Es herrschte allgemeine Konfusion. Die Fahnenträger waren augenscheinlich
ohne das Wappen heimgekehrt. Ghilthanas stand ebenfalls mit leeren Händen
da. Gunnar hielt die Menge zur Ruhe an und deutete den Fahnenträgern
das Wort zu ergreifen.
Lamey trat einen Schritt vor und berichtete. "Ghilthanas hat uns
nach kürzester Zeit eingeholt, es fiel uns schwer unseren Vorsprung
zu halten. Egal welchen Weg wir auch einschlugen und wie wenig Spuren wir
hinterließen, er kam uns näher. Als ob er für jeden unserer
Schritte nur einen halben zurücklegen müsste. Er kennt den Wald
mittlerweile wirklich sehr gut. Wie zuvor besprochen richteten wir am dritten
Tage das Lager ein. Wir stellten Fallen auf, wachten jeweils mindestens
zu zweit. Doch vergebens, denn in einer unachtsamen Sekunde muss er die
Taschen ausgetauscht haben. Wir haben es wahrscheinlich erst nach einigen
Stunden gemerkt, als der Bursche schon auf und davon war. Dieses Mal war
er also so clever und ist uns entwischt, hat dem direkten Aufeinandertreffen
vorgebeugt."
Ein Raunen zog sich durch die Menge. Was Lamey da beschrieb war
ein Erfolg in jederlei Hinsicht. Ghilthanas hatte die Prüfung gemeistert,
aber wo war das Wappen?
Keltson hatte sich derweil der Menge genähert, um kein Detail
zu überhören. Sein Blick ruhte auf seinem Neffen, der erschöpft
und voller Resignation da stand. Er hielt dem Blick Gunnars stand, doch
seine Schultern hingen schlaff herunter. Die Hände, auf dem Rücken
zu Fäusten geballt, waren angespannt, Ghilthanas linker Arm zitterte.
Es war die Wut, die er unterdrückte.
Gerade wollte Gunnars Mund neue Worte formen, doch da brach es aus
Ghilthanas heraus: "Ein Elduar stahl meine Tasche. Das Wappen ist weg,
ich habe es durch Unachtsamkeit verloren! Ich habe versagt, ich habe kläglich
versagt!"
Urplötzlich wurden seine Knie schwach, die Beine schienen ihn
kaum noch halten zu können, sein Blickfeld verdunkelte sich. Es war
wie ein Schleier, der sich langsam über das gesamte Geschehen senkte.
Einige verworrene Stimmen schienen sich immer weiter zu entfernen. Ghilthanas
verlor das Bewusstsein und fiel seitlich zu Boden.
.
"... zehn Stunden liegt er jetzt schon. Es wird Zeit, dass er endlich
etwas zu sich nimmt."
Seine Augen blinzelten zweimal kurz, doch noch war er zu benebelt,
um zu realisieren wo er war. Sein Körper schien bequem zu liegen,
ein Bett mit weichen Kissen. Doch die Erschöpfung ließ nicht
zu, dass er die Augen komplett öffnete. Die sträubten sich gegen
jederlei Dienst, so dass er sich die Mühe sparte und einfach liegen
blieb. Plötzlich senkte sich die Matratze ein wenig, eine raue Hand
berührte erst seine Stirn, dann die Wangen.
"Ghilthanas, kannst du mich hören?"
Die vertraute Stimme drang zu ihm durch. Er blinzelte erneut, schaffte
es dann sogar die Augen offen zu halten. Sofort kam seine Großtante
Jolinn herbeigeeilt und hielt dem Jungen ein Glas Wasser hin.
"Endlich bist du wieder wach. Ich habe mir schon Sorgen um dich
gemacht."
Er nahm das Glas und trank ein paar Schlücke. Kurz danach half
ihm Keltson sich aufrecht hinzusetzen. In seinen Erinnerungen grub er nach
den letzten Geschehnissen.
Die Versammlung, ich bin direkt vor Gunnar zusammengebrochen!
"Wie geht es dir, mein Junge?"
"Ich denke ganz gut. Wie lange liege ich schon hier?"
"Die ganze Nacht, was natürlich nicht verwunderlich ist. Nach
dem, was die Fahnenträger berichtet haben, musst du ein enormes Tempo
zurückgelegt haben. Mich würde es nicht wundern, wenn du die
gesamte Prüfung lang weder geschlafen, noch gegessen hast."
