Der nächste Tag stand unter dem Vorzeichen
eines blutroten Sonnenaufgangs.
Die Farbe kam mir gleich bekannt vor und dieses
ungute Gefühl verfolgte mich, die Andeutung einer Erinnerung. Ich
konnte sie nicht ignorieren, sie war nur in der Vergangenheit lebendig,
ohne dass ich mich daran erinnern konnte.
Langsam schien es mir, dass ich nur ungute
Erinnerungen hatte.
Dabei war der Tag eigentlich erstaunlich schön.
Die Wolken gaben einen Teil des Himmels frei und zum ersten mal seit -
ich weiß nicht, wann, aber es musste lange her sein - sah ich klares
Blau über mir. Ich trieb mich in der ganzen Siedlung umher, tat so,
als würde ich Arbeiten nachgehen und verhielt mich möglichst
unauffällig und demütig. Zwar sorgte ich mich um Dajana, aber
dass ich mich noch auf freiem Fuß befand, sprach eindeutig dafür,
dass sie niemandem erzählt hatte, was passiert war. Was ich als gutes
Zeichen deutete.
Ich hielt Ausschau nach Johannes, fand ihn
aber nirgendwo. Das war vermutlich mein größtes Problem - er
hatte wenigstens so etwas wie einen Plan gehabt, jedenfalls hatte ich diesen
Eindruck gewonnen. Außerdem erinnerte er sich besser als ich. Und
er wusste, wo sich Julian befand.
Dafür fand ich Gaya.
Das passierte zufällig. Ich schlich gerade
durch die Straßen und gab mir ganz den Anschein, als würde ich
vor Erschöpfung gleich zusammenbrechen, damit mich bloß keiner
ansprach und mir Anweisungen gab, da stieß ich mit ihr zusammen.
Buchstäblich, denn in meiner angeblichen Erschöpfung hielt ich
die Augen halb geschlossen und sah demzufolge nur den Weg unmittelbar vor
meinen Füßen.
Es war kein heftiges Zusammenstoßen
und ich fiel nicht hin, wankte nur leicht. Sie schon. Sie prallte zurück,
stolperte und stürzte. Ich erkannte sie zunächst nicht, wie sie
da auf der Erde kauerte, das Gesicht verborgen hinter dem Vorhang aus dunklem
Haar. Sie machte eine zögerliche Bewegung mit den Händen, stand
jedoch nicht auf. Blickte nur unsicher zu mir hinauf, braune Augen mit
einem Schimmer Grün. Ich erkannte sie immer noch nicht.
"Tut mir leid", sagte ich und streckte eine
Hand aus, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie starrte diese Hand an, als
würde sie erwarten, dass sie sich gleich um ihren Hals schloss. Als
die Hand keine Anstalten machte, das zu tun, atmete sie ein wenig auf und
wagte es, den Kopf zu heben, wobei das Haar zur Seite glitt, und mich in
Augenschein zu nehmen. Da erst wurde mir bewusst, wer sie war.
Wahrscheinlich starrte ich nun, denn
es trat wieder ein ängstlicher Ausdruck in ihr Gesicht. Ich hatte
ihn noch nie bei ihr gesehen und es erschütterte mich. Sie bewegte
sich unruhig, als ich mich neben ihr niederkauerte, aber sie lief nicht
davon. Wenigstens dafür war ich dankbar.
"Gaya?" Wieder diese nervöse Regung.
"Gaya, ich bins, Cycil. Dein Freund."
"Willst du etwas von mir?", fragte sie leise.
Die Stimme löste wieder etwas in mir aus.
"Ja", antwortete ich und lächelte. "Ich
will dir helfen." Sie verstand nicht, wie konnte sie auch?
"Muss ich... muss ich wieder zurück?"
Solch eine hilflose Verzweiflung. Warum war sie so voll von Hoffnungslosigkeit,
während Dajana bar jedes Empfindens gewesen war?
"Nein. Nein! Egal, wo du gewesen bist, du
musst nicht wieder zurück. Nie wieder." Ich wusste nicht, warum ich
das sagte, obwohl ich mir nur zu gut dessen bewusst war, was meine Grenzen
ausmachte. Vielleicht einfach das Bedürfnis ihr Trost zu spenden,
egal, ob es der Wahrheit entsprach. Einfach irgendetwas erzählen,
wie man es einem Kind erzählte, wenn es Angst hatte. Und wie bei einem
Kind klang ihre Stimme ganz zitterig, als sie fragte:
"Wirklich nicht? Versprichst du es?"
"Ja. Ja, ich verspreche es dir." Etwas tippte
von innen gegen mein Bewusstsein - eine leise Ermahnung. Versprechen
darf man nicht brechen. Eine alte, alte Regel. Die mir in dem Augenblick
völlig egal war, als Gaya, die erwachsene Gaya, die Druidin Gaya,
deren Leben aus Disziplin und Kontrolle bestand, in meine Arme fiel und
anfing zu weinen.
Und ich hielt sie nur fest.
Wieder ging ich durch die Straßen, doch
diesmal nicht allein. Ich konnte Gaya nicht einfach anweisen zurück
an die Arbeit zu gehen, nicht nachdem ich ihr dieses vorschnelle, unsinnige
Versprechen gegeben hatte. Ohnehin war sie kurz vor dem Zusammenbruch,
sowohl körperlich als auch seelisch. Ich wusste nicht, was passiert
war, aber es gab genug schlimme Dinge, die dafür in Frage kamen, und
ich wollte es gar nicht genauer wissen.
So zeigte ich ihr die einzige Sicherheit,
die ich anzubieten hatte: die warme, stickige Luft der Ställe. Irgendwie
waren sie wohl so etwas wie der Treffpunkt des Widerstands geworden, dachte
ich mit leisem Anflug von Sarkasmus. Gaya allerdings genügte es. Sie
kauerte sich in der gleichen Ecke hin, die auch Dajana innegehabt hatte,
zog die Knie an den Körper, legte die Arme darum und sah mich wieder
scheu von unten her an. Ich konnte dieses Bild einfach nicht mit dem Bild
aus der Vergangenheit verknüpfen. Es war eine solch bizarre Wandlung,
dass es erschreckte.
Ich ließ meine Stimme sanft klingen,
um sie zu beruhigen.
"Du bist hier in Sicherheit, Gaya. Niemand
kann dir etwas tun."
"Weil du mich beschützen wirst?" Das
konnte ich ihr nicht versprechen.
"Nein, Gaya, tut mir leid. Ich kann nicht
hier bleiben. Ich muss gehen und weitersuchen."
"Du lässt mich allein!"
"Ich habe keine Wahl", versuchte ich es zu
erklären. "Es gibt noch andere da draußen, die gefunden werden
wollen. Andere, die nach Sicherheit streben."
"Wenn du nicht hier bist, kann es keine Sicherheit
geben", stellte sie fest.
"Keiner kommt hierher. Wenn du diese Kammer
nicht verlässt, wird man dich nicht finden. Verstehst du, Gaya? Sie
werden dich nicht finden." Sie schüttelte den Kopf.
"Sie werden mich finden", flüsterte sie.
Ich konnte fast schon sehen, wie sie sich innerlich noch weiter zurückzog.
"Nein!", widersprach ich heftig. "Gib nicht
so schnell auf! Ich bleibe nicht lange weg. Und du bist hier sicher, das
versichere ich dir. Verhalte dich still und ruhig; schlaf ein wenig. Und
ehe du dich versiehst, bin ich wieder da."
"Ich kann nicht schlafen. Nie wieder." Hier
kam Schmerz zum Vorschein - ein bekanntes Element, wie ich feststellte.
"Doch, du kannst und du wirst. Haben
wir uns verstanden?" Ich wollte sie nicht zurücklassen, ich wollte
nicht weitersuchen. Was ich wollte, war schwer zu beschreiben. Weil es
unmöglich war.
