NIDADIN von Marcel Möller
Eine Geschichte zwischen zwei Völkern
Die Erinnerungen

Die drei Gefährten stiegen über einen riesigen Hügel, der auf der anderen Seite in einem großen Wiesental nach unten ragte. Die ersten Bäume des großen Waldes waren in Sichtweite.
Zaso stieß einen Freudenschrei aus: "Da vorn! Wir sind fast da, wir schaffen es!"
Innerhalb des großen Waldes fühlten sich die Zynta immer geschützt, aber sie hatten nie gesehen, wie er von außen aussieht. Nachts war das ja kaum zu erkennen, doch jetzt am Morgen war der Anblick atemberaubend. Obwohl das schützende Baumkleid schon zu sehen war, war der Weg noch weit. Zaso war zwar zuversichtlich, dass sie es schaffen würden, aber das Licht hatte schon fast einen neuen Tag begrüßt. Ihr seltsamer Weggefährte tat sich immer noch schwer mit dem Laufen. Seine Flügel schmerzten immer noch und die Wunden heilten sehr langsam. Die spitzen Krallen vertieften sich nicht selten im lehmigen Boden und es dauerte etwas, bis er sich weiter befreien konnte. Der Weg der drei Wanderer führte über eine große Wiese mit hohem Graswuchs, sie mussten darauf achten wo sie hintraten.
"Hilfe!", schrie es hinter den beiden Zynta und ein Berg von Schlamm flog auf sie zu. "Igitt! Das ist ja ekelhaft", stellte das Wesen mit Entsetzen fest.
Zita lachte leise, aber er ließ es sich nicht anmerken. "Du musst halt aufpassen, wo du mit deinen Sandalen hintrittst. Hier ragen überall Wurzeln aus dem Boden und warten nur auf ein neues Opfer, dass..." Zita blickte stutzig auf den Boden vor ihm. Etwas glitzerte dort. "Was ist denn das hier?" fragte er sich, während Zaso nachschaute.
Mit einem neugierigen Blick hob er zwei harte, unförmige Dinger auf. Sie bestanden beide aus einem schwarzen Überzug mit zwei ovalen Gläsern, die links und rechts in einem Gestell eingebaut waren. "Das erinnert mich an eine Erfindung von Zekalo. Es sah genau so aus und sollte das Licht davon abhalten, unsere Augen zu durchdringen. Leider hat er es nie fertiggebaut, da es nicht so recht funktionieren wollte."
Die Kreatur hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und schaute sich diese Gegenstände eine Minuten stillschweigend an. Ein trauriger Blick verzerrte das sonst sehr gefühlslose Gesicht des Wesens und er kniete sich nieder und senkte seinen Kopf. Eine Träne bahnte sich ihren Weg auf das Glas und glitzerte durch das Licht auf.
"Was hast du denn?", fragte Zaso.
Ein betrübtes Gesicht schaute zu ihm auf: "Hier war er also. Es ist die gleiche Form wie bei meinen Lichtgläsern."
Verunsichert schaute Zaso zu Zita hinüber. "Was meinst du mit >Er war hier<?"
Die Erinnerungen schossen auf einmal in dem Wesen hoch: "Mein Vater! Er war hier."
Die beiden Freunde waren verwundert aber doch froh, dass er sich langsam wieder erinnerte.
"Es ist sein Lichtglas, ich weiß es, sieht genauso aus wie meins. Nach etlichen Jahren habe ich endlich einen Hinweis gefunden, er ist nicht am Tag des Schicksals gestorben, wie ich es glaubte."
Der Fund dieses Gegenstandes war ein glücklicher Zufall, ein sehr großer Zufall wohlgemerkt. Auf dieser großen Wiese so etwas zu finden, grenzt an ein Wunder.
Zita konnte sich nicht erklären, wie der schwache Geist es schaffte, die Erinnerungen wieder zurückzubringen. "Vielleicht brauchst du gar nicht die Hilfe von Zekalo, dein Gedächtnis scheint sich wieder zu füllen."
Das Geschöpf erhob sich und breitete seine Flügel aus. Wiedereinmal schienen die Schmerzen verschwunden zu sein. Doch er wollte gar nicht fliegen, nur seine Wunden überprüfen. Vor nicht all zu langer Zeit waren sie noch tief, aber sie schienen nun fast geheilt. Auch die Körperwunden waren gut zusammengewachsen, dank Zitas Hilfe und der rätselhaften Medizin, mit der sich das Wesen die Wundmale beschmiert hatte.