Ghilthanas starrte zum Fenster hinaus. Er hatte wahrlich keine Zeit
für solche Dinge gehabt. Wegen einer Unachtsamkeit hatte er alle Strapazen
umsonst auf sich genommen. Vermutlich hatten die meisten Recht, er musste
einfach noch ein paar Jahre warten. Noch solch eine Demütigung würde
er nicht ertragen.
"Ich habe versagt", sein Blick wanderte langsam zu Keltson.
"Erzähl nicht so einen Unfug. Du hast großes geleistet.
Das Dorf ist sehr stolz auf dich, ich bin sehr stolz auf dich!"
"Aber das Wappen, ich habe es verloren! Das ist beschämend
für unser Dorf, wie soll da irgendjemand stolz sein?"
Ein Lächeln zog sich über Keltsons Gesicht. Das Gleiche
herzliche und sanfte Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er Ghilthanas
beschwichtigen wollte. Es passte eigentlich gar nicht zu diesem Mann. Dem
starken Krieger und ehemaligen General der königlichen Garde. Er war
von Kämpfen gezeichnet, hatte immer noch eine Ehrfurcht erweckende
Statur. Doch dieses sanfte Lächeln offenbarte die herzliche Seite
des Mannes, der sich Ghilthanas vor vielen Jahren angenommen hatte.
"Du hast das Wappen nicht zurückgebracht, das ist wahr. Aber
gerade zu dieser Stunde berät sich der Dorfrat. Diese Situation ist
außergewöhnlich. Daher besteht die Chance, dass du die Prüfung
noch bestehen kannst."
"Ich kann was? Aber die Frist ist abgelaufen, der fünfte Tag
vollendet. Wie soll das möglich sein?"
"Die Reifeprüfung hat lange Tradition. Bisher galten die Regeln
als unantastbar. Aber lass uns doch auf die Entscheidung von Gunnar warten.
Er hat das letzte Wort in dieser Sache. Bis dahin solltest du dich erst
einmal stärken. Du hast mehrere Tage in Folge nichts gegessen. Walwam
hat uns extra eine große Portion seines Munghwo mitgegeben."
"Ich halte es sogar schon die ganze Zeit warm für dich! Mein
Junge, es wird wirklich Zeit, dass du sofort isst. Ich hole dir sofort
eine Schale voll."
Eilig begab sich Jolinn in die Küche, um Ghilthanas das wohlverdiente
Mahl zu holen und ans Bett zu bringen.
"Ich habe tatsächlich noch eine Chance? Das ist ja fantastisch!"
Seine Schmerzen waren wie verflogen, die Neuigkeiten versprühten
neuen Elan in seinem Körper. Keine Spur von Müdigkeit und dem
Verlangen nach Rast. Mit einem Ruck schwang er sich aus dem Bett und schleuderte
Keltson fast von der Kante.
"Wann kann ich Gunnar sprechen, wann wird er mich anhören?"
Keltson, der gerade erst sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte,
war nicht überrascht von der Reaktion. Trotzdem konnte er sich ein
herzhaftes Lachen nicht verkneifen. Er hielt die Hände vor seinen
Bauch. Der klang seiner tiefen Stimme erfüllte den ganzen Raum.
"Immer mit der Ruhe. Bevor dich irgendjemand anhört wirst du
einige große Löffel Munghwo verspeisen. Also setz dich wieder
hin und bedank dich bei deiner Tante, die seit mehreren Stunden den Kessel
warm hält."
Im selben Moment trat Jolinn samt Schale und Löffel vor das
Bett.
"Hier Ghilthanas, es ist noch mehr da. Ich kann dir jederzeit einen
Nachschlag holen."
"Danke, Jolinn."
Der Duft des köstlichen Eintopfes stieg in seine Nase und schlagartig
trat das Hungergefühl in den Vordergrund. Sein Magen knurrte so stark,
dass Keltson erneut lauthals auflachen musste. Schnell war die erste Schale
geleert, dann eine zweite. Während des Essens musterte Ghilthanas
seine Arme und Beine. Als der Elduar davon flog und er den Hügel hinunterstürzte
schien er sich doch einige Blessuren zugezogen zu haben. Besonders der
rechte Arm war übersäht von Schürfwunden und blauen Flecken.
17 Jahre jung, es ist beachtlich, was der Junge geleistet hat.
Gunnar wird ihm die Chance geben.
