Nepumuk und Argon von Birgit Sommerkamp
Ein neuer Freund

Faflars Sorge um ihren Sohn schien nicht ganz unbegründet zu sein. Als Dragons Botschaft die Feuerdrachen erreichte, hatte Nepumuk bereits den Heimweg angetreten. Er brannte darauf, seinem Vater zu zeigen, dass er mittlerweile zumindest einen Funkenregen erzeugen konnte. So erreichte er endlich das heimatliche Felsmassiv. Er landete elegant auf dem Felsplateau vor dem Eingang ins Höhlenlabyrinth und schaute sich erstaunt um. Der sonst so sorgfältig gepflegte Boden war mit einer dünnen Staubschicht überzogen, der Wind wirbelte welke Blätter durch die Luft, Unkraut hatte sich in den feinen Rissen und Spalten angesiedelt. Efeuranken verdeckten fast den Zugang der schmalen Passage, die in Dragons Reich führte. Voller Beklemmung hastete Nepumuk durch die leeren Gänge. Die große Versammlungshöhle lag verlassen vor ihm, die Kristallwände waren matt und trübe geworden, ein großer Teil der riesigen Kristallzapfen hatte sich aus der Decke gelöst und lag zerbrochen auf dem Boden. Ein Erdrutsch hatte die Höhlen des Drachenrates verschüttet. Überall fand er Spuren der Zerstörung. Anscheinend hatte Dragon schon vor einiger Zeit mit seinem Volk diesen Ort verlassen. Doch wohin waren sie gegangen? Auf seiner Suche nach einem Hinweis irrte er durch das weitverzweigte Höhlensystem. Schließlich betrat er Faflars Höhle. Auch hier war alles leer und öde. Große Risse hatten sich in den Felswänden gebildet, aus denen in kleinen Rinnsalen das Wasser floss und die tieferliegenden Stellen des Bodens bereits überflutet hatte. Ein blasser, kraftloser Sonnenstrahl drang durch den schmalen Spalt in der Decke und tanzte zitternd auf einer trüben Wasserlache. Irgend etwas glühte matt unter der Oberfläche. Er trat näher und entdeckte eine rotgoldene Drachenschuppe. Sie musste schon eine Zeitlang im Wasser gelegen haben, denn die Muster und Linien, die sie bedeckten, waren aufgequollen und somit unleserlich geworden. Er vermutete, dass er eine Botschaft seiner Mutter gefunden hatte, aber was wollte sie ihm mitteilen? In dem Moment war ein ohrenbetäubender Knall zu hören, der Boden vibrierte und große Kristalle lösten sich aus den Wänden und fielen polternd zu Boden. Voller Entsetzen floh Nepumuk aus der Höhle.

Atemlos erreichte er das Hochplateau und schaute sich um. Große Felsbrocken blockierten den Eingang zu Dragons Reich. Grauer Staub quoll durch die Ritzen und legte sich in einer dicken Schicht auf die Bäume und Sträucher, die das Plateau umrandeten. Zusammengebrochen. Seine alte Heimat war unbewohnbar geworden, wohin sollte er sich nur wenden. Wo waren seine Eltern und die anderen Drachen. Nepumuk bleib keine andere Wahl, als sie zu suchen.

Seine Suche führte ihn aus der Abgeschiedenheit der Berge in die Ebene und somit in die Nähe menschlicher Ansiedlungen. Er flog über spitze Felsnadeln und überquerte glasklare, scheinbar bodenlose Bergseen und unbegehbare Hochmoore. Schließlich ließ er sich am Rande eines großen, lichten Laubwaldes nieder, um zu rasten.

Er verkroch sich unter einem großen Haufen alten Laubes, den der Wind hier zusammengetragen hatte und schlief ein. Seltsame Träume umgaukelten ihn, zeigten ihm merkwürdige Wesen mit einem goldenen Horn auf der Stirn und einmal war ihm sogar, als ob jemand seinen Namen rufen würde. Verwirrt wachte Nepumuk auf und schaute sich um. Doch da war niemand, oder?

Angestrengt spähte er in die trügerische Dämmerung des Waldes. Sonne und Wind ließen aus den Schatten immer neue Schemen entstehen. Da blitzte doch etwas auf? Nepumuks Augen tränten vor Anstrengung, aber jetzt, ja er sah es ganz deutlich. Ein weißes Tier mit einem gedrehten goldnen Horn auf der Stirn verbarg sich dort hinter den Brombeergestrüpp. Als die Neugierde verteilt wurde, hatte Nepumuk in der ersten Reihe gestanden und gleich die doppelte Portion davon abbekommen.

So zwängte er sich so schnell es eben ging durch das Gestrüpp und stand kurz darauf direkt vor diesem seltsamen Wesen. Irgendwie roch es nach Pferd, aber ein Pferd mit einem Horn?

Nachdem sich beide eingehend betrachtet hatten, machte Nepumuk den ersten Schritt und stellte sich dem anderen vor. Er erfuhr, dass sein Gegenüber ein Einhorn war und in einer ähnlichen Lage wie er. Sein Bruder Helios wäre mit einer Reihe anderer Einhörner aufgebrochen, um für alle eine neue Bleibe zu suchen und er, Argon, hätte beschlossen, die Suche auf eigene Faust zu beginnen. Als Nepumuk erzählte, wie sich viele Drachen quasi in Rauch aufgelöst hatten, nickte Argon bestätigend. Er hatte Ähnliches bei seinen Artgenossen beobachtet.

Argon hatte in seiner jugendlichen Überheblichkeit natürlich nicht erwähnt, dass sein Bruder den Rat eines Weisen einholen wollte und so wurde lang und breit beratschlagt, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollten. Instinktiv fühlten beide, dass sie nur gemeinsam eine Chance haben würden, ihre Artgenossen wiederzufinden. Sie beschlossen, die Suche gemeinsam fortzusetzen.

Da ihnen alle Richtungen außer der, aus der Nepumuk gekommen war, gleich vielversprechend aussahen, überließen sie die Wahl dem Wind.

Am Rand des Waldes stand eine alte, knorrige Eiche. Unwetter und Stürme hatten im Laufe von vielen hundert Jahren die einst dichte Krone zerfasert, die meisten ihrer üppigen Aste und Zweige abgebrochen und nur noch einige kümmerliche Blätter dicht am Stamm übrig gelassen. Diese hatten sich bereits lange vor dem Herbst verfärbt und eine leichte Windbö würde sie sofort durch die Luft tragen. Hierhin gingen die Beiden und warteten.

Wind kam auf und die alte Eiche überließ ihm bereitwillig ihre Blätter. Langsam schaukelten diese Richtung Osten. Also gut, sie würden also diese Richtung einschlagen.

Nepumuk hatte erhebliche Bedenken. Wenn er sich in die Lüfte schwang, wie sollte ihm Argon dann folgen. Daher staunte unser junger Drache nicht schlecht, als Argon einfach in die Luft galoppierte und kurz darauf in einer riesigen Haufenwolke verschwand. Nepumuk musste sich anstrengen, seinen neuen Wegbegleiter einzuholen.
 

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Und gleich weiter zum 8. Kapitel...: Wohin jetzt?

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