"Ich bin fertig. Laß mich hier sterben."
Erschöpft sank Michael zu Boden. Auf den letzten Metern hatte er nicht
mehr geglaubt, dass er es bis nach oben schaffen würde. Mit bebenden
Fingern massierte er seine schmerzenden Beinmuskeln und versuchte seine
Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dabei sah er sich gründlich
um. Der Schacht ging hier oben in einen weiteren Gang über, in dem
Monjya bereits unruhig auf und ab schritt. Das Ende des Ganges, deren Wände
tatsächlich mit einer Art leuchtendem Moos überzogen waren, konnte
er nicht erkennen, da dieser bereits nach wenigen Metern eine scharfe Biegung
machte.
"Wir können uns keine weitere Verzögerung
leisten. Der Angriff der Drachenreiter wird bei Morgengrauen beginnen,
und das ist nicht mehr allzu lange hin. Wenn er erst einmal begonnen hat,
kommen wir nie mehr an den Obelisken heran. Also erheb dich endlich", redete
die Elbin leise und eindringlich auf Michael ein. Der erhob sich widerwillig.
"Eine gute Reiseleiterin würdest du nicht
abgeben", murrte er und folgte widerwillig Monjya, die bereits vorsichtig
aber entschlossen den Gang entlang schlich. "Ist doch nicht meine Schuld,
dass du solange gebraucht hast, um den Eingang zu finden", knurrte er,
während er sich beeilte, die Elbin einzuholen, die nur ein Schemen
vor ihm in dem fahlen Licht war. Als er aufgeschlossen hatte, stellte er
fest, dass sich die Struktur der Gangwände inzwischen geändert
hatte. Der nur grob behauene Fels war gemauerten Wänden gewichen.
Anscheinend war es ihnen tatsächlich gelungen, in die Festung einzudringen.
Allerdings war Michael sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen
sollte. Immerhin sprach eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit
dafür, dass dies seine letzte Besichtigungstour werden könnte,
was sogleich bestätigt wurde, als Monjya sich umdrehte und demonstrativ
einen Finger an ihre Lippen legte. "Ab jetzt wird es gefährlich. Also
mach bloß keinen Lärm", flüsterte sie warnend. Michael
nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, obwohl er sich insgeheim
über ihre Bevormundung ärgerte. Was befürchtete sie eigentlich,
das er hier machen würde? Lautstark nach dem Weg fragen oder fröhlich
pfeifen? Während er noch vor sich hin schmollte, stellte er zu seiner
Überraschung plötzlich fest, dass es in seiner rechten Hosentasche
warm wurde. Als er die Ursache hierfür zutage förderte, pfiff
er anerkennend durch die Zähne, was ihm sogleich einen Rüffel
von Monjya eintrug.
"Machst du das eigentlich mit Absicht?", flüsterte
sie wütend, worauf ihr Michael schweigend seinen Stein hinhielt. Seit
er auf dieser Welt gelandet war, pulsierte er zum ersten Mal wieder
kontinuierlich, wenn auch nur schwach. Michael bezweifelte, dass er schon
über genug Energie verfügte, um das Tor zu öffnen. Aber
das konnte sich ja ändern. Zumindest hatte sich Monjya bei dem Anblick
wieder beruhigt.
"Na schön, sieht so aus, als seien wir
auf dem richtigen Weg. Aber jetzt zügele bitte deine Begeisterungsrufe
und steck das wieder ein, sonst verrät uns das Blinken noch", befahl
sie in energischem Flüsterton. Michael nickte und verstaute den Stein
wieder sorgfältig in seiner Tasche. Neue Hoffnung hatte ihn durchflutet.
Noch hatte sich das Tor zu seiner Welt nicht aufgetan, aber das Blinken
des Steins war zumindest ein vielversprechender Anfang. Anscheinend war
es doch keine so schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen, dachte er mit
neuer Zuversicht. Dann machten sie sich wieder auf den Weg. Zu ihrer Enttäuschung
endete der Gang jedoch nach einer Weile an einer schweren Holztür,
die den Eindruck erweckte, als würde ihr selbst eine Ladung TNT nichts
anhaben können. Fugenlos schloss sie den Gang ab. Weder ein Handgriff,
noch ein Türschloss war zu erkennen. Der Grund hierfür war offensichtlich.
