Nepumuk und Argon von Birgit Sommerkamp
Im Wald der Einhörner

Am Fuße des gewaltigen Gebirgsmassivs, in dem Dragons Volk seine Höhlen hatte, ging der düstere Nadelwald, der die Flanken der Berge bedeckte, in einen riesigen lichtdurchfluteten Laubwald über. Hier war das Domizil der Einhörner, jener anmutigen weißen Geschöpfe, die mit dem Wind um die Wette laufen konnten, die für Harmonie und Fruchtbarkeit sorgten. Die sonnigen Lichtungen mit dem üppigen Gras und der Vielzahl bunter Blumen waren ihre Versammlungsplätze. Hier tummelten sich vor allem die jungen Einhörner. Übermütig sprangen sie herum, knabberten hier am jungen Gras, rochen dort an einer bunten Blüte oder versuchten die hin und her gaukelnden Schmetterlinge zu fangen. Die älteren Einhörner lagen im Schatten der hohen Bäume und schauten dem bunten Treiben des Jungvolkes zu. Manchmal gesellte sich auch ihr Anführer Helios zu Ihnen, um ein Auge auf seinen kleinen Bruder zu werfen.

Argon war der Wildeste und Übermütigste der jungen Einhörner. Sein weißes Fell leuchtete im hellen Sonnenlicht. Sein goldenes Horn und die zierlichen Hufe blinkten und blitzten, wenn er herumsprang. Mähne und Schweif schimmerten wie kostbare Seide.

Gerade hatte er mal wieder ein besonders übermütiges Spiel getrieben, als er seinen Bruder erspähte. Schuldbewusst ließ er den Kopf hängen und trabte langsam auf ihn zu. Nervös zuckte sein langer Schweif hin und her. Er wusste, dass Helios es gar nicht gerne sah, wenn er sich so benahm. Immer wieder ermahnte er ihn, daran zu denken, dass er einmal der Anführer sein würde. Pah, als wenn Argon darauf Wert gelegt hätte. Scheinbar reumütig ließ er die erneute Standpauke über sich ergehen, aber kaum hatte Helios die Lichtung verlassen, raste Argon auf die anderen zu, um noch toller und übermütiger herumzuspringen. Er bemerkte dabei nicht, dass Helios zwischen den Bäumen stand und kopfschüttelnd zusah. Wie sollte er seinen Bruder nur zur Vernunft bringen. Argon war den anderen Einhörnern nicht das Vorbild, das er eigentlich sein sollte, er war eben nicht zum Anführer geboren. Trotzdem gab es keine andere Wahl. Helios spürte seit langem, dass eine große Gefahr auf sie lauerte. Es wurden kaum noch Einhörner geboren und hin und wieder verschwand von den Erwachsenen der eine oder andere ganz plötzlich.

Helios seufzte tief auf. Gerade jetzt hätte er einen pflichtbewussten Bruder bitter nötig gehabt, der ihm einige Aufgaben abnehmen konnte. Aber nein, der Herr Bruder zog es ja vor, sich mit den anderen auf der Lichtung zu vergnügen. Helios trabte weiter. Er hatte für heute Abend den Rat der Einhörner zusammengerufen, da ihm das Verschwinden der Einhörner große Sorgen bereitete. Vor einiger Zeit hatte Helios zehn Kundschafter ausgeschickt, die nach dem Verbleib der verschwundenen Gefährten suchen sollten, doch von diesen waren nur zwei zurückgekehrt.

Als die Dämmerung den Wald in ein diffuses Licht tauchte und die Schatten immer länger wurden, versammelte sich auf einer kreisrunden, von kleinen Felsen eingefassten Lichtung der Rat der Einhörner. Glühwürmchen umgaukelten sie und verbreiteten ein angenehmes Licht. Bald würde der Mond aufgehen und die Lichtung in einen silbrigen Schimmer tauchen.

Helios blickte auf die Reihen der versammelten Einhörner und stellte erschrocken fest, dass auch hier einige fehlten, auch seinen Bruder Argon konnte er nicht entdecken, obwohl er ihn eindringlich gebeten hatte, zukünftig an solchen Versammlungen teilzunehmen. Der Himmel mochte wissen, wo er sich jetzt schon wieder herumtrieb.