"Ja", erwiderte sie dumpf.
"Weißt du noch, wie ich heiße?"
"Cycil."
"Genau. Und du bist Gaya, vergiss das nicht.
Ruh dich aus, ich bin schneller wieder da, als du denkst." Nach diesen
Worten umarmte ich sie noch mal schnell und verschwand dann.
Ich verbrachte diese Nacht entgegen aller Vorsicht
nicht bei den anderen Arbeitern, sondern in den Ställen. Ich hatte
wieder Dajana geholt, denn man hatte sie auch diesmal angewiesen sich zu
den Zelten zu begeben. Gaya hatte sich zuerst vor ihr gefürchtet,
aber nach einer Weile kam eine gewisse Vertraulichkeit auf. Ich wusste
nicht, ob es die Erinnerung an Freundschaft war, die die beiden verband
oder neue Sympathie, aber es interessierte mich auch nicht sehr. Die Hauptsache
war, dass sie miteinander auskamen und dicht zusammen blieben. Das schien
sowohl Dajanas Teilnahmslosigkeit als auch Gayas zerrütteten Nerven
zu helfen. Nach dem Essen - während des Tages hatte ich weiteren Proviant
mitgehen lassen - schliefen sie ganz still ein, nebeneinander und mit gewisser
Ruhe. Hoffte ich zumindest.
Die Nacht wurde unruhig, denn im Gegensatz
zu Dajanas todesähnlichem Schlaf der Erschöpfung konnte Gaya
keinen Frieden finden und wand sich in Albträumen hin und her. Nachdem
ich einiges von dem gehört hatte, was sie vor sich hin murmelte, wunderte
mich das ganz und gar nicht.
Der Morgen brachte schwierige Entscheidungen.
Dajana und Gaya beobachteten mich mit einer
gewissen zurückhaltender Neugier, wie ich an der Tür stand und
nachdachte.
Wir waren zu dritt, drei von sechs. Vorgestern
war Johannes verschwunden, jedenfalls hatte ich seit da nichts mehr von
ihm gehört. Julian musste hier sein, irgendwo in der Siedlung. Alay?
Vielleicht gefangen gehalten. Johannes hatte gemeint, es wäre möglich,
dass die Droge bei ihr nicht gewirkt hatte. Das konnte ich mir durchaus
vorstellen. Bei Alay war alles möglich.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ich musste
die fehlenden drei finden, das war keine Frage. Aber was sollte solange
mit Gaya passieren? Ich bezweifelte, dass die Hexer es übersehen würden,
wenn sie einfach so spurlos verschwand. Wahrscheinlich behielten sie uns
alle im Auge, besonders uns, die wir Magie besaßen. Dass Dajana die
Nächte hier verbrachte, brauchte nicht aufzufliegen. Es gab sehr
viele Zelte und so etwas wie Ordnung existierte nicht. Dajana brauchte
einfach nur zu behaupten sie wäre dort gewesen. Wie wollte man das
schließlich nachprüfen?
Also war Gaya das Problem. Ich drehte mich
um und musterte sie prüfend. Wog Möglichkeiten gegeneinander
ab und versuchte Hilfe aus meinen Erinnerungsfetzen zu beziehen. Schließlich
beschloss ich, das zu nutzen, was meine Vergangenheit aus irgendeinem Grund
so völlig überschattete - den Tod.
Es war schwer, Gaya dazu zu überreden.
Alle Instinkte schrieen ihr entgegen Abstand zu halten und sie sträubte
sich erstaunlich lange. Aber letztendlich gehorchte sie mir, nachdem ich
ihr mehrmals versichert hatte, dass ich nicht zulassen würde, dass
ihr etwas geschah.
Danach versicherte ich mich, dass nur ein
Arbeiter in der Nähe war und gab Gaya das Zeichen.
Sie fing an zu schreien.
Aus meinem Versteck im Schilf beobachtete
ich ungesehen, wie der Arbeiter herbeigelaufen kam und dann abrupt stehen
blieb. Er sah das, was er sehen sollte: eine Frau, eine Arbeiterin, bis
zur Taille im Sumpf versunken, panisch um sich schlagend und um Hilfe rufend.
Er tat, was er tun sollte: er lief weg, um Hilfe zu holen.
Ich erhob mich aus meinem Versteck und lief
zu Gaya. "Gut gemacht, das war sehr überzeugend", sagte ich zu ihr.
Sie verzog das Gesicht und streckte mir die Hände entgegen.
"Hol mich hier raus!", verlangte sie. Ich
ging ihrer Forderung nach und zog sie aus dem Sumpf, vorsichtig, um nicht
selbst hineinzugeraten. Als wir wieder auf festem Boden waren, atmete sie
auf und ließ mich los. "Ich weiß nicht, wozu das gut sein sollte."
"Wir verschwinden jetzt", erklärte ich
ihr geduldig. "Und wenn die Hexer davon erfahren, werden sie denken, dass
du tot bist."
"Werden sie nicht."
"Werden sie doch. Woher sollen sie es schließlich
besser wissen?"
"Sie sind mächtig", wandte sie furchtsam
ein. "Man kann sie nicht hereinlegen."
"Man kann es aber versuchen", erwiderte ich.
"Oder willst du jetzt aufgeben und freiwillig zu ihnen zurückgehen?"
"Nein! Nein." Sie schüttelte den Kopf;
die Haare flogen um ihr Gesicht. "Bitte sprich nicht mehr davon."
"Schon gut. Weißt du denn den Weg zu
den Ställen?" Sie nickte zögernd. "Gut, dann gehst du jetzt dorthin
zurück."
"Ohne dich?"
"Ohne mich", bestätigte ich. "Ich muss
weiterhin den Anschein wahren, als würde ich ein folgsamer Sklave
sein."
"Kannst du nicht auch 'sterben'?"
"Nein, das würde zu auffällig sein,
denke ich mir. Außerdem wie könnte ich dann nach den anderen
suchen?"
"Wer sind die anderen?", fragte sie.
"Unsere Freunde."
"Können wir ihnen vertrauen?"
"Du hast doch Dajana vertraut, oder? Die anderen
sind auch solche guten Freunde." Gaya dachte nach, nickte.
"Ja, ihr kann ich vertrauen. Wie dir." Sie
lächelte scheu. "Wenn die anderen auch so sind, musst du sie finden."
"Genau meine Meinung", stimmte ich zu. "Und
jetzt geh. Bevor man dich noch sieht." Sie drehte sich gehorsam um und
lief leichtfüßig davon. Doch zuvor sagte sie noch leise:
"Pass auf dich auf, Cycil."
Ich schaute ihr hinterher und fragte mich,
wie es kam, dass ich solche Freunde hatte.
Ich beobachtete unauffällig, wie sich
die Nachricht von Gayas Tod unter den Hexern verbreitete. Sie reagierten
mit Unruhe darauf, was ich auch erwartet hatte, schließlich war Gaya
eine von uns und wir waren nicht zu unterschätzen, soweit ich mich
erinnern konnte. Ich hatte ebenfalls erwartet, dass sie nun besondere Aufmerksamkeit
auf mich richteten - auf Dajana natürlich auch und diese Tatsache
machte mir Sorgen. Würde sie es durchstehen?
Dann aber stellte sich heraus, dass sich die
Hexer überwiegend auf mich konzentrierten und Dajana kaum beachteten.
Das fand ich auf sehr direkte Weise heraus,
als mich nämlich drei Hexer aus der Straße ansprachen. Ich war
darauf überhaupt nicht vorbereitet und deshalb fiel es mir nicht besonders
schwer, den unterwürfigen Diener zu spielen. Die Furcht war nicht
geschauspielert.
Sie befahlen mir barsch wieder aufzustehen,
doch selbst als ich langsam gehorchte, hielt ich die Augen gesenkt, das
Gesicht unten, da ich um ihre magischen Fähigkeiten fürchtete.