"Da hat sich ja einer richtig Mühe gegeben,
um unliebsame Besucher fernzuhalten", unkte Michael, der versuchte, das
Gewicht dieser massiven Tür zu schätzen. "Und, bekommst du sie
auf?", wandte er sich an Monjya, die sich energisch gegen die Tür
stemmte, doch die gab keinen Millimeter nach. Frustriert stellte die Elbin
ihr Bemühen ein und schüttelte resigniert ihren Kopf.
"Unmöglich", seufzte sie, "jetzt haben
wir ein ernsthaftes Problem."
"Mission impossible", stimmte Michael ihr
zu. In diesem Moment erklang ein kratzendes Geräusch. Irgendjemand
machte sich auf der anderen Seite der Tür zu schaffen.
"Sieht so aus, als bekämen wir Besuch",
flüsterte Michael erschrocken.
"Dann wollen wir ihm einen netten Empfang
bereiten", erwiderte die Elbin, deren Augen im fahlen Licht entschlossen
blitzten. Leise zogen sie sich tiefer in den Gang zurück.
Auf der anderen Seite der Tür plagten
sich inzwischen ein ausgemergelter, in Lumpen gehüllter alter Mann
und eine nicht minder schlecht bekleidete junge Frau mit einem schweren
Riegel ab, bewacht von einem finster dreinblickenden Bolg, der mit dem
Griff seiner Peitsche spielte. Die entzündeten Striemen auf der teilweise
entblößten Schulter der Frau dokumentierten, dass es ihm offenbar
Spaß machte, die Peitsche zu gebrauchen. Der alte Mann stöhnte
vor Anstrengung. "Warum machen wir das noch mit. Er wird uns doch früher
oder später sowieso umbringen", flüsterte er der Frau zu, doch
die ließ sich nicht entmutigen.
"Wo noch Leben ist, ist Hoffnung, Vater",
erwiderte sie grimmig. Der Alte lachte humorlos.
"Wir sind die letzten Überlebenden in
dieser elenden Festung. Wo ist da die Hoffnung?"
"Hört auf zu quatschen und arbeitet lieber,
oder wollt ihr Hiebe schmecken?", fuhr der Bolg dazwischen, obwohl er genau
wußte, dass die Gefangenen noch für Experimente am Tor benötigt
wurden, und er wollte sich auf keinen Fall den Zorn des Meisters zuziehen,
indem er seine Versuchskaninchen tötete. Dieses Privileg stand nur
dem Meister zu. Auf der anderen Seite hatte man ihm nicht direkt verboten,
sie zu mißhandeln. Auch ausgepeitschte Gefangene konnte man schließlich
noch für Experimente gebrauchen. Befriedigt stellte er fest, dass
die Gefangenen offenbar ähnliche Gedanken hatten, denn beim Anblick
der neun glänzenden, geflochtenen Lederriemen, die mit Knoten und
metallenen Nägeln bestückt war, schauderten sie wie unter einem
eiskalten Winterwind und beeilten sich, den schweren Riegel zur Seite zu
schieben. Schließlich schwang die schwere Tür lautlos auf gut
geölten Angeln auf, worauf der alte Mann zu einem schweren Bottich
mit einer übelriechenden Brühe hinüber schlurfte, den sie
über der Grube entleeren sollten. Die junge Frau hingegen blieb überrascht
stehen. Wenn sie ihre guten Augen nicht getäuscht hatten, hatte sich
weit hinten etwas bewegt. Doch sie kam nicht dazu, ihre Entdeckung näher
in Augenschein zu fassen. Ein plötzlich heftig brennender Schmerz
auf ihrem Rücken ließ sie aufschreien und in die Knie gehen.
"Hier wird sich nicht ausgeruht", herrschte
der Bolg sie an und rollte die Schnüre seiner Peitsche wieder auf.
"Sieh zu, dass du an die Arbeit kommst. Ich habe keine Lust, hier meinen
ganzen Abend zu verbringen. Da gibt es angenehmere Beschäftigungen."
Ein anzügliches Grinsen glitt über sein Gesicht. Angewidert und
mit vor Schmerz verzehrten Gesichtszügen schleppte sich die junge
Frau zu dem Bottich hinüber. Auf Nicken ihres Vaters hin hoben sie
ihn zugleich hoch und trugen die schwere Last in den finsteren Gang hinein.
