Nepumuk und Argon von Birgit Sommerkamp |
|
Die Vorbereitungen für die Reise waren bald danach abgeschlossen. Begleitet von zwanzig der mutigsten und erfahrensten Einhörnern seines Volkes machte sich Helios auf den langen und beschwerlichen Weg zu den Regenbogenbergen. Gerne hätte Helios vor seinem Aufbruch noch einmal mit seinem Bruder gesprochen und ihn noch einmal ermahnt, doch dieser war seit kurzem unauffindbar. Helios hoffte inständig, dass ihm nichts zugestoßen war. Kundschafter liefen dem Haupttrupp voran, ständig auf mögliche Gefahren achtend. Bald ließen sie die heimatlichen Wälder hinter sich zurück und kamen in dichter besiedelte Gebiete. Mitunter verbargen sie sich tagsüber in kleinen Wäldchen, die zwischen den Feldern lagen und nutzten nur die kurzen Nächte zur Wanderung. Je weiter sie kamen, desto weniger Wälder gab es. Oftmals waren sie gezwungen, sich auf den Weiden unter die grasenden Pferde zu mischen, hoffend, dass die getrübten Augen der Menschen sie nicht erkennen würden. Langsam wich der Sommer dem Herbst. Erste bunte Blätter wurden durch den Wind über gelbe und braune Felder getrieben, morgens stiegen dünne Nebelschleier, zart wie Elfenschleier, aus den Flussauen auf. Tagsüber war die Luft klar und man konnte den nahenden Winter förmlich riechen. Vor einigen Tagen hatten sie am Horizont einen schmalen, bläulichen gezackten Streifen entdeckt, der allerdings noch viel zu weit entfernt war, um zu erkennen, um was es sich handelte. Helios hoffte, dass dieser Streifen das Ziel ihrer Reise darstellte. Doch obwohl sie schnell wie der Wind diesem Gebilde entgegen eilten, hatten sie das Gefühl, ihm nicht näher zu kommen. Je weiter die Jahreszeit fortschritt, desto länger hielten sich
die Morgennebel. Stürmische Winde kamen auf, die letzten Blätter
wurden von den Bäumen gefegt und wirbelten durch die Lüfte. Heftige
Regenschauer weichten die Wege auf und verwandelten die abgeernteten Felder
in morastige Sümpfe. Immer öfter bildete sich auf den Wiesen
und Weiden weißer glitzernder Raureif und die Pfützen waren
mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Die Gegend wurde immer
unwirtlicher und einsamer. Nur selten trafen sie noch auf eine menschliche
Behausung. Sie hatten das Gefühl, dass das Gelände fast unmerklich
anstieg. Unter den Einhörner machte sich eine besorgniserregende Erschöpfung
breit. Helios bemerkte es mit großer Sorge. Eines Morgens wurde Helios
durch ein merkwürdiges, seufzendes Geräusch aus seinem Halbschlaf
gerissen. Seine Weggefährten umringten etwas und starrten gebannt
auf ein und denselben Fleck. Als er näher trat, machten sie ihm schweigend
Platz. Auf dem moosigen Untergrund lagen zwei schimmernde, gedrehte Hörner.
Deutlich waren noch die Umrisse zweier liegender Einhörner zu erkennen,
aber sonst fehlte jede Spur von ihnen. Die anderen redeten voller Panik
auf Helios ein. Nur mühsam konnte er sie beruhigen. Die Hörner
wurden, so gut es ging, unter das Moos geschoben, damit sie niemand finden
konnte, danach brachen sie schleunigst auf. Einige Zeit später erreichten
sie den Waldrand. Im gleichen Moment riss die dichte Wolkendecke auf und
gab den Blick auf eine riesige Ebene frei, in dessen Mitte zwei gewaltige
Bergmassive in den Himmel ragten. Zwischen den Gipfeln spannte sich ein
breiter Regenbogen wie eine Brücke. Sie waren am Ziel ihrer Reise
angekommen. Es verging allerdings noch einige Zeit, bis sie den Fuß
der Regenbogenberge erreichten. Aufmerksam hielten sie nach einer Höhle
oder etwas ähnlichem Ausschau, das die Behausung des Weisen sein konnte.
Sie hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, als einer von ihnen über
etwas stolperte, das im ersten Moment wie eine weiße Flechte aussah.
Doch beim näheren Hinsehen entpuppte es sich als ein verfilzter Bart,
der in einiger Höhe direkt aus dem Felsen zu wachsen schien. Vorsichtig
zog Helios daran. Ein dumpfes Grummeln erklang, dann öffneten sich
zwei waagerechte Spalten im Gestein und zwei riesige, dunkle, mit hellen
Quarzadern durchzogene Steinaugen wurden sichtbar. Ein darunter liegender
Felsvorsprung erwies sich als zerfurchte Knubbelnase und ein kreisrundes
Loch bildete den lippenlosen Mund. Sie hatten Quarzal, den Weisen der Regenbogenberge,
gefunden. Lange starrte er auf die kleine Gruppe Einhörner herab.
"Wer stört meine Ruhe", erklang eine grollende Stimme, "was wollt
ihr hier?" Helios nahm seinen ganzen Mut zusammen und begann zu erzählen.
Daraufhin schwieg der Weise lange. Endlich erwiderte er: "So hat es also
doch angefangen! Höre, Helios, den Garten, den du suchst, findest
du nicht hier auf der Erde. Er liegt irgendwo versteckt zwischen den Sternen.
Ihr werdet ihn wohl kaum finden oder habt Ihr Eure alte Fehde mit den Drachen
inzwischen beendet?" "Was hat das denn mit unserer Suche zu tun", schnappte
Helios. "Sehr viel", kam die Antwort. "Zuerst muss sich der Spruch erfüllen,
erst dann werdet Ihr eine neue Heimat im Garten der Phantasie finden."
"Der Spruch, der Spruch", maulte Helios. "Aus diesem Grund sind wir doch
hier, hättest Du wohl die Güte, uns den Sinn dieses Spruches
zu erklären? Wir wissen nicht, was er bedeutet." "Soll das etwa heißen,
dass Ihr Euch noch nicht mit den Drachen versöhnt habt?" kam die Gegenfrage.
"Nein", erwiderte Helios, "dazu besteht doch gar kein Grund. Die Drachen
beanspruchen allen Ruhm für sich, sie wollen die Weisesten der Weisen
und die Hüter der Fruchtbarkeit sein. Warum sollten wir Ihnen nachgeben?"
"Du halsstarriger, verbohrter Idiot", polterte der Weise, "es geht hier
um Euer aller Existenz und du hast nichts Besseres zu tun, als zu diskutieren,
wer an Eurem Streit die Schuld trägt? Geht jetzt, lasst mich allein,
ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß. Durchschreitet den Regenbogen,
er wird euch schneller in Eure Heimat führen." Nach diesen Worten
schlossen sich die Felsspalten und nichts erinnerte mehr an das Gesicht
des Weisen. Enttäuscht wandte sich Helios seinen Kameraden zu. "Lasst
uns von hier verschwinden. Wir werden den Weg auch ohne die Drachen finden,
glaubt mir. Zumindest haben wir einen Anhaltspunkt erhalten. Wir sollten
die Anderen holen und uns auf die Suche machen." Damit betrat er den schmalen
Pfad der sich zwischen den beiden Bergen unter dem Regenbogen dahinschlängelte
und verschwand kurz darauf in einer grauen Nebelwand.
|
.