Außerdem passte dieses Verhalten durchaus zu einem Arbeitersklaven.
Doch sie waren darauf aus, mich zu prüfen und gaben sich damit nicht
zufrieden.
"Sieh auf", befahl einer mir. Innerlich grauste
es mir, doch äußerlich blieb ich völlig unbewegt. Hob bloß
das Gesicht und blickte in seine Augen. Dunkel waren sie, fast schwarz,
aber ich sah einen Funken darin brennen, der die Macht verriet, die diesem
nach Außen hin so harmlos wirkenden, älteren Mann innewohnte.
"Wie heißt du?", fragte mich ein anderer.
"Ich habe keinen Namen, Herr", antwortete
ich. Der Funke brannte heller, irgendwie schienen die Augen an Tiefe zu
gewinnen, während sich gleichzeitig jeglicher Glanz darin verlor.
Ich hatte das Gefühl, in einen Sog geraten zu sein, dunkel und stark.
"Wie heißt du", wiederholte er und gleichzeitig
war es mir, als würde die Frage in meinem Schädel wiederhallen,
leer, oh, so leer.
"Ich... habe keinen... Namen." So schwarz,
so endlose Schwärze um mich herum. Sie ergriff mich, zerrte an mir,
suchte einen Weg nach innen, durch meinen Körper hindurch in das,
was mich ausmachte - Verstand, Gedanken, Geist, Seele... Der Boden schien
mir zu entgleiten.
"Wo ist deine Freundin?" Gaya. Er fragte nach
Gaya. Aber war sie nicht tot?
Sprich die Wahrheit.
"Hab keine... Freundin." Schwer, so schwer
diesen Satz auszusprechen. "Keine... Freunde..." Noch schwerer, als würde
ein Gewicht an den Worten hängen und sie runterziehen, mich runterziehen.
Überall gab es nur Dunkelheit, gnadenloses Schwarz, durchsetzt von
grellen Lichtsternen, die mich durchbohrten, wie Schwerter, so fein und
dünn, doch so schmerzhaft... Ah, Schmerz, Schmerz, Schmerz. Und der
Sog, so kraftvoll, so zerstörend. Zerriss mich, mein Innerstes sowie
mein Äußerstes, alles, alles und der Schmerz...
"Wer bist du?", fragte eine harte Stimme,
von überall her kam sie, brüllend und flüsternd, Feuer und
Eis, Stein, der auf mich einhieb.
SPRICH DIE WAHRHEIT!
SPRICH DIE WAHRHEIT!
"Euer... Arbeiter... Herr..." Die Qualen,
die Pein, es war zuviel. Die Finsternis drückte mich zusammen, immer
kleiner, winzig, am winzigsten, bis ich nur noch ein Staubkorn war, weniger
als das. Ein Bewusstsein ohne Bewusstsein, alles nur Schmerzen und der
Sog, der Sog, der Ruf...
SPRICH DIE WAHRHEIT!
Es barst.
Das ganzen Universum barst in einer einzigen
ungeheuer großen Explosion, die Dunkelheit flog in Scherben auseinander
wie ein zerschlagener Spiegel, klirrendes Eis, dazwischen loderndes Feuer,
das mich, das alles versengte. Alles flog auseinander, expandierte, dehnte
sich in die Unendlichkeit aus und ließ mich alleine zurück,
ganz alleine, mitten im Nichts. Die Schmerzen waren noch da, doch verändert.
Nicht mehr eindringend, sondern ausdringend. Von mir heraus nach außen.
Als ich zu mir zurück fand, krümmte
ich mich auf dem Boden und versuchte Luft zu holen. Die Lungen brannten,
das Herz stotterte, der Kopf flammte schier, die kleinste Bewegung schmerzte
höllisch. Ich lag da und zitterte, konnte meinen Körper nicht
beruhigen. Über mir standen die drei Hexer und sprachen miteinander
als wäre ich nicht vorhanden.
"...nicht verändert", sagte einer von
ihnen. "Er hat immer noch diese Abwehr."
"Aber warum? Die Droge sollte doch all seine
Magie lähmen!"
"Das ist keine Magie", meinte derjenige mit
den schwarzen, bodenlosen Augen. "Das ist etwas völlig anderes...
etwas eigenes, persönliches, das nicht vom Gedächtnis abhängig
ist. Eine Art... Projektion."
"Projektion?"
"Ein Bild. Es ist immer nur ein Bild da, egal,
was ich tue. Eine ausgedehnte Wüste, bedeckt mit Blut. Ich weiß
nicht, was das zu bedeuten hat, aber allein deswegen kann ich nicht in
seinen Verstand eindringen."
"Bist du sicher, dass es keine Magie ist?"
"Absolut", erwiderte der Schwarzäugige
bestimmt. "Mit Magie hat das rein gar nichts zu tun. Es ist in seinem Fleisch,
in seinem Blut, in jedem einzigen Stück seines Körpers..."
"Also, weiß er nun etwas oder nicht?",
unterbrach der Dritte das Gespräch.
"Ich weiß nicht. Wenn er etwas verbirgt,
dann kann ich es nicht herausfinden. Wegen dieser Abwehr kann ich nicht
einmal erkennen, ob er die Wahrheit spricht oder lügt!"
"Das gibt es doch nicht! Wie kann das sein?
Wer ist dieser Mann, dass er über diese Macht verfügt, obwohl
er nicht einmal mehr seine Magie besitzt?"
"Das ist ja das Problem mit dieser Droge.
Wenn nicht einmal er selbst es weiß, wie sollen wir es dann erfahren?",
meinte der Erste trocken.
"Nachdem wir das mit der Stadt erledigt haben,
werden wir uns darum kümmern müssen. Dann können wir auch
unsere ganze Kraft darauf konzentrieren, ihn zu brechen. Jetzt fehlt uns
die Zeit dafür, der Angriff steht kurz bevor."
"Gerade deshalb sollten wir besonders vorsichtig
sein!", widersprach der Schwarzäugige. "Ich sage euch, diesen Kerl
kann man nicht außer Acht lassen, wer weiß, was er sonst noch
kann, was wir nicht unter Kontrolle haben? Diese Abwehr hat mit meiner
Macht zurückgeschlagen! So etwas darf nicht noch einmal passieren."
"Sollen wir ihn töten?", schlug der Erste
vor.
"Nein! Wir müssen dieses Phänomen
erforschen, dafür muss er am Leben bleiben."
"Euch ist doch klar, dass wir nicht das Fassungsvermögen
haben, ihn gefangen zu halten und richtig zu beaufsichtigen? Die Überwachung
der beiden anderen macht schon genug Schwierigkeiten, den da können
wir nicht auch noch einzeln einsperren! Wir sind ohnehin schon unterbesetzt!"
"Das bringt uns nicht weiter", stellte der
Dritte fest. "Wir müssen ihn weiterhin arbeiten lassen, ungeachtet
dieses Vorfalls..."
"Aber das ist ein Risiko..."
"Wir werden natürlich dafür sorgen,
dass er mehr Drogen bekommt als die anderen. Damit dürfte er dann
keine Gefahr mehr darstellen."
"Dafür übernimmst dann allein du
die Verantwortung", sagte der Schwarzäugige. "Ich lasse mich da nicht
mit hineinziehen."
"Das ist mir schon klar. Ich verantworte dies."
Der Erste nickte zustimmend, dann sahen sie zusammen mich an, der ich mich
auf dem Boden wand.
"Der Rückschlag hat ihn gestreift", stellte
der Schwarzäugige fest.
"Umso besser. Das wird ihm eine Weile zu schaffen
machen. Geht jetzt, die Versammlung hat bereits angefangen. Ich komme nach."
Der mit den schwarzen Augen zögerte noch.
"Soll ich vielleicht..."
"Nichts sollst du! Geht!" Nach einem erneuten
Blick auf mich folgte der Schwarzäugige dem anderen. Übrig blieb
der Erste, ihr Anführer, der mir vorhin die Fragen gestellt hatte.
Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen, wie einer, der sich gerade
überlegt, ob er die Fliege auf dem Tisch zerquetschen soll oder ob
das zuviel Aufwand wäre. Ich verhielt mich völlig still, erstarrte
fast und wartete auf seine Entscheidung.
Zerquetschen oder nicht?
Er beschloss, es nicht zu tun.
"Steh auf!", befahl er mir barsch. Leichter
gesagt als getan, dachte ich, versuchte dennoch seinem Befehl zu gehorchen.
Leider fügten sich die Knochen nicht meinem Willen, so dass ich wieder
zurückfiel und um Atem kämpfen musste. Vor meinen Augen tanzten
farbige Punkte. Auf und ab. Auf und ab. Der Hexer wartete mit verschränkten
Armen und machte nicht den Anschein, als ob er mir helfen wollte. Also
versuchte ich es erneut. Mit dem gleichen Ergebnis, das mich mit dem Wunsch
zurückließ, einfach den Geist aufzugeben. Das tat ich jedoch
nicht, da ich mir vage bewusst war, dass der Hexer wohl nicht viel Geduld
hatte und sich auch nicht nach meiner Schwäche richten würde.
Ich sammelte Kraft aus verschwommenen Erinnerungen
an Dajana und stemmte mich in eine sitzende Position hoch, wobei sich mir
der Kopf drehte. Der Hexer schüttelte den Kopf und reichte mir schließlich
etwas, das er aus seiner Tasche hervorgeholt hatte.
"Iss es." Es war eine der geschmacklosen Scheiben,
die hier als Proviant galten. Denen Drogen zugesetzt worden waren, so dass
sie jede Erinnerung auslöschten und den Menschen seiner Würde
beraubten. Ich streckte zögernd die Hand aus und nahm den Keks. Er
war leicht und fühlte sich rau an, krümelte ein wenig unter meinen
Fingern.
"Iss!" Ein Befehl, der keinen Widerspruch
duldete. Also führte ich den Keks zum Mund und biss ab. Es tat weh
zu kauen und runterzuschlucken, dennoch tat ich es. Aß mühsam
den ganzen Keks auf und dann fünf weitere, die er mir hinhielt. Er
beobachtete mich dabei, aufmerksam, lauernd. Stumpf erwiderte ich seinen
Blick und wartete. Wieder warten.
Schließlich löste er seine verschränkten
Hände und schüttelte den Kopf.
"Und doch bist du nur ein dummer Sklave",
sagte er und ging weg. Ich sah ihm nach, bis er von der Straße abbog
und so aus meinem Blickfeld verschwand. Dann stand ich vorsichtig auf,
indem ich mich an einer Mauer abstützte. Schwindel ergriff mich, meine
Beine zitterten. Rückschlag hatte der eine das genannt. Nun, von mir
aus.
Erinnerung.
Ich verließ die Straße, stolperte
am Haus entlang und wäre mehrere male beinahe hingefallen. Dann atmete
ich langsam durch und fasste einigermaßen festen Stand. Öffnete
meinen Mund und - Erinnerung - berührte einen bestimmten Punkt
weit hinten im Rachen.
Nachdem ich meinen Mageninhalt vollständig
entleert hatte, fühlte ich mich noch wackliger als vorher. Die Punkte
tauchten wieder auf und dunkle Bewusstlosigkeit drohte mich hinabzuziehen.
Doch, aus welchen Quellen auch immer ich Kraft schöpfte, hielt ich
dem stand und taumelte weiter.
Ich kam erst wieder ganz zu mir, als kaltes
Wasser mir ins Gesicht schlug. Ich riss die Augen auf, wollte Luft holen
- und stellte fest, dass es keine gab. Wasser war über und unter mir,
nass, kalt und durchdringend. Furcht, die an Panik grenzte, ergriff mich.
Ich schlug mit den Armen um mich, suchte nach Halt - doch es war ein Sumpf
und es gab keinen festen Halt in einem Sumpf. Es gab nur nachgiebige Pflanzen,
Schlamm und den Tod.
Sauerstoffmangel, schoss mir durch den Kopf.
Rote Punkte vor meinen Augen. Mein Brustkorb wurde zusammengedrückt,
die Lungen schrieen nach Luft. So tief kann doch ein Tümpel gar nicht
sein... Panik, so viel Panik. Sie durchströmte meine Adern und machte
jeden vernünftigen Gedanken unmöglich. Ich will nicht sterben!
Sterben. Das Wort löste etwas
in mir auf, scheuchte die Fledermaus einer weiteren Erinnerung auf, die
aus dem Dunkeln ans Licht flog.
Ich wollte sterben. In meiner Vergangenheit
hatte ich den Tod gesucht, mich nach ihm gesehnt. Um dem zu entfliehen,
was mich verfolgte, unerbittlich, durch Tage und Nächte hindurch,
durch Hitze und Kälte. Doch ich durfte dem nicht entkommen. Es gab
eine Schuld zu begleichen.
Eine Göttin hatte mir einst gesagt, dass
ich weiterleben musste.
Ihre Haare hatten in der heißen Wüstenluft
geflimmert...
Heftig um mich schlagend durchbrach ich die
Wasseroberfläche und schnappte keuchend nach Luft.. Sie kam mir süßer
vor als jeder Honig dieser Welt, belebend und berauschend wie eine Droge.
Ich sog sie gierig ein und spürte sie durch meinen Körper rasen.
Leben, pures Leben. In diesem Moment spürte ich seine Berührung.
Mühsam kroch ich aus dem Tümpel
an festes Land und blieb einfach liegen, regungslos. Hörte mein Herz
schlagen. Es dröhnte in meinen Ohren. Was war passiert?!
Ich kam zum Entschluss, dass ich wohl der
Bewusstlosigkeit nahe den Weg verlassen habe und einfach... reingefallen
bin. Immer noch fühlte ich die Nachwirkungen des - Rückschlags?
- und des Erbrechens, eine tiefergehende Schwäche, die selbst meine
Knochen zu erfüllen schien. Doch mein Kopf war wieder klar, noch ein
wenig schwindelig, aber klar. Das kalte Wasser hatte mich wieder zur Besinnung
gebracht.
Ich entsann mich der Erinnerung. Eine Göttin?
Das war doch unmöglich! Andererseits hatte ich bereits festgestellt,
dass ich anscheinend in meiner Vergangenheit etwas besonderes gewesen war.
Dass meine Vergangenheit selbst etwas besonderes war. Ich besaß die
Fähigkeit, mich vor den Hexern abzuschirmen, wie sie es noch nie erlebt
hatten. Ich wurde von etwas verfolgt, das mich fast in den Wahnsinn getrieben
hatte, und mich wünschen ließ zu sterben. Doch das wurde mir
verwehrt, weil die Götter wollten, dass ich lebte.
Plausibel?
Von wegen.
Ich stützte mich auf und fuhr mit den
Fingern durch meine nassen, schwarzen Haare. Wenn ich doch nur endlich
alles erfahren würde! Dieses bruchstückhafte Gedächtnis
war kaum erträglich, es verwirrte und ängstigte mich. Wer war
ich, dass ich so viel in Bewegung setzte?
Kontrolle. Ein Atemzug, ruhig, ein weiterer.
Selbst wenn in meinem Kopf dieses Chaos herrschte, gab es Dinge, die erledigt
werden mussten, Menschen, die sich auf mich verließen. Das sagte
ich mir immer wieder vor und erlangte so schließlich meine Disziplin
wieder.
Vorsichtig stand ich auf. War es schon Abend?
Das wunderte mich. Wo war der Nachmittag hin? Ein kalter Schauder schüttelte
mich. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Anscheinend länger als
gedacht.
