Nebelwald von Klaus-Peter Behrens
5. Kapitel

"Ich bin fertig. Laß mich hier sterben." Erschöpft sank Michael zu Boden. Auf den letzten Metern hatte er nicht mehr geglaubt, dass er es bis nach oben schaffen würde. Mit bebenden Fingern massierte er seine schmerzenden Beinmuskeln und versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dabei sah er sich gründlich um. Der Schacht ging hier oben in einen weiteren Gang über, in dem Monjya bereits unruhig auf und ab schritt. Das Ende des Ganges, deren Wände tatsächlich mit einer Art leuchtendem Moos überzogen waren, konnte er nicht erkennen, da dieser bereits nach wenigen Metern eine scharfe Biegung machte.
"Wir können uns keine weitere Verzögerung leisten. Der Angriff der Drachenreiter wird bei Morgengrauen beginnen, und das ist nicht mehr allzu lange hin. Wenn er erst einmal begonnen hat, kommen wir nie mehr an den Obelisken heran. Also erheb dich endlich", redete die Elbin leise und eindringlich auf Michael ein. Der erhob sich widerwillig.
"Eine gute Reiseleiterin würdest du nicht abgeben", murrte er und folgte widerwillig Monjya, die bereits vorsichtig aber entschlossen den Gang entlang schlich. "Ist doch nicht meine Schuld, dass du solange gebraucht hast, um den Eingang zu finden", knurrte er, während er sich beeilte, die Elbin einzuholen, die nur ein Schemen vor ihm in dem fahlen Licht war. Als er aufgeschlossen hatte, stellte er fest, dass sich die Struktur der Gangwände inzwischen geändert hatte. Der nur grob behauene Fels war gemauerten Wänden gewichen. Anscheinend war es ihnen tatsächlich gelungen, in die Festung einzudringen. Allerdings war Michael sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Immerhin sprach eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit dafür, dass dies seine letzte Besichtigungstour werden könnte, was sogleich bestätigt wurde, als Monjya sich umdrehte und demonstrativ einen Finger an ihre Lippen legte. "Ab jetzt wird es gefährlich. Also mach bloß keinen Lärm", flüsterte sie warnend. Michael nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, obwohl er sich insgeheim über ihre Bevormundung ärgerte. Was befürchtete sie eigentlich, das er hier machen würde? Lautstark nach dem Weg fragen oder fröhlich pfeifen? Während er noch vor sich hin schmollte, stellte er zu seiner Überraschung plötzlich fest, dass es in seiner rechten Hosentasche warm wurde. Als er die Ursache hierfür zutage förderte, pfiff er anerkennend durch die Zähne, was ihm sogleich einen Rüffel von Monjya eintrug.
"Machst du das eigentlich mit Absicht?", flüsterte sie wütend, worauf ihr Michael schweigend seinen Stein hinhielt. Seit er auf dieser Welt gelandet war, pulsierte er  zum ersten Mal wieder kontinuierlich, wenn auch nur schwach. Michael bezweifelte, dass er schon über genug Energie verfügte, um das Tor zu öffnen. Aber das konnte sich ja ändern. Zumindest hatte sich Monjya bei dem Anblick wieder beruhigt.
"Na schön, sieht so aus, als seien wir auf dem richtigen Weg. Aber jetzt zügele bitte deine Begeisterungsrufe und steck das wieder ein, sonst verrät uns das Blinken noch", befahl sie in energischem Flüsterton. Michael nickte und verstaute den Stein wieder sorgfältig in seiner Tasche. Neue Hoffnung hatte ihn durchflutet. Noch hatte sich das Tor zu seiner Welt nicht aufgetan, aber das Blinken des Steins war zumindest ein vielversprechender Anfang. Anscheinend war es doch keine so schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen, dachte er mit neuer Zuversicht. Dann machten sie sich wieder auf den Weg. Zu ihrer Enttäuschung endete der Gang jedoch nach einer Weile an einer schweren Holztür, die den Eindruck erweckte, als würde ihr selbst eine Ladung TNT nichts anhaben können. Fugenlos schloss sie den Gang ab. Weder ein Handgriff, noch ein Türschloss war zu erkennen. Der Grund hierfür war offensichtlich. 
