Nebelwald von Klaus-Peter Behrens
4. Kapitel

Die nächsten Stunden verlangten Michael das Letzte ab. Mehr als einmal wunderte er sich über die anscheinend unerschöpfliche Energie der Elbin. Unbeirrt rannte sie im Höchsttempo durch den Wald. Gelegentlich erklang noch immer das unheimliche Heulen in der Ferne, doch Michael vermochte nicht einzuschätzen, ob es näher gekommen war. Als Monjya am frühen Abend schließlich anhielt, fiel Michael wie ein Toter auf den weichen Waldboden. Selbst der Pirscher war ihm jetzt egal. Wie durch einen Nebel drangen die Worte der Elbin in sein Bewußtsein.
"Stell dich nicht so an, jetzt fangen die Schwierigkeiten erst an."
Das weckte neue Adrenalinreserven in ihm. Mühsam setzte er sich auf und registrierte erstmals, dass sie das Ende des Waldes nahezu erreicht hatten. Weiter vorn begann eine trostlos wirkende schwarze Ebene. Als er den Kopf weiter hob, stöhnte er entsetzt auf, als er ihr Ziel erblickte. Selbst auf diese Entfernung wirkte die Feste bedrohlich. Tiefschwarz thronte sie auf einem von steilen Flanken umgebenen Berg und überragte so die gesamte Ebene. Wie sie dort unbemerkt hinein und wieder herauskommen sollten, lag jenseits seiner Vorstellungskraft.
"Wir warten, bis es dunkel wird", erklärte Monjya, als hätte sie Michaels Gedanken erraten. "Die Dämmerung steht unmittelbar bevor."
Michael stöhnte. Er konnte die Entfernung schwer schätzen, war sich aber sicher, dass sie etliche Meilen betrug, doch Zeit zum Ausruhen blieb kaum, denn schon verblasste die Sonne am Horizont. Michael machte sich gerade zum Weitermarsch bereit, als hinter ihnen ein tiefes Knurren ertönte. Anscheinend hatte der Pirscher sie eingeholt. Langsam, mit fast schon majestätisch wirkenden Schritten, trat er aus dem Dickicht. Mit einem Sirren zog Monjya ihr Schwert und wandte sich der Bedrohung zu. Michael tat es ihr gleich, während er den Pirscher taxierte. Der Anblick war furchteinflößend. Er erinnerte Michael vom Körperbau und der Geschmeidigkeit an einen besonders kräftigen sibirischen Tiger, nur dass dieser hier über ein Gebiß verfügte, bei dem jeder Tiger vor Neid erblasst wäre. Das struppige, schwarze Fell und die roten Augen ließen ihn noch bedrohlicher erscheinen. Dieses Tier schien nur zu einem Zweck geboren worden zu sein, um zu töten.
"Jetzt wäre es an der Zeit für einen guten Plan", bemerkte Michael mit zitternder Stimme, während der Pirscher sie langsam in immer enger werdenden Kreisen umschlich.
"In so einem Fall wird improvisiert", erwiderte Monjya, die den Pirscher nicht aus den Augen ließ, das Schwert zum Zuschlagen hoch erhoben.
"Warum greift er nicht an?"
"Er versucht herauszufinden, wer von uns beiden für ihn die größere Gefahr darstellt. Den wird er zuerst angreifen." Tatsächlich schien der Pirscher zu einem Entschluss gelangt zu sein. Mit einem gewaltigen Satz griff er Monjya an. Die sprang behende zur Seite und schlug mit dem Schwert nach dem rechten Bein des Pirschers, doch der war trotzdem noch zu schnell für sie, so dass das Schwert das Bein nur streifte und ihm keine ernsthafte Verletzung zufügte. Trotzdem fauchte der Pirscher zornig auf und fegte die Elbin mit einem kräftigen Schlag seiner unverletzten Pranke von den Füßen, worauf diese sich mehrmals überschlug, bevor sie benommen liegen blieb. Michael, der wie erstarrt den blitzschnellen Schlagabtausch beobachtet hatte, registrierte, dass sich die Muskeln der gewaltigen Raubkatze spannten, deren Augen mit einem tückischen Blinzeln die Elbin fixierte. Offensichtlich beabsichtigte der Pirscher, ihr den Rest zu geben. Das konnte Michael nicht zulassen. Mit lautem Geschrei, das Schwert wild vor sich her schwenkend, stürmte er auf die Raubkatze los. Verdutzt von dem ungewöhnlichen Angriff, zögerte der Pirscher einen Augenblick, was Michael die Gelegenheit gab, einen Schlag anzubringen. Mit einem sirrenden Geräusch trennte er das linke Ohr des Pirschers sauber von seinem Schädel. Der sprang mit einem wütenden Gebrüll rasch aus der Reichweite des wild um sich schlagenden Menschen.
