The Neverending Tale von Christopher Batke
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Auf und davon

Still schweigend saß er auf einem Baumstumpf, um sich kurz auszuruhen. Er war jetzt zwei Stunden schnellen Schrittes unterwegs, nahm extra zahlreiche Umwege durch das Unterholz, um sicherzugehen, dass er keine Verfolger hinter sich hatte. Seine Atmung war trotz der dauerhaften Anstrengungen ruhig, ein Zeichen dafür, dass das schweißtreibende Training sich auszahlte. Für einen Moment konnte er die Konzentration und Anspannung lösen, einfach die schöne Landschaft und den herrlichen Frühlingstag genießen. Im Schatten der Bäume war es recht frisch, gepaart mit dem kühlen Wind, der ostwärts durch den Wald sauste, keine optimale Bedingungen für eine Pause.
Lass die Muskeln nicht kalt werden, umso schwerer ist es wieder in Tritt zu kommen.
Ghilthanas wiederholte im Inneren ständig, was ihm sein Großonkel für die Reifeprüfung mit auf den Weg gegeben hatte.
Ein sonniger Platz muss für die Rast her!
Rasch erhob er sich vom Baumstumpf und machte sich auf den Weg zur nahe gelegenen Lichtung am kleinen Keiler. Ständig auf seine Umgebung bedacht, versuchte er Unstimmigkeiten mit allen Sinnen zu erfassen. Doch bis auf das Vogelgezwitscher, die im Wind raschelnden Blätter und Nüsse sowie das Rauschen des näher kommenden Flusses konnte er nichts vernehmen. Der vom Tau feuchte Erdboden hatte mittlerweile seine dünnen Lederschuhe durchweicht. Doch daran hatte er sich längst gewöhnt. Zu festes Schuhwerk störte ihn mittlerweile nur. Nicht selten war er mehrere Tage am Stück in der Natur unterwegs. Dabei war leichte Bekleidung von entscheidendem Vorteil, wollte man sich rasch und fast unsichtbar fortbewegen.
An der Lichtung angekommen genoss Ghilthanas die ersten Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Er krempelte die Ärmel seiner Leinenweste hoch, verlangsamte seinen Schritt und ging Richtung Fluss. In Höhe des kleinen Keilers war die Strömung recht stark, da sich die Neigung bis zum Tal hin einige Kilometer erstreckte. Das Gischtwasser verhinderte, dass man sein eigenes Spiegelbild im Fluss erkennen konnte. Aber der junge Bursche war sich auch so darüber im Klaren, dass er nach den Strapazen der letzten Nacht ziemlich mitgenommen aussehen musste. Es war mit Sicherheit nicht verkehrt jetzt zu rasten, um für den letzten Teil der Aufgabe gewappnet zu sein.
Ruhig, fast übervorsichtig legte er seine Umhängetasche ab, zog seine Weste sowie sein Hemd aus und wickelte alles zu einem Bündel. Er legte es genau neben sich, um jederzeit einen Blick darauf zu haben. Dann sprang er vor auf einen aus dem Wasser herausragenden Fels, beugte sich etwas nach vorne und begann sich mehrere Schwall’ des eiskalten Nass ins Gesicht zu schleudern. Seine braunen, etwas mehr als schulterlangen Haare waren zu einem Zopf zusammen gebunden. So wurden lediglich ein paar Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, feucht. Kniend saß er auf dem Stein, spürte wie durch die kleine Wäsche schon die ersten Kraftreserven wieder aufgeladen wurden. Zur Sonne hoch blickend erkannte er, dass der späte Nachmittag seinen Lauf nahm. Bis zur Dämmerung waren nur noch wenige Stunden Zeit.
Vom kleinen Keiler an sind es noch rund drei Stunden bis Nerrio. In meinem bisherigen Tempo könnte ich es vielleicht in zweien schaffen, aber dafür müsste ich den direkten Weg nehmen. Das ist zu gefährlich.
Sein nachdenklicher Blick richtete sich wieder auf sein Bündel.
