Nebelwald von Klaus-Peter Behrens
3. Kapitel

"Und du bist dir wirklich sicher?" Zweifelnd sah Monjya Michael aus ihren grünen, schräg stehenden Augen an. Die goldenen Funken darin tanzten im Licht der untergehenden Sonne, und Michael mußte sich eingestehen, dass seine Entscheidung im Wesentlichen darauf beruhte, dass er dieses zauberhafte Geschöpf beeindrucken wollte. Seit seiner Scheidung war er zum ersten Mal im Begriff, sich wieder richtig zu verlieben. Irgendetwas sagte ihm aber auch, dass es klüger wäre, das vorläufig noch nicht zu erwähnen.
"Klar bin ich das", erwiderte er möglichst selbstsicher, obwohl ihm alles andere als wohl zumute war. Den Schilderungen der Waldelben nach zu urteilen, war er im Begriff, sich auf ein Himmelfahrtskommando ohne Rückfahrkarte zu begeben. Außerdem war noch nicht einmal sicher, ob der Stein wirklich die gewünschte Wirkung haben würde. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Während er sich zur Seite drehte, um den Sonnenuntergang zu bewundern, staunte er erneut, mit welcher Perfektion sich die Waldelben ihrer Umgebung angepasst hatten. Der Berg, auf dem sie gelandet waren, war hohl. Generationen von Elben hatten die natürlichen Höhlen zu einer perfekten Stadt ausgebaut. In regelmäßigen Stockwerken waren große Plattformen an der Außenseite befestigt worden, von denen sich ein phantastischer Ausblick auf die Umgebung bot. Auf einer dieser Plattformen hatten sie sich nun zurückgezogen, nachdem Michael so entschlossen seine Bereitschaft zum Kampf gegen die Widersacher angekündigt hatte. Die anschließende Diskussion war lang gewesen, doch schließlich hatten sie sich auf einen Plan geeinigt, der am ehesten Erfolg versprach. Leider hatte der Plan einen kleinen Haken, sollte er fehlschlagen, würde Michael keinen weiteren Sonnenuntergang mehr erleben.
"Ich habe dir doch erzählt, wie ich hier gelandet bin" fuhr er fort. "Vielleicht aktiviert diese Energiequelle ja zugleich meinen Schlüssel und öffnet mir so das Tor zu meiner Welt."
"Du hast doch gehört, was Wogar gesagt hat. Die Zauber werden sich gegenseitig zerstören."
"Möglich, aber vielleicht gelingt es mir vorher, einen Weg zurück in meine Welt zu finden. Im Moment ist dieser Stein nämlich genauso nützlich wie die Grippe. Da kann ein wenig herum experimentieren nicht schaden. Oder hast du eine bessere Idee, wie ich zurück gelangen könnte?"
Monjya warf ihm einen undefinierbaren Blick zu.
"Warum willst du eigentlich unbedingt zurück? Gefällt es dir denn nicht bei uns?", erwiderte sie und schnitt damit ein Thema an, das Michael lieber vermieden hätte. Doch Monjya hatte nicht die Absicht, das Thema wieder fallen zu lassen. Im Gegenteil. Entschlossen rückte sie ein wenig näher, so dass Michael zu schwitzen begann, obwohl die Temperatur angesichts der heranbrechenden Nacht alles andere als warm war. Energisch bemühte er sich, nicht in ihre abgrundtiefen grünen Augen zu sehen. Womöglich hätte er sonst etwas von sich gegeben, das ihn in ernste Schwierigkeiten bringen könnte. Immerhin kannte er die Elbin gerade einmal ein paar Stunden und hatte keine Ahnung, wie eine Demonstration dessen, was ihm hier besonders gut gefiel, aufgefaßt werden würde. Vielleicht wurden in dieser seltsamen Welt aufdringliche Männer einfach an die Drachen verfüttert. Die Biester sahen verdächtig gut genährt aus. Vorsichtshalber entschloss er sich daher zu einer unverfänglichen Antwort.