"Ja! Es ist unglaublich! Dieser Moment, als die Erinnerungen mich überrollten war wie ein kühler Schauer gewesen. Ich sah die Bilder vor mir, meine Heimat, meine Eltern, alles! Ohne euch hätte ich sicher nie dieses Glas gefunden, einen Beweis, dass mein Vater hier war. Er hat es tatsächlich geschafft."
Zaso hörte zwar gerne zu, aber er drängte: "Entschuldigung wenn ich unterbreche, aber ich befürchte wir haben wieder den Morgen vergessen. Wir müssen uns jetzt einen Unterschlupf suchen, wir schaffen es niemals zum Wald vor dem großen Lichteinfall."
Das Wesen  reichte beiden jeweils eines seiner Lichtgläser.
"Was sollen wir damit?", fragte Zita.
"Es tut mir leid, dass es mir vorher nicht eingefallen ist. Aber du hattest Recht, als du von Zekalos Erfindung sprachst. Diese Gläser schützen die Augen vor einem zu starken Lichteinfall. Ihr könnt diese beiden nehmen. Ich habe noch einen Ersatz in meiner Tasche." Mit diesen Worten holte er ein weiteres dieser Lichtgläser heraus. Dieses sah aber anders aus, mit bunten Verzierungen und Formen. Ohne langes Zögern setzte er es auf. Die beiden Freunde machten es ihm nach. Zita schien das Gestell auf Anhieb zu passen, nur bei Zaso rutschte es ständig von den Ohren weg. Doch nach ein paar Hilfen seines Kameraden hielt es auch.
"Wisst ihr was, ihr seht damit richtig cool aus."
"Cool?" fragten Zaso und Zita wie aus einem Mund.
"Ach so, ich meine damit, dass ihr richtig toll damit ausseht."
Beide sahen sich an und lachten.
"Und dieses ähhh Lichtglas schützt uns wirklich vor dem Licht?"
"Wenn es mich schützt, dann auch euch."
"Woher willst du das wissen? Wir haben sehr lichtempfindliche Augen und können nur in der Dunkelheit den schützenden Wald verlassen, du hingegen brauchst so etwas nicht", behauptete Zaso.
"Das mag zwar sein, aber ich konnte mit diesem Glas hier in das große Lichtzentrum sehen, ohne Schaden zu nehmen. Selbst ich würde es nicht ohne dieses hier wagen."
Das reichte Zaso als Begründung. "Hab‘ vielen Dank...ähhh. Ach so, du kannst dich ja nicht an deinen Namen erinnern."
Das Wesen schaute empört und stemmte seine kräftigen Arme in die Hüfte. "Natürlich weiß ich meinen Namen. Ich heiße Vios."
Die beiden Zynta freuten sich, endlich seinen Namen zu kennen.
Zaso fragte: "Dein Geist scheint sich wieder vollständig erinnert zu haben. Bei Zyntalas, bin ich froh."
Zita war überglücklich: "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du wieder zu dir selbst gefunden hast. Ich dachte schon, dass ich meine Schuld nie begleichen könnte."
Vios erwiderte: "Was? Schuld? Nein, ich bin sogar froh darüber, dass ihr mich gefangen habt."
"Warum das?"
"Nur durch euch habe ich eine Spur meines Vaters gefunden. Wisst ihr, mein Vater ist damals auf Erkundungsflug nach Osten gekommen um diesen Kontinent zu erforschen, doch er kam nie zurück. Jeder bei uns sagte, er sei tot, zerstört durch die Naturgewalten des großen Meeres. Doch ich glaubte niemals daran und habe bis zum heutigen Tag, nachdem ich diese schwere Reise hinter mir hatte, an Beweise für das Gegenteil gesucht. Dank euch habe ich jetzt endlich etwas gefunden."
Zaso freute sich für Vios, musste aber auch an seine Eltern denken: "Wenn ich nur irgendetwas von meiner Mutter erfahren würde. Jede Nacht, während der Jagd blicke ich zu den Sternen und bete sie um Rat, doch sie helfen mir nicht."
Zita setzte wieder seine >Spezialfähigkeit< ein: "Ach Zaso, ich bin sicher, dass du eines Tages deine Mutter wiedersiehst, ich weiß es und ich verspreche es dir." Das mit dem Versprechen war ihm zwar nicht so geheuer, aber noch mehr Tränen mussten seiner Meinung nach nicht mehr vergossen werden.