Soll ich zurück zu Gaya gehen? Sie
macht sich bestimmt große Sorgen. Doch da war noch etwas, ein
Gedanke im Hinterkopf, der nach Aufmerksamkeit verlangte. Ich zog mir das
Hemd vom Leib und fing an es auszuwringen. Das Wasser tropfte in den Teich
zurück. Währenddessen versuchte ich herauszufinden, was es da
so wichtiges gab, das mir aufgefallen war.
Das Gespräch zwischen den Hexern. Sie
hatten sich über meine Zukunft unterhalten. Einer hatte gemeint, sie
könnten keine Leute mehr abstellen, um mich zu bewachen, weil sie
ohnehin unterbesetzt waren. Was hatte er genau gesagt?
"Euch ist doch klar, dass wir nicht das
Fassungsvermögen haben, ihn gefangen zu halten und richtig zu beaufsichtigen?
Die Überwachung der beiden anderen macht schon genug Schwierigkeiten,
den da können wir nicht auch noch einzeln einsperren!"
Die Überwachung der beiden anderen! Ich
erstarrte. Er musste zwei aus meiner Gruppe damit gemeint haben. Alay,
dachte ich sofort. Sie muss eine von ihnen sein. Und Johannes? Das würde
erklären, warum ich ihn nicht finden kann. Sie müssen etwas gemerkt
haben. Es gab da noch Julian, doch bezweifelte ich, dass er aus dem
Drogennebel aufgewacht war. Er war kein Magier, für ihn war das so
gut wie unmöglich, genauso wie für Dajana. Also Johannes und
Alay.
Nachdem ich auch meine Hose einigermaßen
abgetrocknet hatte, überlegte ich. Wo konnte man zwei gefährliche
Gefangene, Magier, die schwer bewacht werden mussten, unterbringen? Bei
den Zelten vielleicht. Nein, dachte ich. Zu große Gefahr, falls sie
sich befreiten. Es musste eine abseits gelegene Stelle sein, schwer zu
erreichen, weit weg von den Arbeitern, aber mit genug Platz für eine
große Gruppe Hexer...
Mir fiel etwas geeignetes ein.
Es war eine alte Werkstatt, deren Betrieb man
jedoch eingestellt hatte, weil sie an einer ungünstigen Stelle stand.
Bei heftigen Regenfällen wurde sie regelmäßig überflutet.
Man hatte die Schmiede also in ein anderes Gebäude verlegt und das
alte einfach vor sich hinfaulen lassen. Wegen dem misslichen Standplatz
gab es auch keine anderen Häuser in weiter Nähe. Nur wenige Pfade
führten durch den Sumpf zu diesem gottverlassenem Ort, die alles andere
als sicher waren. Neue wurden nicht angelegt, da das keinen Sinn hatte.
Woher ich das alles wusste? Keine Ahnung.
Ich wusste es einfach, die Informationen warteten in meinem Verstand, jederzeit
abrufbereit. Ich nahm an, dass ich sie unbewusst aufgenommen hatte, während
meiner Zeit als willenloser Sklave der Hexer. Es wunderte mich nur, dass
ich so viel wusste. Wieder kam die Frage auf, wie lange ich eigentlich
schon hier war.
Egal. Jedenfalls schien sich dieses riesige
Haus hervorragend als Gefängnis zu eignen. Stabile Mauern, keine Fenster
und nur ein Eingang, in der Mitte von ausgedehntem Sumpfgebiet liegend,
erinnerte es an eine einsame Insel, die man nur schwer betreten konnte.
Oder verlassen.
Es war Abend, leichter Regen fiel nieder und
der Himmel war wieder einmal trist grau. Ich war nass bis auf die Knochen,
fror und fühlte mich ganz erbärmlich. Gelegentliches Niesen legte
den Verdacht nahe, dass ich mich erkältet hatte - wieder etwas, das
meine Aufgabe erschwerte. Vor mir lag eine stumpfe Wasserfläche, hier
und da von Pflanzen unterbrochen, die kühn in die Höhe ragten,
um am nächsten Tag vom Wind und Regen endgültig gebrochen zu
werden. Ich stand auf dem letzten Flecken festen Bodens und schaute niedergeschlagen
auf den fernen Schatten des Hauses, das durch den Regenfall nur verschwommen
zu erkennen war. Die Sonne, eine kleine, orangefarbene Scheibe, hatte kaum
mehr Kraft, um sich auf dem Wasser zu spiegeln.
Ich musste da durch, herausfinden, ob meine
Freunde sich im Haus befanden, irgendwie mit ihnen in Kontakt treten, unbemerkt
wieder verschwinden und Dajana holen. Alles, bevor die Sonne unterging.
Ein Kinderspiel, versuchte ich mir einzureden. Leider war ich Realist und
meine Zukunftsaussichten deprimierten mich zutiefst. Keine Disziplin der
Welt konnte helfen, wenn Müdigkeit und Verzweiflung die Seele ergriffen.
Da passierte etwas, das mich wieder der Göttin
gemahnte, der ich in meiner Vergangenheit wohl gegenüber gestanden
hatte.
Schritte. Tollpatschige Schritte, durchs Wasser
stolpernd und dabei einen Höllenlärm veranstaltend. Ich reagierte
völlig instinktiv, duckte mich und suchte ein Versteck zwischen einigen
Rohrpflanzen. Der Regen, den ich vor einem Augenblick noch verwunschen
hatte, gab mir jetzt Deckung. Regungslos im Schlamm kauernd, hielt ich
fast den Atem an und schärfte alle Sinne. Die Gestalt war kein Hexer,
doch das hatte ich schon dem Hören nach entschieden. Kein Hexer machte
solchen Lärm. Es war ein Arbeiter, ein in Lumpen gekleideter Junge.
Jetzt verstand ich, warum er so unbeholfen ging: ein großer Korb
in seinen Händen machte jede Bewegung zu einem gefährlichen Wagnis.
Ausrutschen und hinfallen war bei diesen Bedingungen nicht besonders schwer.
Aber was wollte er hier, fragte ich mich verwundert.
Was suchte ein Sklave hier in diesem Ödland und was war in diesem
Korb?
Er kam auf mich zu, besser gesagt hatte er
wohl vor an meinem Versteck vorbeizugehen und sich zum regenverhangenen
Haus zu begeben. Da ich eine Chance für mein Vorhaben sah, dachte
ich nicht einmal daran, ihn so ohne weiteres gehen zu lassen. Stattdessen
wartete ich ruhig, bis er ganz nah dran war und stand dann auf. Er hielt
abrupt an, konnte keinen festen Halt auf dem Boden finden und rutschte
aus. Ich war schnell; kaum hatte er erschrocken die dunklen Augen aufgerissen,
im entsetzten Verstehen, dass sein Auftrag gescheitert war, da war auch
schon ich zur Stelle und hielt ihn fest, half ihm sein Gleichgewicht wiederzufinden.
In seinem Korb klimperte es.
Als er wieder alleine stehen konnte und ich
ihn losließ, verging ein stummer Moment, in dem wir uns beide sorgfältig
musterten. Er war wirklich ziemlich jung, höchstens fünfzehn
Jahre alt, und trotz der Droge wirkte er aufmerksam und auf jugendliche
Art neugierig. Das lag allerdings nur an seinen Augen, die nicht den dumpfen
Ausdruck hatten, den alle anderen Sklaven besaßen. Ich erriet mehr,
als das ich es wusste, dass er erst seit kurzer Zeit der Droge unterlag
und deshalb noch nicht sein ganzes Selbst verloren hatte. Dafür sprach
auch, dass er von sich selbst aus sagte:
"Danke." Das war ein Wort, das ich noch von
keinem anderen Arbeiter gehört hatte. Dementsprechend war ich ein
wenig erstaunt es von diesem zu hören.
"Gern geschehen", erwiderte ich schließlich.