Helios berichtete über das Verschwinden seiner Kundschafter und welche Sorgen er sich darüber machte. Ein altes weises Einhorn erzählte, dass sich sein Weggefährte auf dem Weg hierher einfach in Luft aufgelöst hätte. Da trat ein uraltes Einhorn in die Mitte der Versammlung und sprach mit zittriger Stimme: "Helios, ich glaube, ich weiß, was es mit dem Verschwinden der Einhörner auf sich hat. Mein Großvater erzählte mir, dass in den alten Drachenchroniken eine Zeit beschrieben wird, in der die Menschen nicht mehr an uns glauben würden und dass wir dadurch aufhören würden zu existieren. Es sei denn, wir fänden den Weg zum Garten der Phantasie. Nur dort haben wir die Chance zu überleben."

Nach dieser Rede herrschte große Aufregung unter den Einhörner. Alles sprach durcheinander, bis Helios sich energisch Gehör verschaffte. "Moment mal, Andras, wieso erwähnst du die Drachenchroniken? Sind etwa unsere Feinde, die Drachen, der Auslöser dieser Misere?" "Nein, natürlich nicht, im Gegenteil, sie dürften die gleichen Probleme wie wir haben. Außerdem waren Drachen und Einhörner nicht immer verfeindet, wie du eigentlich selbst wissen müsstest", erwiderte Andras.

"Lassen wir das jetzt, die Lage ist viel zu ernst, um sich darüber zu streiten", fiel ihnen Talim, der oberste Sprecher des Rates, ins Wort. "Helios, was meinst du, was können wir tun?" Helios überlegte kurz und fragte Andras, ob sein Großvater auch etwas darüber erzählt hätte, wo sich dieser Garten befand.

"Zu meinem größten Bedauern leider nein", antwortete dieser. "Mein Großvater berichtete mir von einem unverständlichen Spruch, der ebenfalls in den Chroniken stand. Wenn sich im Abbild des Boten vereint was entzweit, erhellt der Glanz der Sterne den Pfad in Phantasien‘s Garten."

Was mochte das bedeuten? Helios und der Einhornrat schüttelten ihre Köpfe. Nein, diesen Spruch verstanden auch sie nicht. "Vielleicht gibt es jemanden, den wir um Rat fragen könnten", überlegte Helios. Andras meldete sich noch einmal zu Wort. "Weit im Osten, irgendwo im gewaltigen Felsmassiv der Regenbogenberge, lebt ein Weiser, der sich mit solchen Sprüchen auskennt, vielleicht kann er uns weiter helfen. Alle nickten zustimmend. Doch wer sollte den weiten Weg dorthin unternehmen? Andras und die anderen Ratsmitglieder waren zu alt dafür. Man entschloss sich schließlich, dass die Kräftigsten unter ihnen den Weisen aufsuchen sollten. Sobald man mehr wusste, sollten die anderen geholt werden. Talim würde sich in der Zwischenzeit um die zurückbleibenden Einhörner kümmern. Als Helios bald darauf die Lichtung verlassen wollte, kam ihm sein Bruder entgegen. "He, Helios, was ist hier eigentlich los? Habe ich etwas verpasst? Alle sind so entsetzlich aufgeregt.

Das war wieder einmal typisch für Argon. Er tauchte immer dann auf, wenn man ihn am Wenigsten brauchen konnte. Obwohl Helios eigentlich keine Zeit für lange Erklärungen hatte, berichtete er seinem Bruder vom Beschluss des Drachenrates. "Oh toll, wann brechen wir denn auf, Helios?" fragte Argon. Er war sofort Feuer und Flamme. Endlich geschah mal etwas Aufregendes. "Ich glaube, ich muss dich enttäuschen", erwiderte Helios, "du bleibst hier. Der Weg ist lang und gefährlich, da können wir nicht auch noch auf so einen Springinsfeld wie dich achtgeben." Damit schien alles gesagt zu sein. Helios ließ seinen Bruder einfach stehen und ging zu den anderen Einhörner, um weitere Vorbereitungen für den Aufbruch zu treffen.

Die Lichtung leerte sich zusehends und Argon blieb allein zurück. Einerseits war er beleidigt, dass man ihn nicht mitnehmen wollte, andererseits konnte er jetzt, da sein Bruder weit weg sein würde, tun und lassen, was er wollte. Wer wollte ihn denn schon daran hindern, sich selbst auf die Suche nach diesem geheimnisvollen Garten zu machen. Pah, einen Weisen fragen. Damit gestand man sich doch nur seine eigene Unfähigkeit ein. Er, Argon, würde es den Anderen schon zeigen. Er würden den Garten ganz alleine finden, davon war er felsenfest überzeugt.
 

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Und gleich weiter zum 5. Kapitel...: Der Aufbruch

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