Vios hatte sich inzwischen die Verbände von den Flügeln entfernt. Die Wunden waren nun endgültig geheilt und er begann, sie zu bewegen. "So! Jetzt werfe ich diese Dinger ein für allemal weg. Die haben mir schon genug Probleme bereitet." Er zog die, sehr abgenutzt scheinenden, Sandalen aus und warf sie ins Gras. Dann ließen ihn seine kräftigen Beinen vom Boden abheben und in die Lüfte emporsteigen. Langsam gleitete er über die Zynta und flog mehrere Runden um das Wiesengebiet. Es machte ihm Spaß, nach so vielen Stunden endlich wieder ohne Schmerzen fliegen zu können.
"Komm Zita. Wir laufen lieber zum Dorf zurück. Ob nun mit oder ohne Lichtglas, die Zynta im Dorf machen sich sicher Sorgen. So lange waren wir noch nie fort."
Als sie loslaufen wollten erhob sich ein Schatten hinter ihnen. Ruckartig drehten sie sich herum: "Vios! Hast du uns erschreckt."
"Sorry, aber ich wollte euch fragen, ob ich nicht mit euch mitkommen kann. Obwohl ich nun meine Erinnerungen wieder habe, ist meine Kraft erschöpft und ich würde kaum den Weg nach Hause schaffen. Ich hoffe es macht euch nichts aus."
Die beiden Freunde waren zwar nicht ganz sicher, was die Dorfbewohner sagen würden, wenn ihr Glauben auf einmal durch dieses Wesen in Frage geriet, aber sie konnten Vios gut leiden und beschlossen daher zuzustimmen.
"Danke, ich fühle mich wirklich erleichtert. Zu Hause habe ich niemanden, der so freundlich zu mir ist, nicht mal meine Mutter."
"Wo wohnst du denn? Nie hat ein Zynta ein Wesen wie dich gesehen, seit dem Beginn des Lebens."
"Sag nicht immer Wesen. Ich bin ein Mitglied der Falcon-Rasse, die jenseits des großen Meeres im Wes...oh. Aufgepasst! Es beginnt."

"Genau in diesem Moment lösen sie die von dir beschriebene Lichtreaktion aus. Es muss ein atemberaubendes Schauspiel sein."

Aus dem fernen Osten kommend zog ein breites, helles Lichtband über den Himmel.
"Bei Zyntalas. Das Licht begrüßt den neuen Morgen. Unsere Augen werden erblinden!", schrie Zaso mit Entsetzen.
"Beruhig dich! Wir haben doch die Lichtgläser von Vios", vertraute ihn Zita an.
"Hoffentlich halten die auch wirklich das Licht von unseren Augen fern."
Vios erhob sich wieder in den Morgenhimmel: "Schaut euch dieses Schauspiel an, ihr werdet die ersten Zynta sein, die es unbeschadet erleben. Ihr werdet Geschichte machen."
Seine Übertreibungen hatten zwar viel Bezug zur Realität, aber Zaso hatte trotzdem Angst.
"Mir ist das ja auch nicht geheuer, aber wir können eh nichts mehr tun."
Beide Zynta stellten sich dicht zusammen und hofften. Der helle Schein überzog die Wiese wie Farbe eine weiße Fläche. Für einen kurzen Moment wurde die ganze Ebene erhellt und ein ungeschützter Zynta wäre dabei zu Schaden gekommen, selbst wenn er nach unten schauen und die Augen schließen würde.
"Zaso. Schau dir das an. Es ist wunderschön! Das Licht erfüllt alles mit Leben. Zaso?"
Er war verschwunden. Das Licht schien nachzulassen.
"Was? Das Licht ist nur einen kurzen Moment so hell? Da..das ist unglaublich." Zita nahm das Lichtglas ab und blickte sich um. Die Wiesen und Wälder schienen noch imposanter zu sein als vor ein paar Minuten. Zitas Augen waren in Ordnung und hatten keinerlei Schaden vernommen. Es war ein wunderbarer Anblick außerhalb des Waldes. Doch Zita interessierte jetzt, wo Zaso war.
Vios, der in der Luft Pirouetten drehte, rief: "ZASO! WO WILLST DU HIN?"
Unter Vios rannte Zaso wie von einem Xelberka gejagt ziellos durch die Gegend: "Das Licht wird mich vernichten, es wird..." Er hielt inne.
Vios landete neben Zaso und nahm ihm das Glas ab. "Schau Zaso. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Das Lichtzentrum hat den Planeten umkreist, der Morgen ist angebrochen und der Tag beginnt."