"Monjya, steh auf, ich kann das Biest nicht alleine besiegen", brüllte Michael aus Leibeskräften. Sein Blick irrte zwischen der benommenen Elbin und der Bestie, deren Kopfverletzung heftig blutete, nervös hin und her. Zu seiner Beruhigung rappelte sich die Elbin wieder auf und kam kampfbereit an seine Seite.
"Geben wir ihm den Rest", knurrte sie. Leider schien der Pirscher die gleichen Gedanken zu haben, denn erneut griff er mit ungestümer Wut an. Wie eine Katze mit den Pranken schlagend, versuchte er, sie von den Füßen zu bekommen. Doch diesmal war Monjya flinker und brachte ihm eine schmerzende Verletzung an der rechten Pranke bei. Auch Michael hatte sein Glück versucht, jedoch dabei beinahe sein Schwert eingebüßt. Zum Schwertkämpfer taugte er allem Anschein nicht. Inzwischen schien der Pirscher unschlüssig. Eine derart sich heftig wehrende Beute war er nicht gewöhnt. Als sich dann auch noch plötzlich ein Wurfmesser tief in seine Brust bohrte und ein zweites sein linkes Auge nur knapp verfehlte, brach er den Angriff ab. Mit einem wütenden Geheul verschwand er im Gebüsch.
"Den wären wir los."
"Nur für den Moment. Er wird wiederkommen. Die Verletzungen sind nicht tödlich. Ein Pirscher gibt nicht auf. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein. Noch einmal werden wir nicht soviel Glück haben." Energisch wischte Monjya ihr blutiges Schwert im feuchten Gras ab und machte sich bereit zum Aufbruch. Michael seufzte. "Warum werde ich bloß das Gefühl nicht los, die Büchse der Pandorra geöffnet zu haben", murmelte er ironisch, während er Monjya auf die inzwischen mondbeschienene Ebene folgte. Zu seiner Erleichterung erwies sich der Marsch jedoch als weniger anstrengend, als vermutet, und der Pirscher tauchte auch nicht wieder auf. Vielleicht mochte er keine freien Ebenen. Monjya hingegen schien in ihrem Element. Geschickt die Deckung vereinzelter, abgestorbener Bäume und der diversen Felsbrocken, die wie Murmeln verstreut über der Ebene lagen, ausnutzend, führte die Elbin sie unbemerkt zum Fuß des Berges. Als Michael den Kopf in den Nacken legte, konnte er weit oben die Wehrmauern gegen den dunklen Nachthimmel ausmachen. Wie ein Feind ragte die Feste vor ihnen auf, düster und bedrohlich. Michael sank der Mut, als er sich überlegte, was ihn in diesem finsteren Gemäuer erwarten würde, ganz abgesehen von der Frage, wie sie diese schwindelerregende Höhe überwinden sollte. Monjya hatte ihm erklärt, dass sie über einen Abwasserschacht eindringen würden. Infiltriere deinen Feind von innen, dort erwartet er dich am wenigsten, das wird ein Kinderspiel, hatte sie ihm grinsend erläutert. Doch wie so oft, lagen Theorie und Praxis wieder einmal weit auseinander. Mittlerweile hatten sie beinahe den halben Berg umkreist, doch von dem Schacht war weit und breit keine Spur zu entdecken.
"Der Eingang muß doch irgendwo hier unten sein", murmelte Monjya gereizt. Allmählich gerieten sie in Zeitverzug. Bei Sonnenaufgang würden die Drachenreiter angreifen, und bis dahin müßten sie den magischen Zugang zerstört haben. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Plötzlich blieb die Elbin stehen.
"Es wurde auch langsam Zeit", seufzte sie und wies auf eine Ansammlung dichter Büsche, die sich eng an die Felswand schmiegten. Es war das erste Zeichen von Leben auf dieser ansonsten toten Ebene. Michael runzelte die Stirn.
"Wieso ausgerechnet da?"
"Weil Pflanzen Wasser brauchen", erwiderte Monjya, die bereits das Buschwerk mit ihrem Schwert bearbeitete. Tatsächlich verbarg sich hinter dem Gewirr eine düstere Öffnung, die tief in den Berg hinein führte. Ein kleines, stinkendes Rinnsal machte deutlich, dass der Schacht immer noch in Betrieb war. Michael rümpfte die Nase.
"Ist das wirklich die einzige Möglichkeit?"