"Bis wir zu Gunnar gebeten werden, musst du erzählen, wie du
es angestellt hast. Dass du sie aufspürst habe ich erwartet, aber
du bist nicht in eine Falle getappt. Und sie haben nicht einmal bemerkt,
dass du die Taschen ausgetauscht hast. Ein genialer Schachzug übrigens."
"Nun ja, du hast selbst gesagt, ich müsse aus den Fehlern der
Vergangenheit lernen. Ein offener Kampf kam nicht in Frage. Und so habe
ich zwei Probleme zugleich beseitigt. Ich ersparte mir den Kampf und habe
einen Vorsprung dadurch bekommen, dass sie den Austausch nicht mitbekommen
haben."
Ghilthanas bemerkte erst jetzt mit welch leuchtenden Augen Keltson
ihn anblickte. Der Stolz war förmlich zu spüren, kroch unter
seine Haut und versorgte ihn mit angenehmer, wohliger Wärme. Zwar
hatte er die Prüfung nicht bestanden, doch im Vergleich zum Vorjahr
hatte er sich verbessert, das wurde ihm nun klar.
"Wann denkst du, wird Gunnar mich empfangen?"
"Nun ja, ich ..."
Plötzlich brach die Tür auf. Völlig außer Atem
spurtete ein schlacksiger Junge durchs Haus, vergaß sogar die Haustür
zuzumachen. Seine rot-braunen, kurzen Haare waren trotz der noch kühlen
Temperaturen nass vor Schweiß. Als er in Ghilthanas Zimmer ankam
stütze er im Stehen die Hände auf die Knie, beugte sich leicht
nach vorne und versuchte zu Atem zu kommen. Jolinn war wenig begeistert
von dem stürmischen Besuch. Sie schloss die Haustür und ging
ebenfalls in das Schlafzimmer.
"Also hör zu, Hal, das nächste Mal kannst du mich auch
anständig begrüßen und dich ein wenig gesitteter verhalten."
"Ich, ich ... Es tut mir Leid. Ghilthanas!"
"Hal, mein Freund. Es ist schön dich zu sehen. Beruhige dich
doch erst einmal, was ist denn passiert?"
Hal und Ghilthanas waren seit einigen Jahren gute Freunde und verbrachten
viel Zeit miteinander. Vermutlich wollte er ihn aushorchen und alle Datails
hören, dachte sich der immer noch auf dem Bett sitzende Ghilthanas.
"Gunnar, er ... er wünscht dich zu sprechen!"
"Es ist also so weit, du solltest..." - doch noch ehe Keltson seinen
Satz vollenden konnte, war Ghilthanas bereits aus seinem Bett gesprungen
um sich seine Kleidung anzuziehen.
Wenige Minuten später stand er dem Dorfvorsitz gegenüber.
Gunnar, sowie seine beiden Stellvertreter Wandray und Thrent, saßen
in bequemen Sesseln nahe des Kamins, die zu einem Halbkreis angeordnet
waren. Wandray und Thrent waren Brüder und als unfassbare Streithähne
bekannt. Doch sie gehörten mit zu den cleversten Dorfbewohnern, weshalb
Gunnar es schätzte wichtige Entscheidungen mit diesen mittlerweile
ergrauten und etwas in die Jahre gekommenen Männern zu treffen. Das
Konfliktpotential zwischen beiden stellte sich sogar oftmals als Segen
heraus. Bei ernsthaften Themen wurde dadurch meist so lange diskutiert,
bis alle Blickwinkel der Sachlage ausgehend berücksichtigt wurden.
Verhandlungen waren zäh, doch die Entscheidungen waren stets fundiert
und fair. Einen besseren Dorfvorsitz mochten sich die Bewohner kaum vorstellen.
"Ghilthanas, es freut uns, dass du dich anscheinend erholt hast.
Die Strapazen waren dir gestern merklich anzusehen. Geht es dir wieder
gut?"
Nickend erwiderte er: "Ja, danke der Nachfrage. Es war nur ein wenig
Schlafmangel, nichts ernstes." Er drückte seine Schultern durch und
versuchte sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
"Du bist hart im nehmen."
Die Brüder saßen stillschweigend da. Vermutlich hatten
sie die Nacht durch hinter verschlossenen Türen debattiert und bereits
mehr als genug gesagt. Die Verkündungen überließen sie
stets Gunnar.