Der Junge fragte nicht, was ich hier zu suchen hatte, natürlich nicht,
denn auf solch eine Idee würde kein Arbeiter je kommen. Er machte
Anstalten an mir vorbeizugehen, ganz selbstverständlich, denn mit
diesem einfachen Wortwechsel war seiner Meinung nach alles gesagt. Meiner
Meinung nach nicht.
"Warte." Es war ein Befehl, also gehorchte
er automatisch. Doch er wirkte mäßig überrascht. Ich ließ
ihm keine Zeit zum Überlegen. "Was ist deine Aufgabe?", fragte ich
barsch.
"Ich überbringe den Herren Nahrung",
antwortete er. Ach, tatsächlich? Mein Interesse stieg.
"Den Herren in dem Gebäude da hinten?"
"Ja." Also hielten sich dort tatsächlich
Hexer auf, viele, nach dem Ausmaß des Korbes zu urteilen.
"Auch den Gefangenen?", riskierte ich es zu
fragen.
"Ja." Treffer, dachte ich. Doch äußerlich
zeigte ich keine Reaktion.
"Gut. Dann geh zum Haus." Er setzte sich in
Bewegung, immer noch schwerfällig und langsam wegen des Gewichts seiner
Last. Ich folgte ihm ungeduldig und sah wieder hoch. Sehr viel Zeit blieb
mir nicht. "Gib mir den Korb", befahl ich also. Der Junge wurde misstrauisch
und umklammerte das monströse Ding fester. "Ich will dir doch nur
helfen!", sagte ich, doch er weigerte sich immer noch stumm. Ich seufzte.
"Also gut - ich habe den Auftrag diesen Korb zu den He...rren zu bringen,
doch du musst mir den Weg weisen." Ich traute ihm durchaus zu, mich "Warum"
zu fragen, aber er tat es zum Glück nicht und so blieb es mir erspart,
ihn mit Gewalt zwingen zu müssen. Nach kurzem Zögern übergab
er mir tatsächlich den Korb der wirklich schwer war und alles andere
als bequem zu tragen - und ging voraus, auf Wegen, die unter dem Wasser
unsichtbar waren. Ich folgte ihm und überlegte, wie gut solche Zufälle
doch waren.
Dann entsann ich mich der Götter und
glaubte nicht mehr an einen Zufall.
Es dauerte gar nicht so lange das Haus zu
erreichen, wie ich befürchtet hatte. Die Entfernung war nicht leicht
einzuschätzen unter solchen Wetterbedingungen. Der Regen hatte inzwischen
so gut wie aufgehört, nur noch ab und zu fielen kleine Tropfen aus
dem Himmel und kräuselten die Wasseroberfläche.
Das Gebäude war noch größer
als ich gedacht hatte. Ein steinerner Gigant, ragte er finster gegen den
Abendhimmel auf. Doch selbst dieser Anblick schaffte es nicht, mich einzuschüchtern.
Dazu hatte ich gar nicht die Zeit.
In einiger Entfernung zum Haus hieß
ich den Jungen anzuhalten, bedankte mich für seine Hilfe und sagte,
dass es von nun an meine Aufgabe, meine Verantwortung war. Er musterte
mich beunruhigend lange und was sich dabei hinter seiner Stirn abspielte,
konnte ich nur vage erahnen. Doch schließlich akzeptierte er es,
drehte sich um und ging den Pfad zurück, den ich mir hoffentlich gut
genug gemerkt hatte, um ihn später allein zu bewältigen. Ich
zwang mich ein wenig zu warten, obwohl ich vor Ungeduld fast schon fieberte.
Dann, als ich mir einigermaßen sicher war, dass der Junge mich schon
vergessen hatte, setzte ich den Korb auf dem Boden ab und öffnete
ihn behutsam.
Dampfende Wärme stieg davon auf und ein
würziger Geruch. Vorsichtig, damit man später nicht bemerkte,
dass sich jemand daran vergriffen hatte, durchsuchte ich den Inhalt des
Korbs: verschieden große Behälter, eingewickelt in ein raues
Material, das vermutlich aus Pflanzenfasern bestand und als Schutz fungieren
sollte. Welches davon war für die Gefangenen bestimmt?
Nach sorgfältigem Prüfen und Überlegen
kam ich zu dem Entschluss, dass dafür nur der braune Topf mit salatähnlichem
Inhalt in Frage kam. Salatähnlich, weil das braun-grüne
Zeug nicht wirklich nach Salat aussah, sondern eher nach einer Mischung
zwischen Regenwürmern und Baumblättern. Es roch dementsprechend
sehr... vielversprechend, doch es war immerhin lauwarm, wofür man
in diesem Klima dankbar sein musste. Ich war inzwischen so hungrig, dass
ich alles gegessen hätte und es fiel mir sehr schwer, das Essen unbehelligt
zu lassen. Doch ich hatte mich unter Kontrolle und packte alles wieder
ein, außer dem braunen Topf.
Dann förderte ich das schmutziggelbfarbene
Blatt einer Sumpfblume zutage, welches ich nach meinem unfreiwilligen Bad
eingesteckt hatte. Ich hatte vorgehabt, eine Botschaft zu schreiben, die
ich dann irgendwie den Gefangenen zukommen lassen wollte. Das Essen bot
die ideale Möglichkeit dazu und zufälligerweise - dachte ich
mit gewisser Ironie - würde das Blatt in diesem Salat nicht bemerkt
werden. Natürlich würde daraus nichts werden, wenn die Hexer
ihre Gefangenen nicht aus den Augen ließen, aber ich setzte darauf,
dass nach all der Zeit der Bewachung ihre Aufmerksamkeit nachgelassen hatte
und sie sich ausschließlich dem Essen widmen würden.
Somit verließ ich mich ganz auf - Schicksal?
Die Götter? Auf irgendetwas außerhalb meiner Reichweite.
Die Nachricht ritzte ich mit einer weiteren
Pflanze in das Blatt - mithilfe eines Grashalms, der überaus scharf
war, Schneidezahngras genannt. Ich fasste mich kurz und schrieb nur das
Nötigste:
"Hab Dajana und Gaya in Sicherheit
gebracht. Wo ist Julian? Nächste Nacht bereit zur Flucht? Cycil."
Ich hoffte, dass sie es einigermaßen
entziffern konnten. Würden sie überhaupt bemerken, dass es eine
Nachricht war? Es war gut möglich, dass das Blatt einfach mitgegessen
wurde. Zweifel an meinem Tun regten sich tief in mir, aber mein Verstand
schloss sie sofort aus. Ich war zu weit gekommen, um zu zweifeln.
Ich versteckte das Blatt und mit ihm den Schneidezahngrashalm
im Essen. Es war mir nur zu gut bewusst, was passieren würde, wenn
ein Hexer das las. Daher achtete ich sehr darauf das Essen wieder ordentlich
im Korb zu verstauen, so dass es den Eindruck machte, als sei nie etwas
geschehen. Wäre mir ein Gebet eingefallen, hätte ich wahrscheinlich
gebetet.
Dann beschäftigte ich mich mit mir selbst.
Man durfte mich nicht erkennen, auf gar keinen Fall. Also rieb ich mir
Schmutz ins Gesicht - eine sehr unangenehme Prozedur, wie man sich leicht
vorstellen kann - und verwuschelte mein Haar, das nach dieser Behandlung
wie ein wilder Strauch aussah. Ich wusste, dass man sich mein Gesicht nur
schwer einprägen konnte und hoffte, dass das genügen würde.
Derart vorbereitet, hob ich den Korb auf,
brachte ihn in eine einigermaßen bequeme Position und ging schließlich
auf das Gebäude zu. Mein Herz klopfte erstaunlicherweise nicht schneller
als sonst auch und das einzige Anzeichen von Unruhe war ein kaltes Kribbeln
im Nacken. Mit ausdruckslosem Gesicht hielt ich vor der großen Tür
an und klopfte - eine recht spitzfindige Prozedur, da ich den Korb mit
beiden Händen hielt und ihn auch nicht abstellen durfte. Mit ein wenig
Geschick war es dann geschafft und ich stand auf der Schwelle. Gespannt,
wartend.