Monjya drehte sich um und legte den Finger an die Unterlippe, während sie so tat, als würde sie ernsthaft nachdenken. Schließlich wies sie mit dem ausgestreckten Arm die steile Felswand hinauf.
"Wir könnten hier hinauf klettern", bemerkte sie, während sie darum kämpfte, angesichts Michaels entsetztem Gesichtsausdruck nicht laut loszulachen.
"Danke nein, außerdem bin ich Höhlen gewohnt", erwiderte er zynisch.
"Wie du willst", antwortete die Elbin grinsend und verschwand in dem feuchten Tunnel. Michael folgte verärgert, zumal er vermutete, gerade auf den Arm genommen worden zu sein. Seine Laune hob sich auch nicht, als er feststellte, dass sich der Tunnel genauso erwies, wie er es erwartet hatte. Er war schlüpfrig, stank zum Himmel und war so dunkel, dass sie bereits nach wenigen Metern die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnten, was ihnen ernsthafte Probleme bereitete, auf dem schlüpfrigen Untergrund nicht den Halt zu verlieren. Zum ersten Mal vermisste Michael seinen Helm. Der Umstand, dass gelegentlich irgendetwas in der Dunkelheit vor ihnen mit trippelnden Schritten davon huschte, machte das Ganze auch nicht angenehmer. Mit der rechten Hand an der feuchten Wand tastete sich Michael weiter voran und hoffte, dass die Ratten hier unten genauso schreckhaft waren, wie bei ihm zu Hause. Der Gedanke, von einer Horde Ratten hier in der Dunkelheit angefallen zu werden, hatte etwas ungemein Beunruhigendes. Nachdem sie sich auf diese Weise gute dreißig Meter durch den dunklen, stark ansteigenden Tunnel vorwärts getastet hatten, machten sie weiter voraus ein blasses Licht aus.
"Was mag das sein?", fragte Monjya, die mit zusammengekniffenen Augen versuchte zu erkennen, ob ihnen voraus eine Gefahr drohte. Doch dort war nichts. Nur der finstere Gang, der nunmehr schwach beleuchtet wurde.
"Vermutlich Leuchtmoos", erklärte Michael, der froh war, wieder etwas erkennen zu können. "Es ist harmlos", fügte er hinzu. Zögernd setzte sich Monjya daraufhin wieder in Bewegung. Zu ihrer Beruhigung gelangten sie unbehelligt bis zum Ende des Ganges, der an einer Wand endete und dort in einen senkrecht nach oben führenden Schacht überging. Von oben drang das geisterhafte Licht herab, das sie irritiert hatte. Michael vermochte nicht zu schätzen, wie weit der Schacht, der im Durchmesser weniger als einen Meter betrug, hinaufreichte. "Endstation, da kommen wir nie rauf", bemerkte er.
"Abwarten." Mit einem Sprung erreichte Monjya einen kleinen Felsvorsprung und klammerte sich daran fest. Wie eine Spinne zog sie sich weiter hinauf, bis sie ganz im Schacht verschwunden war. Dann verlagerte sie ihre Position so, dass sie sich mit den Füßen von der Wand abstützte und ihren Rücken gegen die gegenüberliegenden Wand presste. Auf diese Weise schob sie sich weiter den Schacht hinauf.
"Worauf wartest du noch, das ist der reinste Spaziergang", erklang leise ihre Stimme. Michael fluchte, dann versuchte auch er sein Glück, doch im Gegensatz zu der Elbin brauchte er etliche Anläufe, bis auch ihm es endlich gelang, sich den schlüpfrigen Schacht hinauf zu schieben. Als er den Kopf hob und hoch über ihm Monjya erblickte, die sich stetig weiter hinauf arbeitete, wurde ihm ganz anders zumute. Wenn sie abrutschen sollte, wäre es um sie beide geschehen. Tief durchatmend, die Furcht ignorierend, machte er sich an den Aufstieg.

Eine Flugstunde entfernt beobachtete Wogar zur selben Zeit einen Aufstieg ganz anderer Art. Fast synchron erhoben sich einhundert Drachenreiter majestätisch auf ihren Tieren in den Nachthimmel. Das Schlagen der kraftvollen Drachenflügel, die den klaren Sternenhimmel verdunkelten, klang wie fernes Donnergrollen und ließ Wogar schaudern, der sich nicht erinnern konnte, jemals einen beeindruckenderen Anblick erlebt zu haben. Er war sicher, dass die Augen sämtlicher Bewohner des Nebelwaldes dem Aufstieg der Drachenreiter in diesem Moment ehrfurchtsvoll folgten. Nun war es unwiderruflich soweit, der Krieg gegen die Bolg hatte begonnen.
 

© Klaus-Peter Behrens
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