Zaso schaute sich unsicher um. "Wa..was? Das Licht schadet uns nicht. Wie ist das möglich. Jeder der es jemals auf freiem Feld gesehen hat, ist erblindet."
Zita ist nun auch zu ihnen geeilt und schnaufte: "Bei Zyntalas. Hast du mir einen Schrecken eingejagt. Ich kann dir vielleicht sagen, warum die anderen nicht so viel Glück hatten. Jeder Zynta, der es je versucht hat, hat direkt in das grelle Morgenlicht gesehen, nachdem die Nacht zu Ende war. Anders kann es nicht sein."
Vios fügte hinzu: "Genau so wird es gewesen sein. Nur das Lichtzentrum ist augenschädlich, sogar für uns. Solange ihr nicht direkt in die Lichtbündel schaut, kann euch gar nichts mehr passieren."
Es war doch keine Übertreibung als Vios sagte, dass sie in die Geschichte eingehen würden. Sie waren wirklich die ersten Zynta, die dem Todesfeuer direkt gegenüberstanden.
"Dieser Traum!", erinnerte sich Zaso. "Ich habe von diesem Moment geträumt. Ich träumte von meinen Eltern, als plötzlich ein unförmiges Wesen vor mir stand."
Zita sagte: "Das, was in den Weltraum geflogen ist. Was war das nur?"
Vios überlegte: "Irgendwo habe ich sowas schon mal gesehen, wirklich, aber mir fällt es nicht ein."
Zaso fuhr fort: "Dann träumte ich von einem großen Feld ohne Bäume und vom Licht. Das war die Morgendämmerung! Das ist verrückt."
Zita lächelte: "Du hast eben hellseherische Fähigkeiten."
"Wenn du meinst, Zita. Aber lass uns jetzt zurück ins Dorf gehen. Ich will nicht wissen, was die anderen Zynta sich alles ausmalen."
Zita stimmte zu: "In Ordnung. Vios, es ist am besten du fliegst in einiger Entfernung von uns. Falls wir auf Zynta stoßen wäre die Reaktion sicher nicht gerade erfreulich."
"Du hast leicht reden. Meine Flügel sind müde. Lange werde ich sicher nicht mehr in der Luft bleiben können."
"Versuch es einfach, alles klar?"
"Na gut."
Da Vios in der Luft agiler war als auf dem Boden konnten die beiden Zynta ihr Schritttempo erhöhen und rannten jetzt mit schnellen Schritten Richtung Wald. Sie konnten es noch immer nicht fassen, was sie in dieser Nacht alles erlebten. Doch eins war sicher: So schnell würden sie das nicht vergessen.
Einzelne Wolken überzogen den sonst klaren Himmel. Zita, Zaso und Vios erreichten endlich den dichten Wald.
"Endlich sind wir da! Das Dorf ist nicht mehr weit", rief Zita erleichtert. Die Birados zogen über die Bäume und Vios schloss sich ihnen sofort an. Sie kamen an dem Feld vorbei, das kürzlich zerstört wurde.
"Wow! Was ist denn hier passiert?", rief der Falcon den beiden zu.
"Das erzählen wir dir später. Jetzt müssen wir erst mal eine Möglichkeit finden, dich ungesehen zu Zekalo zu bringen."
Mit einer etwas beleidigten Miene flog er wieder los und machte eine großen Bogen um die freie Fläche, da er dort gut sichtbar gewesen wäre. Zaso beneidete Vios um seine Flugfähigkeit. Wie gerne würde er dort oben die Welt betrachten und den Wind an seinem Körper spüren. Aber leider war das unmöglich, da er keine Flügel hatte.
"Einen Moment..."
Zita zuckte zusammen als in einem Moment sich die mächtigen Klauen auf seine Schulter legten. Er drehte sich in einer ruckartigen Bewegung um und schnellte zurück als seine Schnauze unsanft Bekanntschaft mit Vios Schnabel machte. "Naua meihne Njase, knanst dnu njicht snagen wenn dnu dich sno heranschneichst."
"Sorry, aber was... Da kommt jemand!"
Zita lenkte seinen Blick in die Richtung der schattenhaften Gestalt, die immer näher zu ihnen durch das Unterholz kroch. Er war im Begriff Vios zu warnen, doch die Stelle an der er den jungen Falcon zuletzt erblickt hatte, war leer, nur ein paar tiefe Krallenabdrücke und  bedächtig zu Boden fallende Federn zeugten von seiner Existenz.