"Da hat sich ja einer richtig Mühe gegeben, um unliebsame Besucher fernzuhalten", unkte Michael, der versuchte, das Gewicht dieser massiven Tür zu schätzen. "Und, bekommst du sie auf?", wandte er sich an Monjya, die sich energisch gegen die Tür stemmte, doch die gab keinen Millimeter nach. Frustriert stellte die Elbin ihr Bemühen ein und schüttelte resigniert ihren Kopf.
"Unmöglich", seufzte sie, "jetzt haben wir ein ernsthaftes Problem."
"Mission impossible", stimmte Michael ihr zu. In diesem Moment erklang ein kratzendes Geräusch. Irgendjemand machte sich auf der anderen Seite der Tür zu schaffen.
"Sieht so aus, als bekämen wir Besuch", flüsterte Michael erschrocken.
"Dann wollen wir ihm einen netten Empfang bereiten", erwiderte die Elbin, deren Augen im fahlen Licht entschlossen blitzten. Leise zogen sie sich tiefer in den Gang zurück.

Auf der anderen Seite der Tür plagten sich inzwischen ein ausgemergelter, in Lumpen gehüllter alter Mann und eine nicht minder schlecht bekleidete junge Frau mit einem schweren Riegel ab, bewacht von einem finster dreinblickenden Bolg, der mit dem Griff seiner Peitsche spielte. Die entzündeten Striemen auf der teilweise entblößten Schulter der Frau dokumentierten, dass es ihm offenbar Spaß machte, die Peitsche zu gebrauchen. Der alte Mann stöhnte vor Anstrengung. "Warum machen wir das noch mit. Er wird uns doch früher oder später sowieso umbringen", flüsterte er der Frau zu, doch die ließ sich nicht entmutigen.
"Wo noch Leben ist, ist Hoffnung, Vater", erwiderte sie grimmig. Der Alte lachte humorlos.
"Wir sind die letzten Überlebenden in dieser elenden Festung. Wo ist da die Hoffnung?"
"Hört auf zu quatschen und arbeitet lieber, oder wollt ihr Hiebe schmecken?", fuhr der Bolg dazwischen, obwohl er genau wußte, dass die Gefangenen noch für Experimente am Tor benötigt wurden, und er wollte sich auf keinen Fall den Zorn des Meisters zuziehen, indem er seine Versuchskaninchen tötete. Dieses Privileg stand nur dem Meister zu. Auf der anderen Seite hatte man ihm nicht direkt verboten, sie zu mißhandeln. Auch ausgepeitschte Gefangene konnte man schließlich noch für Experimente gebrauchen. Befriedigt stellte er fest, dass die Gefangenen offenbar ähnliche Gedanken hatten, denn beim Anblick der neun glänzenden, geflochtenen Lederriemen, die mit Knoten und metallenen Nägeln bestückt war, schauderten sie wie unter einem eiskalten Winterwind und beeilten sich, den schweren Riegel zur Seite zu schieben. Schließlich schwang die schwere Tür lautlos auf gut geölten Angeln auf, worauf der alte Mann zu einem schweren Bottich mit einer übelriechenden Brühe hinüber schlurfte, den sie über der Grube entleeren sollten. Die junge Frau hingegen blieb überrascht stehen. Wenn sie ihre guten Augen nicht getäuscht hatten, hatte sich weit hinten etwas bewegt. Doch sie kam nicht dazu, ihre Entdeckung näher in Augenschein zu fassen. Ein plötzlich heftig brennender Schmerz auf ihrem Rücken ließ sie aufschreien und in die Knie gehen.
