The
Neverending Tale
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- 02 -
Schmach |
"Was hast du, mein Liebster? Ich sehe doch genau, dass dich schon seit mehreren Tagen etwas bedrückt." "Ach Jolinn", säuselte Keltson vor sich hin, den Blick gen Horizont gerichtet, "es ist nichts weiter. Der Junge, du weißt doch, dass ich mir wünsche, dass er die Prüfung besteht." "Er wird es schon noch früh genug schaffen. Du weißt doch selbst am besten, dass in seinem Alter noch nie jemand so weit war. Da ist doch noch mehr, was dein Gemüt beschwert. Das letzte Mal habe ich dich so betrübt gesehen ... ich habe dich eigentlich noch nie so betrübt gesehen!" Keltson konnte seiner Gattin nichts vormachen, das wusste er. Aber er konnte ihr auch nicht genau sagen was geschah, da sein Geist selbst noch nicht die weit entfernten Geschehnisse zu deuten vermochte. Eins jedoch war klar: "Jolinn", noch immer konnte er die Augen nicht vom Horizont trennen, "Jolinn meine Teuerste, das Land ist im Umbruch. Etwas bewegt sich, etwas so gewaltiges, dass es mich sogar hier und jetzt erreicht. Meine Träume sind schon seit vielen Jahren schwermütig, aber jetzt ereilt mich selbst tagsüber ein kalter Schauer, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt." Jolinn legte ihrem Ehemann beide Hände tröstend auf die Schultern. Sie verstand nicht genau, was ihr soeben beschrieben wurde, aber die Last, die Keltson so bedrückte, spürte sie ohne jedwede Einschränkung. Ein Hammerschlag, so gewaltig, dass er das Land erschüttern wird. "Vielleicht fällt es dir weiterhin einfach schwer zu akzeptieren, dass deine Pflicht erfüllt ist. Du hast dem Lande wohl gedient und unzählige Jahre deines Daseins geschenkt. Ein Teil von dir sehnt sich zurück zu diesen Tagen, als tagtäglich Großes von dir verlangt wurde." Ein Hammerschlag mit weitreichenden Folgen. "Jetzt sei nicht so ein alter Griesgram. Die Frist ist bald verstrichen. Ghilthanas wird heimkehren und wir sollten ihm einen festlichen Empfang bereiten. Meinst du, dass er es diesmal schaffen wird?" "Es würde mich wundern. Er ist ein cleverer Bursche und hat in den letzten Jahren viel gelernt. Allerdings ist es ein wenig verrückt, dass er schon in so jungen Jahren die Reifeprüfung bewältigen möchte." Keltson konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ghilthanas
überraschte ihn von Jahr zu Jahr mehr. Die Reifeprüfung absolvierte
man eigentlich im 22. Lebensjahr. Der Ablauf war dabei jedes Mal der Gleiche.
Zunächst wurden drei Dorfbewohner bestimmt, die das traditionelle
Dorfwappen in die Wildnis führten. Diese, auch Fahnenträger genannten,
bekamen dann einen Tag und eine Nacht Fußmarsch Vorsprung. Die Aufgabe
für den Anwärter bestand darin, ohne Verpflegung aufzubrechen,
die Fahnenträger aufzuspüren, ihnen auf beliebige Art und Weise
das Wappen abzunehmen und es bis zum Sonnenuntergang des fünften Tages
wieder zurück nach Nerrio zu bringen. Ghilthanas brannte darauf die
Prüfung so bald als möglich abzulegen. Seinen ersten Versuch
startete er mit 15 Jahren. Viele Dorfbewohner hatten für seinen Wunsch
nichts weiter als ein müdes Lächeln übrig, konnten sie die
Ernsthaftigkeit hinter Ghithanas Absichten doch vollends erkennen. Dank
der Unterstützung durch seinen Großonkel Keltson, wurde er jedoch
zur Prüfung zugelassen. Wie jeder erwartete, konnte der junge Bursche
seine hohen Erwartungen nicht erfüllen. Die Fahnenträger kehrten
am fünften Tage heim, samt Wappen. Doch zur Verblüffung aller
wurden sie Tag und Nacht auf Trab gehalten. Ghilthanas war ihnen bis zum
Schluss direkt auf den Fersen. Im kommenden Jahr sollte er seinen zweiten
Versuch starten und schaffte es nun im Alter von 16 Jahren sogar, die Fahnenträger
aufzuspüren und kurzzeitig das Wappen sogar in der Hand zu halten.
Allerdings blieb es ihm verwehrt, das Lager der Fahnenträger samt
selbigem zu verlassen. Im Kampf nahmen sie es ihm wieder ab, so dass er
auch dieses Mal mit leeren Händen heimkehren musste. Es dauerte mehr
als zwei Wochen ehe er sich von den Verletzungen erholt hatte. Die raue
Umgangsart war jedoch nichts Außergewöhnliches. Wer Anerkennung
erlangen wollte, musste etwas Besonderes leisten. Die Tugenden des Landes
waren von entscheidender Bedeutung: Stärke, Durchhaltevermögen,
Wille und Zähigkeit. Der Sinn der Reifeprüfung war es herauszufinden,
ob die Anwärter in der Lage waren, die schwierigen Lebensbedingungen,
die in diesem Land herrschten, zu meistern.
Die Dämmerung setzte langsam ein und unter den Dorfbewohnern
stieg die Anspannung sichtlich. An jeder Ecke wurde über Ghilthanas
Erfolg oder Scheitern heiß diskutiert.
© Christopher
Batke
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