"Es ist...", er zögerte, während er sich verlegen mit der Hand durchs Haar fuhr, "anders als in meiner Welt. Das ist schwer zu erklären." Hilflos zuckte er mit den Achseln. Monjya zog einen Schmollmund und sah ihn ein wenig enttäuscht an. Zu Michaels Überraschung hatte sie anscheinend eine andere Antwort erwartet. Doch nun war die Gelegenheit unwiderruflich vorbei. Monjya hatte sich wieder abgewandt und warf einen nachdenklichen Blick auf die Landschaft unter ihnen, die nun endgültig im Dunklen versank.
"Wie du meinst", murmelte sie schließlich leise, "wir sehen uns morgen." Mit einem Nicken ließ sie Michael allein auf der Plattform zurück, der sich innerlich für seine Vorsicht verfluchte. Schließlich suchte auch er sein ihm zugewiesenes Schlafgemach auf und machte es sich so gut es ging auf der Strohmatratze bequem. "Auf was habe ich mich da bloß eingelassen", murmelte er noch, dann übermannte ihn ein tiefer, traumloser Schlaf.

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"Die Gegend ist wirklich das Letzte!"
Frustriert sah Michael sich um. Vor einer guten halben Stunde, noch während der Morgendämmerung, hatte der Drache Monjyas sie in einer schlammigen Lichtung inmitten eines Waldgebietes abgesetzt, nachdem die Elben ihn zuvor mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen hatten. Michael hatte am Vorabend zwar in den Plan eingewilligt, sich von der unwegsamsten Seite her zu zweit an die Feste anzuschleichen, allerdings hatte er da auch noch nicht geahnt, wie unwegsam das Gelände wirklich sein würde. Nun befand er sich mitten in einem dichten Wald, den vermutlich noch nie ein Lebewesen betreten hatte, jedenfalls keines, das sich vorzugsweise auf einer Straße vorwärts zu bewegen pflegt. Fluchend durchtrennte er mit seinem Schwert eine weitere Liane und versuchte wenigstens eines der Schlammlöcher auszulassen, aus denen der Waldboden überwiegend zu bestehen schien. Zu allem Unglück bestand der Wald aus Bäumen, deren Stämme so dick waren, dass selbst fünf Männer kaum ausgereicht hätten, um einen einzigen Stamm zu umfassen. Ihr dichtes Blätterdach führte dazu, dass Michael und Monjya am Boden mehr oder weniger im Dunklen durch das unwegsame Gelände stolperten.
"Wenn du weiter so einen Lärm machst, können wir unsere Ankunft auch gleich mit Fackelbeleuchtung anmelden", zischte die Elbin ungehalten.
"Dann könnte man hier unten wenigstens etwas erkennen", gab Michael bissig zurück. Im Gegensatz zur Elbin, die sich mit einer natürlichen Anmut durch das unwegsame Gelände bewegte, erinnerte Michaels Vorwärtskommen eher an einen schlaftrunkenen Bären. Aber das berührte ihn nicht sonderlich. Er war eben ein Stadtmensch, tröstete er sich. Beinahe wäre er in Monjya hinein gerannt, die stehen geblieben war und mit verschränkten Armen auf ihn wartete.
"Tut mir leid, wenn ich etwas ungehalten war, aber in diesem "Loch" leben eine Menge höchst unerfreulicher Kreaturen, deren Aufmerksamkeit wir lieber nicht auf uns lenken sollten." Zu Michaels Unbehagen drückten ihre Augen echte Besorgnis aus.
"OK, ich habe es kapiert." Er nickte zustimmend, während er den dichten Wald ringsherum musterte. Hier hätte sich eine ganze Armee verstecken können, ohne dass er das bemerken würde. Kein ermutigender Gedanke. "Ich gebe mir mehr Mühe, aber ich bin kein Urwaldforscher, vergiß das nicht. Das hier ist neu für mich."
Monjya lächelte zum ersten Mal wieder, was in Michael ein Gefühl erzeugte, als würde die Sonne hier unten aufgehen.
