The Neverending Tale von Christopher Batke
- 02 -
Schmach

"Was hast du, mein Liebster? Ich sehe doch genau, dass dich schon seit mehreren Tagen etwas bedrückt."
"Ach Jolinn", säuselte Keltson vor sich hin, den Blick gen Horizont gerichtet, "es ist nichts weiter. Der Junge, du weißt doch, dass ich mir wünsche, dass er die Prüfung besteht."
"Er wird es schon noch früh genug schaffen. Du weißt doch selbst am besten, dass in seinem Alter noch nie jemand so weit war. Da ist doch noch mehr, was dein Gemüt beschwert. Das letzte Mal habe ich dich so betrübt gesehen ... ich habe dich eigentlich noch nie so betrübt gesehen!"
Keltson konnte seiner Gattin nichts vormachen, das wusste er. Aber er konnte ihr auch nicht genau sagen was geschah, da sein Geist selbst noch nicht die weit entfernten Geschehnisse zu deuten vermochte. Eins jedoch war klar:
"Jolinn", noch immer konnte er die Augen nicht vom Horizont trennen, "Jolinn meine Teuerste, das Land ist im Umbruch. Etwas bewegt sich, etwas so gewaltiges, dass es mich sogar hier und jetzt erreicht. Meine Träume sind schon seit vielen Jahren schwermütig, aber jetzt ereilt mich selbst tagsüber ein kalter Schauer, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt."
Jolinn legte ihrem Ehemann beide Hände tröstend auf die Schultern. Sie verstand nicht genau, was ihr soeben beschrieben wurde, aber die Last, die Keltson so bedrückte, spürte sie ohne jedwede Einschränkung.
Ein Hammerschlag, so gewaltig, dass er das Land erschüttern wird.
"Vielleicht fällt es dir weiterhin einfach schwer zu akzeptieren, dass deine Pflicht erfüllt ist. Du hast dem Lande wohl gedient und unzählige Jahre deines Daseins geschenkt. Ein Teil von dir sehnt sich zurück zu diesen Tagen, als tagtäglich Großes von dir verlangt wurde."
Ein Hammerschlag mit weitreichenden Folgen.
"Jetzt sei nicht so ein alter Griesgram. Die Frist ist bald verstrichen. Ghilthanas wird heimkehren und wir sollten ihm einen festlichen Empfang bereiten. Meinst du, dass er es diesmal schaffen wird?"
"Es würde mich wundern. Er ist ein cleverer Bursche und hat in den letzten Jahren viel gelernt. Allerdings ist es ein wenig verrückt, dass er schon in so jungen Jahren die Reifeprüfung bewältigen möchte."

Keltson konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ghilthanas überraschte ihn von Jahr zu Jahr mehr. Die Reifeprüfung absolvierte man eigentlich im 22. Lebensjahr. Der Ablauf war dabei jedes Mal der Gleiche. Zunächst wurden drei Dorfbewohner bestimmt, die das traditionelle Dorfwappen in die Wildnis führten. Diese, auch Fahnenträger genannten, bekamen dann einen Tag und eine Nacht Fußmarsch Vorsprung. Die Aufgabe für den Anwärter bestand darin, ohne Verpflegung aufzubrechen, die Fahnenträger aufzuspüren, ihnen auf beliebige Art und Weise das Wappen abzunehmen und es bis zum Sonnenuntergang des fünften Tages wieder zurück nach Nerrio zu bringen. Ghilthanas brannte darauf die Prüfung so bald als möglich abzulegen. Seinen ersten Versuch startete er mit 15 Jahren. Viele Dorfbewohner hatten für seinen Wunsch nichts weiter als ein müdes Lächeln übrig, konnten sie die Ernsthaftigkeit hinter Ghithanas Absichten doch vollends erkennen. Dank der Unterstützung durch seinen Großonkel Keltson, wurde er jedoch zur Prüfung zugelassen. Wie jeder erwartete, konnte der junge Bursche seine hohen Erwartungen nicht erfüllen. Die Fahnenträger kehrten am fünften Tage heim, samt Wappen. Doch zur Verblüffung aller wurden sie Tag und Nacht auf Trab gehalten. Ghilthanas war ihnen bis zum Schluss direkt auf den Fersen. Im kommenden Jahr sollte er seinen zweiten Versuch starten und schaffte es nun im Alter von 16 Jahren sogar, die Fahnenträger aufzuspüren und kurzzeitig das Wappen sogar in der Hand zu halten. Allerdings blieb es ihm verwehrt, das Lager der Fahnenträger samt selbigem zu verlassen. Im Kampf nahmen sie es ihm wieder ab, so dass er auch dieses Mal mit leeren Händen heimkehren musste. Es dauerte mehr als zwei Wochen ehe er sich von den Verletzungen erholt hatte. Die raue Umgangsart war jedoch nichts Außergewöhnliches. Wer Anerkennung erlangen wollte, musste etwas Besonderes leisten. Die Tugenden des Landes waren von entscheidender Bedeutung: Stärke, Durchhaltevermögen, Wille und Zähigkeit. Der Sinn der Reifeprüfung war es herauszufinden, ob die Anwärter in der Lage waren, die schwierigen Lebensbedingungen, die in diesem Land herrschten, zu meistern.
Ghilthanas scheiterte auch beim zweiten Versuch, auch wenn seine gebrachte Leistung für sein Alter höchst respektabel war. Man bewunderte seinen Ehrgeiz und den Mut selbst im Kampf gegen drei nicht zurückzustecken.
Nun lief der dritte Anlauf und zum Abend des fünften und letzten Tages versammelte sich fast die gesamte Dorfgemeinschaft am Ufer des Pulfir, der Wasser spendende Fluss, der direkt vor dem Ortseingang daher floss. Jolinn und Keltson bereiteten ein größeres Lagerfeuer vor, dessen Glut schon langsam vor Hitze knisterte.
Derweil setzte Walwam, der ortsansässige Wirt, seinen ominösen Eintopf über einem kleineren Feuer auf. Der Kessel war groß genug, um das halbe Dorf damit zu beköstigen. Eben so viele Anwohner warteten schon mit Freude auf den anstehenden Gaumenschmaus. Da Walwam seine Rezepte stets mit fast schon überzogener Geheimniskrämerei bewahrte, wusste niemand so genau aus welchen Zutaten dieses Mahl eigentlich bestand. Doch der angenehm würzige Duft sowie der herzhafte Geschmack sorgten dafür, dass jeder diesen traditionellen Eintopf einfach genoss. In Nerrio wurden über das Jahr gesehen einige Feste gefeiert, jedes Mal war Walwams "Munghwo", wie es alle nannten, ein fester Bestandteil.