"Er ist weg, einfach verschwunden!" Kaum ausgesprochen, hätte er sich wieder auf die Zunge beißen können. Hatten ihn die Geschehnisse der letzten Stunden so mitgenommen, dass er die Kontrolle über bestimmte Situationen verlor? "Natürlich...", sagte er sich selbst. Er hatte mehr Emotionen erlebt, die man innerhalb von "...wie viel Stunden waren es eigentlich?", durchstehen konnten. Trauer, Freude, Überraschung alles durchtränkte immer noch seine Gedanken. Wenn Vios nicht dicht neben ihm ging, flog, hinweg gleitete "...was weiß ich nicht alles...", dann glaubte er alles das sei nur Bestandteil eines großen schönen Traumes. Und dann die Gewissheit, dass es nicht so war, eine Gewissheit, die ihn die ganzen Stunden begleitete. Er wusste/wollte dass der riesige Birados am Leben war, er wusste/wollte ihm vertrauen, ihm helfen, wie er Zaso die Jahre immer geholfen hatte. Es war in ihm, diese Gewissheit. Er wusste nicht woher, aber sie war da, immer.
"Na, ihr seid ja schöne Jäger!".
Der glasige Ausdruck in Zitas Augen wich von einem Augenblick auf den anderen von seinem Gesicht.
"Natürlich ist er weg!"
"Zuko!"
Ein selbstsicheres Grinsen auf dem Gesicht des Zynta zeigte die gefährlichen Reißzähne, die bei Zuko besonders ausgebildet waren. Zaso fletschte die seinen und ein tiefes Grollen stieg ihm den Hals hinauf.
"Moment, ich will keinen Ärger machen!" Er hielt die Pranken in einer übertrieben gespielten Abwehrhaltung von sich gestreckt. "Aber ein bisschen dumm finde ich das schon, dass ihr den Birados habt entkommen lassen, obwohl er euch so dicht am Rücken herumgeflattert ist. An deiner Stelle hätte ich ihn mir geschnappt und ihn an seinem Hals zum Dorf gezerrt, wo er sein letztes Urteil bekommen hätte. Hä, hä! Gäbe bestimmt ein Festessen für den Zeitraum von 7 Monden ab!"
Zaso ging gar nicht auf das Geschwafel ein und übernahm die Redeführung, da Zita im Moment doch sehr mit sich selbst beschäftigt schien. "Musst du nicht die Arbeit auf den Feldern überwachen?"
Obwohl Zuko die Arbeit auf den Gemeinschaftsfeldern organisierte und beaufsichtigte, war die Jagd sein zweites Aufgabengebiet. Die Tatsache, dass er mit Zopasa verwandt war, rettete ihn aus manch misslicher Lage. Zuko brachte Beutetiere eher halbtot statt betäubt ins Dorf. Nur das notwendige Töten durch den Dorfältesten, bevor sich Zyntalas Geschöpfe ihren ‚natürlichen‘ Tod hingaben, bewahrte ihn davor, verbannt zu werden. Zuko war neben Zaso einer der besten Jäger, aber seine Methoden waren brutal und das war die dritte Gegebenheit, welche Zaso aus tiefsten Herzen verabscheute.
"Ich musste nach euch Ausschau halten. Falls ich euch nicht erspähen sollte, würde eine Suchtruppe nach euch angesetzt, wenn das nicht schon geschehen ist. Der Dorfrat macht sich schon große Sorgen. Wird mächtig Ärger geben." Sein Blick durchbohrte Zita. "Besonders für dich, Einfallspinsel. Zekalo war die Person, die sich die größten Sorgen gemacht hat. Vielleicht denkt er, dir sei die Zeremonie zu Kopf gestiegen." Zukos Blick senkte sich auf die Krallenabdrücke. Er schwang herum währenddessen er weiter vor sich hin murmelte. "Einfach entkommen lassen, tststs..."
"Warum nur, das Leben könnte so schön..." Zita beendete diesen Satz nicht und begann einen neuen: "Komm verschwinde von hier!" sagte er in einem, für die Situation ungewöhnlichen, Ton.
Zuko grinste: "Willst du mir etwa mit diesen Worten Angst machen. Hu! Jetzt fürchte ich mich aber. Hähähähä..."
Zita wurde wütend: "Mach dich nicht über mich lustig! Und nenn mich nie wieder Einfallspinsel. Du bist nichts weiter als ein Angeber, nichts weiter. Glück magst du zwar haben, aber bestimmt mehr als Verstand."