Die Tür wurde ohne Vorwarnung aufgerissen
und ich stand einem jener Männer gegenüber, die zu hassen ich
allen Grund hatte und die zu töten mein Blut eigentlich schwören
sollte. Er warf einen Blick auf mich, einen weiteren auf den Korb in meinen
Händen und ließ mich dann hinein. Drinnen war es taghell, denn
unzählige Lampen verbreiteten warmes, gelbes Licht. In ihrem Schein
zählte ich an zwei Dutzend der Hexer, die sich in dem großen
Raum aufhielten. Meine Rechnung ging offensichtlich auf: sie sahen allesamt
gelangweilt aus und nicht besonders aufmerksam. Dafür erntete ich
großes Interesse, als sie meine Last sahen, denn sie ließen
alles stehen und liegen und versammelten sich um mich herum. Der, welcher
mir die Tür geöffnet hatte, nahm mir den Korb ab und ging damit
zu einem der Tische rüber, die an der linken Wand standen. Sogleich
war ich vergessen und alle konzentrierten sich auf das Essen, dessen Duft
sich umgehend im Raum verbreitete.
Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte,
also blieb ich einfach an der Tür stehen und versuchte den Eindruck
zu erwecken, dass ich ein Teil der Umgebung war, ebenso geistlos wie ein
Stuhl. Währenddessen musterte ich meine Umgebung.
Wie schon erwähnt, befanden sich die
Tische und Stühle auf der linken Seite des Raumes. Rechts stapelten
sich große Kisten; teils moderten sie vor sich hin, teils dienten
sie als Möbelstücke. Der Boden war dreckig und ich sah einige
Insekten, die sich dort wie zu Hause fühlten. Die runden, gelben Lampen
standen und hingen an allen möglichen und unmöglichen Stellen,
daher gab es die verwirrendsten Schatten, die wie lebende Wesen hin und
her huschten, falls eine Lampe mal angestoßen wurde. Im hinteren
Teil des Gebäudes sah ich eine morsche Treppe hoch führen. Wenn
die Gefangenen irgendwo waren, dann dort, dachte ich mir.
Inzwischen hatten die Hexer die Behälter
geöffnet und das Essen auf dem Tisch verteilt. Ich hielt unauffällig
nach dem braunen Topf Ausschau und entdeckte ihn am Rande eines Tisches
stehen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als ein Hexer sich den
Salat vornahm und etwas davon aß. Doch er spuckte ihn gleich wieder
mit angewiderter Miene aus und schob die Schüssel beiseite. Ich hörte
nicht, was er sagte, aber die anderen stimmten ihm zu. Einer der ihren
stand auf, nahm den Topf und ging mit ihm nach hinten. Wie ich es mir gedacht
hatte, stieg er die Treppe hoch und verschwand dann in einem Gang.
Jetzt blieb mir wirklich nichts anderes übrig
als zu warten.
Qualvolle Zeit verstrich, während der
ich regungslos am Eingang verharrte und mich zwang den Blick auf den Boden
zu richten, statt unablässig zur Treppe zu spähen. Ich beobachtete
mit mildem Interesse eine mutige Kakerlake, die sich in Gefahrgebiet begab
und nahe meinen Stiefeln die Gegend auskundschaftete. Ich verscheuchte
sie nicht, denn sie bot wenigstens so etwas wie Unterhaltung, aber nachdem
ihre Fühler meinen Fuß gestreift hatten, zog sie sich hastig
zurück und schlüpfte in den Riss einer Kistenwand. Ich überlegte
gerade, ob es wohl auffallen würde, wenn ich mich hinsetzte, als eine
Stimme mich rief.
"Sklave!", rief ein Hexer plötzlich.
"Komm her!" Was konnte er von mir wollen, fragte ich mich äußerst
beunruhigt, während ich mit gesenktem Blick seiner Aufforderung nachkam.
Ich blieb stehen, als seine Stiefel in mein Blickfeld gerieten und wartete
ab, was da meiner harrte.
"Ja, Herr?" Demütig, leise gesprochen.
"Was hast du auf dem Hinweg gemacht?" Kalt
lief es mir den Rücken runter. Gab es da noch eine Aufgabe, die ich
hätte erledigen müssen? Etwas, das er erledigt wissen wollte?
Oder hatten sie mich gar durchschaut? Trotz des inneren Aufruhrs war meine
Stimme immer noch völlig emotionslos.
"Ich habe den Krug getragen, Herr", antwortete
ich. Ein heftiger Schlag traf mich ins Gesicht; ich wankte und wäre
beinahe hingefallen.
"Das weiß ich, du Dummkopf!" Mein Gesicht
brannte und ich widerstand nur schwer der Versuchung zurückzuschlagen.
Wieder sagte ich mir das magische Wort vor: Disziplin. "Aber was hast du
sonst gemacht?"
"Ich... ich weiß nicht, was ihr meint,
Herr." Ich hielt es für sicherer meine Unwissenheit zuzugeben, anstatt
zu lügen. Ich war schließlich ein Sklave, und normalerweise
unterschätzt man Sklaven, hält sie ohnehin für dumm und
unfähig. Darauf vertraute ich.
Ein erneuter Schlag. Diesmal trieb mich der
Schwung einige Schritte zurück, bis ich mein Gleichgewicht wiederfand.
Wollte er mich provozieren?
"Irgendetwas musst du ja gemacht haben, Tölpel,
denn sonst hätte es nicht so lange gedauert und unser Essen wäre
noch warm!" Ich atmete erleichtert auf.
"Der Krug war schwer und der Weg...", fing
ich an, doch diesmal traf mich sein Hieb völlig unerwartet unter dem
Kinn. Dunkle Schmerzen explodierten in meinem Kopf. Ehe ich wusste, was
mir geschah, lag ich auf dem Boden und schluckte mein eigenes Blut. Der
Impuls aufzuspringen und diesem Bastard zu zeigen, was wirkliche Schmerzen
waren, durchschoss mich, doch gleichzeitig war da etwas, das mich runterdrückte
und jede Reaktion vereitelte. Wie eine Stimme flüsterte mir die Vergangenheit
zu, liegen zu bleiben. Ihre Macht war überwältigend, ich konnte
mich nicht bewegen. Eine Lektion, die ich vor langer Zeit gelernt hatte,
war Geduld zu haben. Sie tauchte jetzt wieder aus meinem Gedächtnis
auf und zwang mich ihr zu gehorchen.
Also blieb ich liegen.
Die Stiefel kamen vor meinem Gesicht zum Stillstand.
Ich sah genau den Schmutz daran und der Gestank von Fäulnis schlug
mir in die Nase. Mein Körper verkrampfte sich, metallisch schmeckte
das Blut in meinem Mund.
"So, der Krug war also schwer?", zischte der
Hexer. "Soll ich dir dein Gesicht eindrücken, damit du mal erfährst,
was wirklich schwer ist?" Ich hörte undeutlich andere Stimmen im Hintergrund.
"Nein, das will er wohl nicht!" Lachen. Ich atmete bemüht flach und
spannte meine Muskeln an. Falls dieser Hexer wirklich Ernst machte, hatte
ich keine Wahl mehr...
Der Stiefel hob und senkte sich. Berührte
meinen Rücken, nachdrücklich und ermahnend. Der Druck verstärkte
sich und ich biss die Zähne zusammen. Meine Finger scharrten über
den Boden.
Kontrolle, bis zum letzten Atemzug.
Dann die Erleichterung. Nach einem letzten
Stoß nahm der Hexer seinen Fuß von mir und ich holte wieder
tief Luft. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn, aber ich wagte
es nicht ihn wegzuwischen. Noch war es nicht ausgestanden.
"Steh auf, Waschlappen. Dein Angstgestank
verdirbt das Essen!" Beleidigungen. Damit konnte ich ebenfalls umgehen.