Der Bolg nahm eine Fackel aus einer Wandhalterung und folgte ihnen. Doch
nach zehn Metern blieb er plötzlich mißtrauisch stehen. Er spürte,
dass diesmal irgendetwas nicht stimmte, ohne dass er den Finger hätte
drauflegen können. "Stehenbleiben", herrschte er seine Gefangenen
an, während er die Peitsche gegen das Schwert eintauschte. Dann trat
er rasch zwei Schritte vor, zog die junge Frau zu sich heran, riss sie
an der Schulter herum und legte seinen Arm um ihren Hals. Derart mit einem
lebenden Schild ausgerüstet, drang er an dem zitternden Alten vorbei
tiefer in den Gang vor. "Du wartest", knurrte er im Vorbeigehen. Zu seinem
Bedauern hatte er die Fackel zurücklassen müssen, da seine Hände
für die Gefangene und sein Schwert benötigte. Schnell blieb der
helle Schein der Fackel hinter ihm zurück, und er bewegte sich nun
vorsichtig in dem fahlen Licht, das nur wenig erkennen ließ, vorwärts.
Irgendetwas war hier, davon war er überzeugt. Bisher hatten ihn seine
Sinne, die in seiner langen Karriere als Krieger übernatürlich
geschärft worden waren, noch nie getäuscht. Doch zu seinem Pech
waren die Augen seiner Gefangenen noch eine Spur besser, und so entdeckte
sie die Elbin, die mit gespannten Bogen ein Stück weiter den Gang
hinunter lauerte, bevor ihr Peiniger sie erspähte. Ohne zu zögern
rammte sie daraufhin ihrem Kerkermeister die Ferse mit aller Kraft auf
den Fußspann, worauf diese vor Schmerz keuchte und den Griff um ihren
Hals für einen Moment lockerte. Sofort ließ seine Gefangene
sich fallen und brüllte zugleich "Jetzt." Doch Monjya hatte
die Chance bereits erkannt und die Sehne losgelassen. Mit einem dumpfen
Geräusch drang der Pfeil in den Schädel des Bolg ein und katapultierte
diesen förmlich in den Gang zurück, wobei er die junge Frau mit
sich riss. Sofort hasteten Monjya und Michael zu ihnen hinüber. Doch
die Sorge war unbegründet. Im Gegensatz zu dem Bolg, stand die junge
Frau wieder auf und musterte ihre Retter ungläubig.
"Wer seid Ihr?", fragte sie.
"Wir sind hier, um dieser Brut ein Ende zu
bereiten", sagte Monjya grimmig.
"Ist alles in Ordnung?", erklang die ängstliche
Stimme des Alten, der mit der Fackel in der Hand vorsichtig näher
kam. Als er den toten Bolg am Boden entdeckte, zog er erschrocken die Luft
ein.
"Wenn sie uns erwischen, werden sie uns unter
schlimmsten Qualen dafür bestrafen", flüsterte er besorgt.
"Das werden sie nicht, weil Ihr von hier verschwinden
werdet", beruhigte Michael ihn.
"Und wie?", fragte die junge Frau, die unter
ihrem ganzen Schmutz über ein einnehmend hübsches Gesicht verfügte,
wie Michael interessiert feststellte. Anscheinend war es ihm beschieden,
auf dieser Welt hübsche Frauen zu retten.
"Ihr müßt durch den Abwasserschacht
fliehen. Rettet Euch in den Wald, aber gebt acht, dort ist ein Pirscher
unterwegs", erläuterte Monjya.
"Aber den Schacht kommt er nie hinunter",
sagte die junge Frau mit besorgter Stimme, wobei sie auf ihren Vater wies.
Doch der straffte die Schultern. Die unerwartete Aussicht einer Flucht
hatte ihm neuen Mut gegeben.
"Das schaffe ich", erklärte er mit fester
Stimme. "Aber was gedenkt Ihr hier zu tun?"
"Wir haben keine Zeit für Erklärungen.
Sag uns lieber, wo sich der Sternenturm befindet", drängte Monjya.
Ihr Gegenüber zitterte unwillkürlich.
