ruhepause fühlte ich mich einigermaßen in der Lage vernünftig nachzudenken. Immer noch war ich erschüttert von diesem Erlebnis. Diese Bilder hatten mich überflutet, meinen Verstand in Besitz genommen und mir keine Chance gegeben, mich dagegen zu wehren. Ein kalter Schauder durchlief meinen ganzen Körper als ich mich ihrer entsann. So viel Blut! Verdammt, was war geschehen, dass ich solche traumatisierte Erinnerungen zurückbehalten hatte? Warum war meine Vergangenheit voll von Dingen, die mich mit ihrer Erinnerung zutiefst entsetzten?
Als ich mein Gesicht befühlte, war es klebrig von meinem Blut und sehr kalt. Wie mein ganzer Körper schien es förmlich zu Eis erstarrt zu sein. Selbst die Schmerzen erreichten mich nur gedämpft, von weither. Wie durch eine Betäubung hindurch.
Mein Kopf schmerzte. Dumpf, aber ich erahnte schon die Ausmaße der Kopfschmerzen, die sich da ankündigten. In Gedanken fluchte ich heftig und ausführlich. Als ob meine Lage nicht schon schlimm genug wäre! Jetzt hatte ich noch mehr verworrenes Zeug aus der Vergangenheit, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen, der sich ohnehin schon zerbrochen anfühlte!
Dabei hatte ich doch noch so viel zu tun... Ein Seufzen.
Ich lehnte mich wieder zurück und versuchte eine Position zu finden, bei der sich die Kanten der Kiste nicht so schmerzhaft in mein Hinterteil bohrten.

Es dauerte zum Glück nicht mehr lange, dann waren die Hexer mit dem Essen fertig. Ich schreckte aus einer Art Wachschlaf auf, als man mich rief. Da ich keine Lust hatte, wieder geschlagen zu werden, rappelte ich mich hastig auf und lief fast zu den Hexern. Dort nahm ich den Korb wieder in Empfang, der mit den leeren Behältern immer noch genauso viel wog wie vorher - jedenfalls schien es mir so. Ich erschrak, als mir einfiel, dass ich gar nicht gesehen hatte, wie man den braunen Topf zurückbrachte, aber dann entdeckte ich ihn obendrauf im Korb. Anscheinend war ich wirklich eingeschlummert.
Das Gebäude verließ ich ohne weitere Zwischenfälle. Bis auf die Knochen erschöpft, hungrig und bar jeder Energie stand ich draußen, in tiefer Dunkelheit, und musste einen Sumpf überqueren, über einen Pfad, den ich nur einmal begangen hatte. Falls der Mond am Himmel stand, verdeckten die Wolken ihn, ebenso wie die Sterne. Mutlos betrachtete ich die schwarze, stille Oberfläche vor mir und spürte die große Versuchung einfach aufzugeben, den Korb fallen zulassen und sich hier auf der Stelle hinlegen. Schlafen. Nie wieder die Augen aufmachen...
Dajana. Der Name war ein elektrisierender Funke durch meinen Körper. Entsetzt wurde mir bewusst, dass es Nacht war, Nacht! Die Müdigkeit wich schlagartig, die Schmerzen und der Hunger waren vergessen. Mit neuer Kraft stürmte ich los, auf dem Weg, den ich nicht zu sehen brauchte, denn ich erinnerte mich.
Jeder Schritt klang in meinem Kopf als ihr Name nach. Jeder Atemzug rief mir ihr goldenes Haar ins Gedächtnis, wie es im Wind wehte. Mein Hals wurde trocken, wenn ich an ihre ausdrucksvollen, grünen Augen dachte.
Götter, ich kam zu spät! Ich wusste es. Es war Nacht, verflucht sollte sie sein, dunkle Nacht und Dajana... Nein, ich wollte nicht einmal daran denken. Ich konnte nicht! Ich gestattete es mir nicht das zu denken. Vorwärts, vorwärts, das war es, was zählte.
Jeder Schritt, jeder Atemzug, jeder Gedanke...
Vorwärts!
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 3. Teil des 7. Kapitels :-)

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