Bedächtig stemmte ich mich hoch, ignorierte die pochenden Schmerzen
im Gesicht und das leise Knacken des Rückens. Meine Beine gaben nicht
unter mir nach und schließlich stand ich wieder senkrecht. Blut tropfte
auf den Boden und hinterließ dunkle Flecken.
"Warum habe ich dich geschlagen, Sklave?",
fragte der Hexer.
"Weil ich es verdient habe, Herr", antwortete
ich.
"War es eine ungerechte Behandlung?"
"Nein, Herr."
"Soll ich dich noch mal schlagen?"
"Wenn es euer Wunsch ist, Herr", murmelte
ich abwesend und sah wie gebannt auf den Boden.
Tropf. Tropf.
"Wenn es mein Wunsch ist!", lachte der Hexer
auf. "Habt ihr das gehört? Wenn es mein Wunsch ist! Das ist doch ein
guter Junge! Wirklich gut! Wenn es mein Wunsch ist..." Er musterte mich
amüsiert, doch ich bemerkte es kaum. Warum nur sprach mich das so
an?
Blut auf dem Boden. Sickerte in Rinnsälen,
bildete dunkle Lachen, immer mehr, immer weiter breitete es sich aus, bedeckte
die ganze helle Fläche... Rot auf Weiß, ein bekanntes Muster,
so furchtbar bekannt. Und Schreie, Schmerzen, von außen und von innen.
Überall waren sie, man konnte ihnen nicht entkommen.
Oh, bei den Allmächtigen Fünf,
gibt es keinen Ort mehr auf dieser Welt, an dem kein Blut strömt?..
Man schüttelte mich grob. Ich wankte und
riss dann die Augen auf. Der Hexer musterte mich prüfend, mit zusammengezogenen
Augenbrauen und hielt mich dabei an meinen Schultern fest. Obwohl sein
Griff unangenehm grob war, war ich trotzdem dankbar dafür, denn ansonsten
wäre ich wohl wieder umgefallen. Ich fühlte mich erschreckend
schwach.
"Mann, ich habe dir wohl mehr zugesetzt als
ich dachte, Junge", murmelte er und schob mich in irgendeine Richtung.
Meine Füße gehorchten nicht recht meinem Willen, ich spürte
sie nicht einmal richtig, aber irgendwie schaffte ich es dennoch mitzukommen.
Ich wurde auf eine Kiste gedrückt und dann losgelassen. Erleichtert
lehnte ich mich zurück und sog gierig die Luft ein. Stieß sie
zischend wieder aus. Mehrere male, bis ich wieder ein wenig Kraft in meinem
Körper spürte. Dann öffnete ich die Augen - obwohl ich gar
nicht wusste, wann ich sie überhaupt zugemacht hatte und sah mich
wieder dem Hexer gegenüber. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch
verstärkte sich abrupt. Aber er machte keine Anstalten auf mich loszugehen.
Stattdessen kratzte er sich am Kopf und betrachtete mich eindringlich.
Ich wusste nicht, wonach er suchte und es interessierte mich in dem Augenblick
auch nicht besonders. Mir war alles egal. Endlich wandte er seinen Blick
ab.
"Bleib sitzen, Sklave. Und wag es ja nicht,
noch mal in Ohnmacht zu fallen!", knurrte er. "Das stört beim Essen."
Abrupt drehte er sich um und ging zu den anderen. Ich blieb sitzen und
konzentrierte mich darauf, wieder alle meine Körperteile spüren
zu können. Als das geschafft war und ich keine Angst mehr hatte zu
ersticken oder umzufallen, schloss ich wieder die Augen, diesmal bewusst,
und dachte eine Zeitlang an gar nichts. Erholte mich, sowohl physisch als
auch psychisch.
Erst nach dieser Ruhepause fühlte ich
mich einigermaßen in der Lage vernünftig nachzudenken. Immer
noch war ich erschüttert von diesem Erlebnis. Diese Bilder hatten
mich überflutet, meinen Verstand in Besitz genommen und mir keine
Chance gegeben, mich dagegen zu wehren. Ein kalter Schauder durchlief meinen
ganzen Körper als ich mich ihrer entsann. So viel Blut! Verdammt,
was war geschehen, dass ich solche traumatisierte Erinnerungen zurückbehalten
hatte? Warum war meine Vergangenheit voll von Dingen, die mich mit ihrer
Erinnerung zutiefst entsetzten?
Als ich mein Gesicht befühlte, war es
klebrig von meinem Blut und sehr kalt. Wie mein ganzer Körper schien
es förmlich zu Eis erstarrt zu sein. Selbst die Schmerzen erreichten
mich nur gedämpft, von weither. Wie durch eine Betäubung hindurch.
Mein Kopf schmerzte. Dumpf, aber ich erahnte
schon die Ausmaße der Kopfschmerzen, die sich da ankündigten.
In Gedanken fluchte ich heftig und ausführlich. Als ob meine Lage
nicht schon schlimm genug wäre! Jetzt hatte ich noch mehr verworrenes
Zeug aus der Vergangenheit, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen,
der sich ohnehin schon zerbrochen anfühlte!
Dabei hatte ich doch noch so viel zu tun...
Ein Seufzen.
Ich lehnte mich wieder zurück und versuchte
eine Position zu finden, bei der sich die Kanten der Kiste nicht so schmerzhaft
in mein Hinterteil bohrten.
Es dauerte zum Glück nicht mehr lange,
dann waren die Hexer mit dem Essen fertig. Ich schreckte aus einer Art
Wachschlaf auf, als man mich rief. Da ich keine Lust hatte, wieder geschlagen
zu werden, rappelte ich mich hastig auf und lief fast zu den Hexern. Dort
nahm ich den Korb wieder in Empfang, der mit den leeren Behältern
immer noch genauso viel wog wie vorher - jedenfalls schien es mir so. Ich
erschrak, als mir einfiel, dass ich gar nicht gesehen hatte, wie man den
braunen Topf zurückbrachte, aber dann entdeckte ich ihn obendrauf
im Korb. Anscheinend war ich wirklich eingeschlummert.
Das Gebäude verließ ich ohne weitere
Zwischenfälle. Bis auf die Knochen erschöpft, hungrig und bar
jeder Energie stand ich draußen, in tiefer Dunkelheit, und musste
einen Sumpf überqueren, über einen Pfad, den ich nur einmal begangen
hatte. Falls der Mond am Himmel stand, verdeckten die Wolken ihn, ebenso
wie die Sterne. Mutlos betrachtete ich die schwarze, stille Oberfläche
vor mir und spürte die große Versuchung einfach aufzugeben,
den Korb fallen zulassen und sich hier auf der Stelle hinlegen. Schlafen.
Nie wieder die Augen aufmachen...
Dajana. Der Name war ein elektrisierender
Funke durch meinen Körper. Entsetzt wurde mir bewusst, dass es Nacht
war, Nacht! Die Müdigkeit wich schlagartig, die Schmerzen und
der Hunger waren vergessen. Mit neuer Kraft stürmte ich los, auf dem
Weg, den ich nicht zu sehen brauchte, denn ich erinnerte mich.
Jeder Schritt klang in meinem Kopf als ihr
Name nach. Jeder Atemzug rief mir ihr goldenes Haar ins Gedächtnis,
wie es im Wind wehte. Mein Hals wurde trocken, wenn ich an ihre ausdrucksvollen,
grünen Augen dachte.
Götter, ich kam zu spät! Ich wusste
es. Es war Nacht, verflucht sollte sie sein, dunkle Nacht und Dajana...
Nein, ich wollte nicht einmal daran denken. Ich konnte nicht! Ich gestattete
es mir nicht das zu denken. Vorwärts, vorwärts, das war es, was
zählte.
Jeder Schritt, jeder Atemzug, jeder Gedanke...
Vorwärts!
© Martha
Wilhelm
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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