"Du kannst dir sicherlich denken, warum wir dich hier her gebeten
haben."
Sein Magen drehte sich in alle erdenklichen Richtungen. Zweifel
und Angst stiegen in ihm auf. Er hatte das Wappen an einen Elduar verloren.
Bestohlen von einem Vogel!
"Das Ergebnis meiner Prüfung steht aus."
"Sehr wohl. Die Tatsache, dass du noch immer weit unter dem üblichen
Alter eines Anwärters liegst, ist an sich schon etwas Außergewöhnliches,
doch haben wir dahingehend die Bedingungen ja vor längerer Zeit schon
gelockert. Dieses Mal hast du viele Teile der Prüfung bestanden."
Er spürte die prüfenden Blicke von sechs Augen auf sich
ruhen und schien unter deren Druck immer kleiner zu werden.
Viele Teile, aber nicht alle...
"Du hast die Fahnenträger aufgespürt, eingeholt und überlistet.
Deine Kenntnisse der Umgebung haben sich als beträchtlich erwiesen,
dein Durchhaltevermögen und Ehrgeiz erstaunlich. Und selbst wenn es
dir niemand übel nimmt, dass du in der schwierigen Situation, nach
Tage langem Dasein ohne Schlaf und Essen, einen Moment der Unachtsamkeit
hattest. Fakt ist, dass du das Wappen bis Ende der Frist nicht heimbringen
konntest. Die Prüfung gilt somit als nicht bestanden."
Schweigen senkte sich über den Raum. Ghilthanas hatte sich
auf diesen Moment vorbereitet, doch Keltson hatte ihm neuen Mut gegeben.
Sein letzter Funken Hoffnung drohte zu erlöschen. Die Reifeprüfung
konnte er nächstes Jahr wiederholen. Doch den Verlust des Wappens
würde er vermutlich bitter böse bezahlen müssen.
"Ich verstehe."
Er senkte seinen Kopf, um die Trauer in seinen Augen zu verbergen.
"Kommen wir nun zu unserem nächsten Anliegen. Der Verlust des
Wappens war ein großer Schock für das gesamte Dorf. Du sagtest,
dass ein Elduar es gestohlen hat. Auch wenn die Elduar sich vornehmlich
im Gebirge aufhalten und als Jungtiere so gut wie nie alleine unterwegs
sind, so haben die Fahnenträger deine Geschichte bestätigt. Auch
sie haben ihn gesehen, schenkten ihm jedoch nicht mehr als einen kurzen
Moment der Verwunderung. Schließlich wussten sie zu diesem Zeitpunkt
noch nichts von dem Vorfall. Das Wappen muss unter jeden Umständen
wieder den Weg ins Dorf zurück finden. Da sind wir uns einig, oder
Ghilthanas?"
"Selbstverständlich. Es tut mir Leid, ich ..."
"Entschuldige dich nicht. Du wirst das Wappen zurückbringen."
"Ich, ich werde was?"
Gunnar zog die Mundwinkel leicht nach oben und schloss die Augen.
"Die Elduar gehören zu den stolzesten Tieren dieses Landes.
Sie aufzuspüren ist schwierig. Nahe an sie heran kommen ist noch schwieriger,
da sie sich meist in Gipfelnähe aufhalten. Finde den Elduar, dann
findest du das Wappen. Solch eine Tat würde von wahrer Reife zeugen."
"Aber, ihr meint...? Ich bekomme noch eine Chance?"
"Der Sinn der Reifeprüfung ist es zu zeigen, dass man die Tugenden
unseres Volkes verinnerlicht hat, sich großen Strapazen und schwierigen
Aufgaben selbstständig stellt und sich bereit erklärt, sich in
den Dienst des Dorfes zu stellen. Diese Aufgabe ist eine Steigerung zur
traditionellen Reifeprüfung. Bring uns das Wappen und die Prüfung
gilt als bestanden."
Sein Herz schien Freudensprünge zu machen. Keltson hatte tatsächlich
recht, er konnte seinen Fehler wieder gut machen und so ein weiteres sich
dahinziehendes Jahr voller Warterei verhindern. Neuer Enthusiasmus machte
sich in ihm breit. Er würde das Wappen zurückbringen!
"Ich möchte Euch danken, vielen Dank!" gab er von sich und
kniete sich auf sein rechtes Knie, eine übliche Geste des Respekts
und der Danksagung. Die Stimmung lockerte sich, als alle drei Dorfvorsitze
sich grinsend anschauten, aufstanden und auf Ghilthanas zugingen.