Die Dämmerung setzte langsam ein und unter den Dorfbewohnern stieg die Anspannung sichtlich. An jeder Ecke wurde über Ghilthanas Erfolg oder Scheitern heiß diskutiert.
"Niemals wird er es schaffen. Selbst wenn er die Fahnenträger wieder einholen sollte, was diesmal auf Grund erhöhter Vorsichtsmaßen sowieso nicht klappen wird, wird er sich wieder dem Kampf stellen müssen. Er hat keine Chance!"
"Der Bursche ist clever und er bereitet sich nun schon seit drei Jahren darauf vor. Mittlerweile kennt niemand die Wälder so gut wie er. Ich glaube, er hat eine echte Chance."
Aus den vereinzelten Diskussionen entwickelte sich ein großes Gesprächswirrwarr, das Keltson nur amüsiert beobachten konnte. Er hielt sich etwas abseits des Geschehens, beobachtete lieber den Waldrand und wartete darauf die Fahnenträger oder eben Ghilthanas zu erspähen. Derweil hatte es sich schon spürbar abgekühlt. Auch im Frühling war es zu später Stunde selbst im südlichsten Teil des Kontinentes, in dem sich Nerrio befand, durchaus kühl. Ein mäßiger Wind zog über den Teich hinweg und wirbelte einige gelb- und rosafarbene Blüten auf.
"Seht doch, dort oben, die Fahnenträger kommen aus Richtung Gebirge!"
Mit einem Mal verstummten die hitzigen Gespräche. Die komplette Masse richtete die Blicke gen Norden. Hatten die Fahnenträger das Wappen? War Ghilthanas erneute gescheitert? Oder war ihm tatsächlich das Unmögliche gelungen? Trotz der bisherigen Fehlversuche wäre er der mit Abstand jüngste erfolgreiche Anwärter aller Zeiten gewesen. Damit würde er selbst beim großen Turnier in Dadrim für Aufsehen sorgen.
Da jeder so fixiert auf die heran schreitenden Fahnenträger war, merkte niemand, dass Ghilthanas von der anderen Seite des Ufers sich dem Endpunkt seiner Prüfung näherte.
Seht es euch an, das ganze Dorf steht bereit mich für meine Schmach zu verurteilen. Wie soll ich es bloß erklären?
Gunnar, Inhaber des Dorfvorsitzes, holte einmal tief Luft um das obligatorische Horn-Signal zu geben. Die Menge bemerkte erst jetzt den erschöpft nahenden Anwärter. Er und die Fahnenträger begaben sich in die Mitte des Platzes, um Gunnar gegenüberzutreten.
"Nun denn, das Ende des fünften Tages ist gekommen. Die Frist der Reifeprüfung ist abgelaufen. Fahnenträger und Anwärter sind rechtzeitig zurückgekehrt. Übergebt mir das Wappen und berichtet vom Ergebnis der Prüfung."
Niemand rührte sich, die Fahnenträger blickten verwundert zu Ghilthanas.
"Es ist an der Zeit, übergebt mir das Wappen", wiederholte Gunnar sich mit energischen Unterton.
Leises Gemurmel machte sich in der Menge breit. Sollte er tatsächlich?
"Gunnar, es tut mir Leid", antwortete Ghilthanas merklich beschämt. Seine Stimme klang schwach und es dauerte einen Moment, ehe er dem Dorfvorsitz in die Augen schauen konnte. "Ich habe versagt."
 

© Christopher Batke
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Und schon geht's hier weiter zum 3. Kapitel: "Anhörung"...

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