Zuko ballte seine Pranken zu einer Faust zusammen und fletschte die Zähne: "So was lasse ich mir nicht gefallen!"
Als er zum Angriff auf Zita ansetzte, wurde er auf halber Strecke aufgehalten.
"STOP!"
Zuko fuhr erschreckt zusammen.
"Versuch gar nicht erst dich zu wehren, du könntest dabei draufgehen", schrie die Gestalt.
"HILFE!!!!!" Mit einem Riesentempo flüchtete Zuko in Richtung Dorf.
Zaso, der gerade eingreifen wollte, stieß mit der Gestalt zusammen, die sich im Schatten hielt. "VIOS!", rief er erstaunt. "Wir dachten du bist davongeflogen."
Vios tat empört: "Was? Nach allem was wir zusammen durchgemacht haben, werde ich doch nicht einfach so davonfliegen!"
Zita war überglücklich: "Danke, dass du Zuko vertrieben hast. Ich kann diesen Besserwisser nicht ausstehen. Der ist völlig durchgedreht, kann keine Kritik vertragen."
Vios nickte: "Solche Idioten gibt es bei uns auch. Und die sind noch viel schlimmer als euer Kollege. Wenn denen was nicht passt, kann es manchmal tödlich ausgehen."
Zaso fuhr erschreckt hoch: "Bei Zyntalas! Es gibt bei dir wirklich welche, die den Lebewesen die Existenz nehmen, ohne Grund? Gibt es bei euch keine Regeln dafür?"
Vios senkte den Kopf: "Doch! Man lebt nach solchen Verbrechen viele Jahre in einem Arbeitslager, in dem man hart arbeiten muss."
"Aber... das ist doch keine gerechte Strafe für einen Mord."
"Das darfst du mir nicht sagen. Wenn die Strafen härter wären, dann..." Vios schluckte und sagte mit einer leisen Stimme: "Dann wäre ich jetzt nicht hier."
Die beiden Zynta schauten verwundert in das hasserfüllte Gesicht von Vios. "Ich verstehe nicht ganz.", sprach Zita. "Was soll das heißen?"
"Ich möchte jetzt nicht darüber reden, ihr würdet es sicher nicht verstehen."
Zita wollte ihn nicht noch weiter aufregen und wechselte schnell das Thema, während sie ihren Weg zum Dorf fortsetzten.
"Ich muss dich etwas fragen, Zita", sagte Vios, als er gerade die Flügel ausbreiten wollte. "Bist du ein Abkömmling eines Geisteswissenschaftlers."
Zita, dessen Identität eigentlich niemand erfahren durfte, stimmte Vios zu: "Wenn du damit einen unserer Gelehrten meinst, dann hast du recht. Aber niemand darf das sonst wissen, außer Zaso und du." Auf die Frage "Warum?" erklärte ihm Zita die Folgen davon.
"Und in dieser Gilde lernen junge Zynta die Magie?"
"Nur die, die mit den Gelehrten verwandt sind. Zekalo macht bei mir eine Ausnahme und bildet mich persönlich aus. So brauche ich nicht in diese Gilde zur Ausbildung."
Vios Neugier stieg: "Welche Arten der Magie lernen die Zynta eigentlich?"
"Die geistige und körperliche Heilung ist die Magie, die jedem Lehrling zuerst beigebracht wird. Wunden und geistige Verwirrung können damit geheilt beziehungsweise gelindert werden. Leider sind meine Magiekenntnisse nicht so gut, wie meine Kräuterkunde, sonst hätte ich deine Wunden sicher schneller heilen können. Die anderen Magiearten werden kaum genutzt, da sie sehr an der eigenen Lebenskraft zehren. So ist die Auraübertragung eine sogenannte >Notfallmagie<."
Zaso meinte: "Bei einem schlimmen Alptraum zum Beispiel."
Zita nickte: "Genau. Den Alp zu vertreiben ist schwerer, als man annimmt und es braucht eine enorme Menge an Energie. Einmal hatten es die Gelehrten geschafft, zwei Mäntel zu fertigen, die immun gegen das Licht waren, leider ging diese Technik verloren."
Zaso fauchte ärgerlich: "Und gerade meine Eltern mussten sich auf diese bescheuerte Expedition begeben."