"Hier wird sich nicht ausgeruht", herrschte der Bolg sie an und rollte die Schnüre seiner Peitsche wieder auf. "Sieh zu, dass du an die Arbeit kommst. Ich habe keine Lust, hier meinen ganzen Abend zu verbringen. Da gibt es angenehmere Beschäftigungen." Ein anzügliches Grinsen glitt über sein Gesicht. Angewidert und mit vor Schmerz verzehrten Gesichtszügen schleppte sich die junge Frau zu dem Bottich hinüber. Auf Nicken ihres Vaters hin hoben sie ihn zugleich hoch und trugen die schwere Last in den finsteren Gang hinein. Der Bolg nahm eine Fackel aus einer Wandhalterung und folgte ihnen. Doch nach zehn Metern blieb er plötzlich mißtrauisch stehen. Er spürte, dass diesmal irgendetwas nicht stimmte, ohne dass er den Finger hätte drauflegen können. "Stehenbleiben", herrschte er seine Gefangenen an, während er die Peitsche gegen das Schwert eintauschte. Dann trat er rasch zwei Schritte vor, zog die junge Frau zu sich heran, riss sie an der Schulter herum und legte seinen Arm um ihren Hals. Derart mit einem lebenden Schild ausgerüstet, drang er an dem zitternden Alten vorbei tiefer in den Gang vor. "Du wartest", knurrte er im Vorbeigehen. Zu seinem Bedauern hatte er die Fackel zurücklassen müssen, da seine Hände für die Gefangene und sein Schwert benötigte. Schnell blieb der helle Schein der Fackel hinter ihm zurück, und er bewegte sich nun vorsichtig in dem fahlen Licht, das nur wenig erkennen ließ, vorwärts. Irgendetwas war hier, davon war er überzeugt. Bisher hatten ihn seine Sinne, die in seiner langen Karriere als Krieger übernatürlich geschärft worden waren, noch nie getäuscht. Doch zu seinem Pech waren die Augen seiner Gefangenen noch eine Spur besser, und so entdeckte sie die Elbin, die mit gespannten Bogen ein Stück weiter den Gang hinunter lauerte, bevor ihr Peiniger sie erspähte. Ohne zu zögern rammte sie daraufhin ihrem Kerkermeister die Ferse mit aller Kraft auf den Fußspann, worauf diese vor Schmerz keuchte und den Griff um ihren Hals für einen Moment lockerte. Sofort ließ seine Gefangene sich fallen und brüllte  zugleich "Jetzt." Doch Monjya hatte die Chance bereits erkannt und die Sehne losgelassen. Mit einem dumpfen Geräusch drang der Pfeil in den Schädel des Bolg ein und katapultierte diesen förmlich in den Gang zurück, wobei er die junge Frau mit sich riss. Sofort hasteten Monjya und Michael zu ihnen hinüber. Doch die Sorge war unbegründet. Im Gegensatz zu dem Bolg, stand die junge Frau wieder auf und musterte ihre Retter ungläubig.
"Wer seid Ihr?", fragte sie.
"Wir sind hier, um dieser Brut ein Ende zu bereiten", sagte Monjya grimmig.
"Ist alles in Ordnung?", erklang die ängstliche Stimme des Alten, der mit der Fackel in der Hand vorsichtig näher kam. Als er den toten Bolg am Boden entdeckte, zog er erschrocken die Luft ein.
"Wenn sie uns erwischen, werden sie uns unter schlimmsten Qualen dafür bestrafen", flüsterte er besorgt.
"Das werden sie nicht, weil Ihr von hier verschwinden werdet", beruhigte Michael ihn.
"Und wie?", fragte die junge Frau, die unter ihrem ganzen Schmutz über ein einnehmend hübsches Gesicht verfügte, wie Michael interessiert feststellte. Anscheinend war es ihm beschieden, auf dieser Welt hübsche Frauen zu retten.
"Ihr müßt durch den Abwasserschacht fliehen. Rettet Euch in den Wald, aber gebt acht, dort ist ein Pirscher unterwegs", erläuterte Monjya.
"Aber den Schacht kommt er nie hinunter", sagte die junge Frau mit besorgter Stimme, wobei sie auf ihren Vater wies. Doch der straffte die Schultern. Die unerwartete Aussicht einer Flucht hatte ihm neuen Mut gegeben.
"Das schaffe ich", erklärte er mit fester Stimme. "Aber was gedenkt Ihr hier zu tun?"
"Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Sag uns lieber, wo sich der Sternenturm befindet", drängte Monjya. Ihr Gegenüber zitterte unwillkürlich.