Dieses Mal werde ich es schaffen!
Ein Vogel erweckte Ghilthanas Aufmerksamkeit. Geschmeidig und elegant ließ dieser sich durch die wechselhaften Böen tragen. Langsam schien er sich in Kreisbahnen dem Erdboden zu nähern. Im Sonnenlicht glänzte ein Teil des Gefieders golden.
Ein Elduar hier?
Die majestätischen Elduar waren ansonsten ausschließlich in den Gipfelregionen zu finden. Ausgewachsene Exemplare konnten durchaus eine Spannweite von bis zu zwei Metern erreichen. Doch dieser über Ghilthanas gleitende schien noch deutlich kleiner zu sein. Das rot-goldene Gefieder sowie der lange Schweif ließen aber keinen Zweifel: Es musste ein Elduar sein. Plötzlich holte es rasch zu einem kräftigen Flügelschlag aus und begann sich in die Tiefe zu stürzen.
Überrascht beobachtete Ghilthanas das Geschehen, immer noch auf dem Stein kniend, bis er zwei Atemzüge später erkannte was der Elduar vorhatte.
"Nein, halt! Das Wappen ... Du ..."
Doch da war es bereits zu spät. Bis er aufgesprungen und zum Ufer herübergehechtet war, verschwand der fliegende Dieb bereits wieder in luftige Höhe. In Windeseile hatte es mit seinen Krallen das Bündel des Burschen gepackt.
"Bleib gefälligst hier! Ich lasse mir doch nicht alles durch ein gefiedertes, verirrtes Etwas kaputt machen."
Aufbrausende Wut ließ Ghilthanas Beine wie am ersten Tag der Prüfung loseilen. Wut, die vor allem auf sich selbst abzielte.
Lass niemals das Wappen aus den Augen! Trage es am besten Tag und Nacht bei dir, wenn du es erst einmal ergattern konntest!
Ein aus den Tiefen seiner Kehle kommender Schrei hallte in den Wald hinein und schreckte einige Kleintiere auf. Nach einigen hundert Metern vollem Spurts brannte seine Wadenmuskulatur. Der Brustkorb hob und senkte sich rasch, in unregelmäßigem Rhythmus. Zahlreiche Äste zerbrachen unter den Füßen des rasenden Jungen. Fast hätte er sich sogar in einem Gestrüpp verfangen. Doch auch so schien es ausweglos. Mit dem Elduar konnte er nicht lange Schritt halten. Selbst wenn ihm das möglich gewesen wäre, wie hätte er er hoch genug kommen sollen, um sein Bündel samt dem, sich in der Umhängetasche befindlichen, Wappen zurück zu ergattern?
Aus der Wut entwickelte sich langsam Verzweiflung. Die Reifeprüfung nicht zu bestehen war das eine, doch das Dorf-Wappen zu verlieren würde einer mittleren Katastrophe gleich kommen. Selbst der Verlust der gesamten Ernte würde diesem Szenario nicht gleich kommen.
Gerade in diesem Moment begann sich der Waldboden stark nach unten zu senken. Den Blick immer noch gen Himmel gerichtet verlor Ghilthanas vor lauter Geschwindigkeit das Gleichgewicht, kippte kopfüber die Schräge hinunter und schlitterte auf dem feuchten, leicht matschigen Waldboden noch einige Meter nach unten. Sein freier Oberkörper fing sich bei der unfreiwilligen Rutschpartie eine Schürf- und Schnittwunden zu. Doch kaum zum Stillstand gekommen richtete er sich auf, wandte den Blick voller Demut hinauf zu den wenigen Wolken, in denen der Elduar verschwunden war.
"Das wirst du bereuen", schoss der Junge mit giftigen Worten nach oben. Dann war am Himmel nichts mehr zu sehen. Fassungslos stand er da, am Fuße des kleinen Abhangs. Völlig entmutigt und mit zunehmender Angst vor der bevorstehenden Konfrontation mit den Bewohnern Nerrios, insbesondere seinem Großonkel, machte er sich auf den Heimweg...
 
© Christopher Batke
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Und schon geht's hier weiter zum 2. Kapitel: "Schmach"...

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