"Das ist unmöglich zu übersehen", erwiderte sie mit einem Zwinkern in den Augen. Dann drehte sie sich abrupt um und setzte ihren Weg fort. Michael folgte, nunmehr deutlich darum bemüht, weniger Lärm zu verursachen. Nachdem sie sich auf diese Weise eine kleine Ewigkeit durch das Dickicht gekämpft hatten, wurde es zum ersten Mal ein wenig heller. Erfreut stellte Michael fest, dass das Blätterdach nun an einigen Stellen durchbrochen war, da die Bäume nicht mehr ganz so dicht zusammenstanden. Das war doch wenigstens eine kleine Verbesserung.
"Wir machen hier eine kleine Rast. Es bringt nichts, wenn wir völlig verausgabt unser Ziel erreichen." Geschmeidig setzte sich Monjya am Fuße einer der Baumriesen auf die Erde und beförderte aus ihrer Gürteltasche ein steinhart aussehendes Brot zutage, das sie in zwei Teile brach. "Nimm schon, oder willst du, dass dein knurrender Magen uns verrät."
"Später, erst einmal muß ich für kleine Abenteurer."
"Geh nicht zu weit weg", mahnte Monjya, doch Michael war bereits in dem dichten Gebüsch verschwunden. Als er zurückkehrte stellte er erstaunt fest, dass Monjya eingeschlafen war. Leise näherte er sich ihr und betrachtete die Elbin mit einem Kribbeln im Bauch. Im Schlaf war nichts von ihrer kämpferischen Art zu erkennen. Die Gesichtszüge wirkten entspannt. Eine einzelne Haarsträhne, die sich aus ihren zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren gelöst hatte, bedeckte ihr Gesicht. Erneut stellte er fest, welche Gefühle er für dieses fremdartige Mädchen empfand. Und dabei kenne ich sie kaum, dachte er während er sich bückte, um ihr die Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. "Ich bin tatsächlich verliebt", murmelte er leise. Im selben Moment schlug Monjya die Augen auf. Ein spitzbübischer Zug erschien auf ihrem Gesicht, während Michael knallrot anlief, als ihm bewußt wurde, dass die Elbin gar nicht geschlafen hatte.
"Schön das zu hören", sagte sie, dann zog sie den völlig verblüfften Michael zu sich herunter und küßte ihn leidenschaftlich. Was dann folgte, übertraf Michaels kühnste Fantasien. Als sie schließlich erschöpft nebeneinander im Moos des immer feuchten Waldbodens lagen, war Michael seit langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig glücklich.
"Wir sollten öfter Rast machen", bemerkte er mit sanfter Stimme, während er seine rechte Hand auf ihrer warmen Bauchdecke abwärts wandern ließ. Zu seiner Überraschung stieß Monjya sie jedoch zur Seite und sprang hektisch auf.
"Hörst du das auch?", fragte sie. Zwischen ihren perfekt geschwungenen Augenbrauen waren zwei steile Falten erschienen. In Windeseile streifte sie ihre Kleidung über.
"Ich höre nichts", sagte er verärgert, während er mit seiner Kleidung kämpfte, da er vermutete, dass die Elbin nur einen Vorwand gesucht hatte, um sich zurückzuziehen. Doch Monjya wirkte ernsthaft besorgt. In diesem Moment ertönte ein klagendes Winseln in der Ferne, bei dem es Michael kalt den Rücken hinunter lief. Ein Blick in Monjyas bestürztes Gesicht bestätigte ihm, dass sie genauso empfand.
"Das ist ein Pirscher", erklärte sie mit besorgter Stimme.
"Ist das ein Problem?"
Monjya nickte. "Jedenfalls dann, wenn er hinter uns her ist. Einem Pirscher kann man nicht entkommen. Er ist ein gnadenloser Jäger, und es gibt wohl abgesehen von den Drachen nichts, was nicht auf seiner Speisekarte steht. Setzt er sich einmal auf deine Fährte, wirst du ihn nie wieder los. Er hört erst auf, wenn er dich erledigt hat. Wir sollten vorsichtshalber das Tempo verdoppeln. Je mehr Distanz zwischen uns und ihm liegt, um so größer sind unsere Überlebenschancen."
Michael stöhnte. "Na schön, heben wir uns die nächste Rast eben für den Rückweg auf." Falls es einen Rückweg gibt, fügte er in Gedanken hinzu.
 

© Klaus-Peter Behrens
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