"Ich hoffe, Ihr wißt, was Ihr vorhabt", sagte er. "Das ist ein böser Ort. Viele sind dort schon gestorben bei den Experimenten des Meisters, und er ist gut bewacht. Die Wache trägt eine schwarze Rüstung und ist schwer zu erkennen. Selbst wenn Ihr es schafft hineinzukommen, kommt Ihr mit Sicherheit nicht wieder hinaus, jedenfalls nicht auf Euren eigenen Füßen."
"Klingt nach der richtigen Adresse", meinte Michael mit trockener Stimme, "trotzdem wäre es hilfreich zu wissen, wie man dort hin gelangt."
"Haltet Euch einfach nach der Tür rechts. Ihr könnt es nicht verfehlen."
"Danke, und viel Glück." Monjya drückte aufmunternd die Schulter des Alten.
"Euch auch", erwiderte er.
"Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder", fügte die junge Frau hinzu, dann wandten sie sich um und verschwanden in der Finsternis des Tunnels. Michael wies auf den toten Bolg. "Meinst du nicht, dass sie den vermissen werden?"
"Den vermisst mit Sicherheit keiner, außerdem sind wir bis dahin längst bei dem Turm, und jetzt komm, die Zeit rennt uns davon."
Kurze Zeit später standen sie zum zweiten Mal am Ende des Ganges, doch diesmal war die Tür nur angelehnt. Monjya schob sie vorsichtig eine Handbreit auf und spähte vorsichtig um die Ecke. "Hier ist ein weiterer Gang, allerdings brennen hier Fackeln", informierte sie Michael.
"Prima, dann können wir zur Abwechslung endlich mal genug sehen", bemerkte Michael zynisch, doch Monjya hatte für Wortgefechte im Augenblick nichts übrig. Ohne etwas zu erwidern schob sie die Tür entschlossen ein Stück weiter auf und schlüpfte lautlos durch den Spalt, das gezogene Schwert in der Hand. Ein kurzer Rundblick zeigte ihr, dass sich der leere Gang in beide Seiten endlos in die Länge streckte. In dem flackernden Fackellicht war es allerdings unmöglich auszumachen, was sie am jeweiligen Ende des Ganges erwarten würde.
"Kannst du etwas entdecken?" Erschrocken zuckte Monjya bei der Frage zusammen, da Michael lautlos neben ihr aufgetaucht war.
"Ja, Fackeln und einen leeren Gang", erwiderte sie bissig, verärgert über den Schrecken, den er ihr eingejagt hatte. "Also, wir schleichen jetzt rechts zum Turm hinüber und eliminieren diesen Obelisken. Das wird ein Kinderspiel."
"Woher nimmst du bloß den Optimismus?", murmelte Michael, während er Monjya zögernd den Gang entlang folgte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn hier plötzlich ein weiterer Bolg entlang käme, doch zum Glück blieb alles ruhig. Nach einer kleinen Ewigkeit mündete der Gang schließlich in einen viereckigen Platz, in deren Mitte ein pechschwarzer Turm in den Nachthimmel ragte. Aus einer Unzahl von winzigen, Schießscharten gleichen Fenstern im oberen Bereich des Turms drang ein schwach pulsierendes Licht, das Michael vertraut vorkam und erklärte, wie der Turm zu seinem Namen gekommen war. "Ich schätze mal, wir sind da. War fast ein wenig zu einfach", flüsterte Michael beeindruckt. Doch statt zu antworten, zog Monjya ihn in den Schatten einer Säule, die den Platz in regelmäßigen Abständen umrahmten und als Stütze für den umlaufenden Wehrgang dienten.
"Sieh genau hin, links von der Tür, im Schatten. Gut, dass sie uns gewarnt hat."
Es dauerte einen Augenblick, bis Michael erkannte, was die Elbin so beunruhigte. Im Schatten der Tür hielt ein Bolg Wache. Die pechschwarze Rüstung machte ihn beinahe unsichtbar. Es grenzte an ein Wunder, dass er sie nicht gleich entdeckt hatte. "An dem kommen wir nie vorbei", flüsterte Michael leise. Monjya nickte, dann nahm sie ihren Bogen ab.
"Darum müssen wir umdisponieren."
 

© Klaus-Peter Behrens
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