Vios spürte den Zorn und fragte nicht weiter nach. Auch beschloss er, dicht über ihnen zu fliegen, um ihnen zuhören zu können. Wenn ein Zynta auftauchen würde, könnte er blitzschnell durch die Bäume nach oben abtauchen. Es war noch ein ganzes Stück bis zum Dorf, also führten sie ihre Unterhaltung fort.
Zita fragte: "Gibt es bei euch auch Magie?"
Vios murmelte etwas unverständliches und machte eine komische Handbewegung.
"Was... ZUKO?" Zitas >Erzfeind< stand vor den beiden Freunden. "Was willst du denn noch?" fragte Zaso zähnefletschend.
Ohne zu antworten stand er da, bewegte sich nicht.
"Verschwinde von hier!" Er rannte mit diesen Worten auf Zuko zu. Immer noch stand dieser wie versteinert da. "Hörst du schwer? Du sollst verschwinden!" Mit diesen Worten stieß er seine Faust in sein Gesicht. "Was ist das? Warum geht meine Faust durch das Gesicht durch?" Nun verschwand Zuko plötzlich, ohne eine Fluchtbewegung zu machen. "Was war das?" Zita wusste es auch nicht.
Vios lachte: "Ihr wolltet doch wissen, ob es bei uns Magie gibt, oder? Das war eine amüsante Antwort darauf."
Zita zeigte sich beeindruckt: "Unglaublich. Du kannst einfach Dinge und Lebewesen erscheinen lassen?"
"Nur ihr körperliches Bild und nur für kurze Zeit."
"Lernt ihr sowas auch bei Gelehrten?"
"Im gewissen Sinne schon, nur dass bei den Falcon jeder entscheiden kann ob und wann er die Magie erlernen will. Es ist keine Pflicht. Die Ausbildung ist sehr anstrengend, nicht für jeden Geschmack."
"Welche Arten der >schwarzen Kunst< gibt es denn bei euch?"
"Bei uns gibt es zwei verschiedene Magiegruppen. Zum einen die direkte Magie, dazu gehören zum Beispiel Heilungssprüche und die Manipulation der Umgebung. Falcon dieser Gruppe werden als Gewaltenherrscher bezeichnet. Dem überlegen ist jedoch die indirekte Magie, die weitaus stärker ist und daher auch beliebter. Zur dieser Gruppe gehört die Fähigkeit der Zukunftsbestimmung und die der Wirklichkeitsbeeinflussung."
Zaso folgerte daraus, dass Vios auch die indirekte Magie gelernt hat. Durch eine Realitätsveränderung hat er ein falsches Bild von Zuko erscheinen lassen.
"Falcon mit diesen Fähigkeiten nennt man Hohepriester, die auch die Ausbildung übernehmen."
"Also bist du ein Hohepriester?", fragte Zita.
Vios lachte: "Nein! Ich habe meine Ausbildung frühzeitig abgebrochen, der Ausbilder war zu streng. Bei jedem Fehler hätte er am liebsten die Einrichtung demoliert."
"Bei Zyntalas! Da hast du dich ja richtig entschieden.", meinte Zita fröhlich.
Vios meinte, dass Zita mehr zu der zweiten Form gehöre (aus den Ereignissen der letzten Stunden) und dass Magie bei den Falcon sehr selten sei.
Zita ließ sich davon nicht beeindrucken: "Wenn nur wenige eurer Rasse Magie beherrschen, dann gibt es in Notfällen doch kaum Hilfe."
Vios wollte gerade antworten: "Ich weiß, aber... Da! Schrittgeräusche. Ich hoffe, das ist nicht wieder euer Kollege."
Zita machte eine Handbewegung zu Vios. "Bleib in Deckung!"
Ein paar Zynta aus Gorlos Stamm kamen in ihre Richtung.
"Wir können es jetzt nicht riskieren entdeckt zu werden. Die würden uns sofort ins Dorf mitnehmen und uns mit Fragen überhäufen. Dann hätten wir keine Möglichkeit mehr, um Vios zum Gelehrten zu bringen", meinte Zita.
"Ich glaube eher, dass wir erst mal Mecker kriegen, da wir so spät sind", entgegnete Zaso.
"Ach erzähl nicht. Denen würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn sie uns träfen."
"Mir gefällt das zwar gar nicht, aber Vios wegen will ich keinen Ärger bekommen."
"Sei jetzt ruhig und schimpf nicht immer. Vios braucht unsere Hilfe, ob es dir nun gefällt oder nicht."
Grummelnd folgte Zaso seinem Freund und sie versteckten sich zwischen den dichten Bäumen. Vios überwachte das Geschehen in sicherer Entfernung.