"Ich hoffe, Ihr wißt, was Ihr vorhabt",
sagte er. "Das ist ein böser Ort. Viele sind dort schon gestorben
bei den Experimenten des Meisters, und er ist gut bewacht. Die Wache trägt
eine schwarze Rüstung und ist schwer zu erkennen. Selbst wenn Ihr
es schafft hineinzukommen, kommt Ihr mit Sicherheit nicht wieder hinaus,
jedenfalls nicht auf Euren eigenen Füßen."
"Klingt nach der richtigen Adresse", meinte
Michael mit trockener Stimme, "trotzdem wäre es hilfreich zu wissen,
wie man dort hin gelangt."
"Haltet Euch einfach nach der Tür rechts.
Ihr könnt es nicht verfehlen."
"Danke, und viel Glück." Monjya drückte
aufmunternd die Schulter des Alten.
"Euch auch", erwiderte er.
"Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder",
fügte die junge Frau hinzu, dann wandten sie sich um und verschwanden
in der Finsternis des Tunnels. Michael wies auf den toten Bolg. "Meinst
du nicht, dass sie den vermissen werden?"
"Den vermisst mit Sicherheit keiner, außerdem
sind wir bis dahin längst bei dem Turm, und jetzt komm, die Zeit rennt
uns davon."
Kurze Zeit später standen sie zum zweiten
Mal am Ende des Ganges, doch diesmal war die Tür nur angelehnt. Monjya
schob sie vorsichtig eine Handbreit auf und spähte vorsichtig um die
Ecke. "Hier ist ein weiterer Gang, allerdings brennen hier Fackeln", informierte
sie Michael.
"Prima, dann können wir zur Abwechslung
endlich mal genug sehen", bemerkte Michael zynisch, doch Monjya hatte für
Wortgefechte im Augenblick nichts übrig. Ohne etwas zu erwidern schob
sie die Tür entschlossen ein Stück weiter auf und schlüpfte
lautlos durch den Spalt, das gezogene Schwert in der Hand. Ein kurzer Rundblick
zeigte ihr, dass sich der leere Gang in beide Seiten endlos in die Länge
streckte. In dem flackernden Fackellicht war es allerdings unmöglich
auszumachen, was sie am jeweiligen Ende des Ganges erwarten würde.
"Kannst du etwas entdecken?" Erschrocken zuckte
Monjya bei der Frage zusammen, da Michael lautlos neben ihr aufgetaucht
war.
"Ja, Fackeln und einen leeren Gang", erwiderte
sie bissig, verärgert über den Schrecken, den er ihr eingejagt
hatte. "Also, wir schleichen jetzt rechts zum Turm hinüber und eliminieren
diesen Obelisken. Das wird ein Kinderspiel."
"Woher nimmst du bloß den Optimismus?",
murmelte Michael, während er Monjya zögernd den Gang entlang
folgte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals bei dem Gedanken, was passieren
würde, wenn hier plötzlich ein weiterer Bolg entlang käme,
doch zum Glück blieb alles ruhig. Nach einer kleinen Ewigkeit mündete
der Gang schließlich in einen viereckigen Platz, in deren Mitte ein
pechschwarzer Turm in den Nachthimmel ragte. Aus einer Unzahl von winzigen,
Schießscharten gleichen Fenstern im oberen Bereich des Turms drang
ein schwach pulsierendes Licht, das Michael vertraut vorkam und erklärte,
wie der Turm zu seinem Namen gekommen war. "Ich schätze mal, wir sind
da. War fast ein wenig zu einfach", flüsterte Michael beeindruckt.
Doch statt zu antworten, zog Monjya ihn in den Schatten einer Säule,
die den Platz in regelmäßigen Abständen umrahmten und als
Stütze für den umlaufenden Wehrgang dienten.
"Sieh genau hin, links von der Tür, im
Schatten. Gut, dass sie uns gewarnt hat."
Es dauerte einen Augenblick, bis Michael erkannte,
was die Elbin so beunruhigte. Im Schatten der Tür hielt ein Bolg Wache.
Die pechschwarze Rüstung machte ihn beinahe unsichtbar. Es grenzte
an ein Wunder, dass er sie nicht gleich entdeckt hatte. "An dem kommen
wir nie vorbei", flüsterte Michael leise. Monjya nickte, dann nahm
sie ihren Bogen ab.
"Darum müssen wir umdisponieren."
© Klaus-Peter
Behrens
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