"ZITA! ZASO! WO SEID IHR?", rief einer der Zynta. Es war Zelsa, Zitas Mutter, die sich mächtige Sorgen um die beiden machte. Eine weitere Gestalt trat aus dem Hintergrund hervor.
"Mach dir keine Sorgen, die finden wir schon wieder." Es war Zuska. Zekalo hatte ihn von seinen Schmerzen befreit.
"Vater?", stellte Zita erstaunt fest.
"Pssst! Nicht so laut, Zita." Plötzlich wollte auch Zaso nicht mehr entdeckt werden.
Der kleine Suchtrupp näherte sich ihrer Position und blieb kurz stehen. Zuska schaute in alle Richtungen, hielt kurz inne. Er schien etwas zu merken. Zita befürchtete, dass sein Vater sie gleich finden würde. Dieser lief nun hin und her, erreichte fast ihr Versteck und rief dann: "Da lang."
Sie gingen in entgegengesetzte Richtung weiter.
Zaso atmete auf: "Puh! Das war knapp. Jetzt lass uns hier schnell verschwinden, bevor sie... Was?..." Ein kalter Lufthauch kühlte Zasos Nacken. Langsam drehte er sich um. "Danke für die Abkühlung."
Vios ist für eine kurze Verschnaufpause gelandet und hatte ihn ungewollt erschrocken. Zita war inzwischen schon losgelaufen und die anderen folgten ihm, Zaso zu Fuß, Vios per Flügelschlag.
Als sie ins Dorfgebiet kamen suchte Zita nach dem fraglichen Geheimeingang zu Zekalos Hütte. "Irgendwo hier muss er sein, aber ich weiß es nicht mehr genau. Es ist schon Jahre her, seitdem ich dort war. Obwohl Zekalo mir davon erzählte, habe ich noch nie das Innere ohne ihn betreten. Ich weiß nicht, was da unten ist."
Zaso gähnte laut: "Ich bin hundemüde. So lange war ich noch nie wach."
Vios landete mit einem wahnsinns Bremsmanöver. "Beeilt euch! Eure Dorfleute sind hierher unterwegs!"
Zita hielt kurz inne. Dann ging er entschlossen zu einem großen Barup-Baum, an dessen Rinde ein kleiner Kreis geritzt war. "Das ist es. Dieses Symbol habe ich in diesen Baum geschnitzt, um ihn wiederzuerkennen. Zaso, wir müssen irgendwie die Klappe aufstemmen."
Sie versuchten es, aber es war zwecklos. Nachdem sie das Moos entfernt hatten kam ein Eisenschloss zum Vorschein, das nur mit einem speziellen Schlüssel geöffnet werden konnte.
"Mist! Nur Zekalo besitzt etwas, um den Eingang zu öffnen. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen."
Ihr neuer Falconkamerad kramte in seiner Gürteltasche und holte nach kurzer Zeit ein metallenes Stück Draht heraus. "Lasst mich mal da ran." Vios stocherte in dem Schlüsselloch herum und nach einem kurzen Klacken sprang das Schloss vom Riegel. "Sesam öffne dich", rief er.
"Die Suche war umsonst. Wir haben keine Spur von den beiden."
Zelsa und die anderen waren schon verdammt nah und so stemmte Zita mit aller Kraft die Klappe hoch: "Los Zaso, los Vios rein mit euch!"
"Und du, Zita?"
"Ich komme dann nach."
"Aber..."
"Das diskutieren wir später, los jetzt."
Zaso gab nach und zwängte sich in den engen Gang. Vios hatte mal wieder Probleme mit den Flügeln. Doch mit Nachhilfe von Zaso quetschte er sich auch noch hinein.
Zita wollte gerade hinterher als plötzlich eine Stimme vor ihm sagte: "Wir können nur hoffen, dass es ihnen gut geht."
Er ließ ruckartig den Deckel fallen und bedeckte ihn schnell mit Moos. Er schaffte es nicht, sich zu verstecken. Der Suchtrupp war schon zu nah. Also setzte er sich auf den Boden und versuchte, erschöpft auszusehen. Jetzt waren die anderen Zynta in Sichtweite.
Zelsa machte große Augen: "Da... Da ist jemand! Das... JA! ZITA!!!!!"
Besorgt eilten alle zu ihm.
 

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Und schon geht's zum 8. Kapitel: Alte Wunden
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Denkt bitte daran: auch diese Geschichte nimmt am Drachentaler-Wettbewerb teil.
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