"Weißt du, meiner Kleiner, ich gehörte bis vor kurzem
zu dem Teil der Bewohner, die sich ein wenig lustig über deine Bemühungen
machten", äußerte Thrent und legte eine Hand auf seine Schulter.
"Dein Talent ist nun auch mir nicht länger verborgen. Nutze die Chance,
die wir dir geben."
Auch Wandray sprach ihm Mut zu: "Wir wären stolz, dich mit
unserem Wappen nach Dadrim zum großen Turnier zu schicken. Vollziehe
den letzten nötigen Schritt!"
"Ich danke euch! Gunnar, wann soll ich aufbrechen?"
"Schone dich so lange, wie du es für nötig hältst.
Einen Elduar zu verfolgen wird dir mehr abfordern, als unsere drei Fahnenträger."
Gunnar hatte Recht, diesen Aspekt hatte er noch gar nicht berücksichtigt.
Wie sollte er den gefiederten Dieb überhaupt ausfindig machen? Er
konnte ihn ja nicht einmal einige Minuten verfolgen, nachdem er direkt
vor seiner Nase daher flog. Sofort verwarf er die negativen Gedanken wieder.
Die Aufgabe musste einfach gelöst werden. Das war er dem Dorf schuldig
und das war er sich selbst schuldig. Es war die unerhoffte Eintrittskarte
zu seinem großen Ziel.
"Ich werde gleich heute Abend aufbrechen und nicht eher zurückkehren,
bis ich das Wappen heil in den Händen halte."
Mit fröhlicher Miene deutete ihm Gunnar an endlich aufzustehen.
"Dann kehre nun zu deiner Tante und deinem Onkel zurück. Jolinn
wird dich noch ein wenig pflegen wollen und Keltson hat mit Sicherheit
noch ein paar gute Ratschläge auf Lager."
Überglücklich berichtete Ghilthanas Zuhause vom Verlauf
des Treffens und nutzte den Rest des Tages, um sich mit Hal, Jolinn und
Keltson zu unterhalten. Er berichtete in aller Ausführlichkeit von
den fünf kräftezehrenden Tagen, schwenkte aber meist auf die
bevorstehende Aufgabe um. Im Laufe der Stunden kamen nach und nach zahlreiche
Besucher. Alle wollten sich nach Ghilthanas Zustand erkundigen und die
meisten sprachen ihm ihren Stolz aus. Anscheinend honorierten die Bewohner
seine Leistungen tatsächlich, obwohl er versagt hatte.
Der Tag verging schnell und noch ehe die Sonne begann am Horizont
zu verschwinden, packte Keltson zusammen mit Jolinn Proviont ein. Er bestand
trotz mehrfachen Drängen von seiner Tante darauf lediglich leichtes
Gepäck mitzunehmen.
"Die Natur bietet alles was ich brauche."
"Du bist mir halb verhungert in den letzten Tagen!"
"Dieses Mal werde ich mir die nötige Rast gönnen, glaub
mir. Ich habe ja diesmal keinen festen Zeitdruck. Zwar möchte ich
schnellstmöglich wieder hier sein, aber das wichtigste ist doch, dass
ich überhaupt mit dem Wappen heimkehre", beschwichtigte Ghilthanas
seine überfürsorgliche Tante.
Als er bereit war seine Aufgabe anzutreten, kam er nach wenigen Schritten
aus dem Haus bereits zum Stehen. Erneut hatten sich zahlreiche Leute versammelt,
vermutlich noch mehr als bei seiner Heimkehr am Vorabend. Alle wollten
ihm Glück wünschen und sich von ihm verabschieden. Sprachlos
bahnte er sich einen Weg durch die Menge, an deren Ende Keltson und Gunnar
standen. "Du weißt um die Bedeutung des Wappens, junger Anwärter.
Es ist das Symbol unserer Gemeinschaft, unserer Traditionen und unserer
Stärke. Ohne das Wappen fehlt jedem von uns ein Stück seiner
selbst. Sorge dafür, dass wir wieder ganz werden."
Gunnar sprach mit ermutigender Stimme und blickte ihn hoffnungsvoll
an. Dann trat Keltson hervor, hielt Ghilthanas eine ausgestreckte Hand
hin und sah ihn schweigend an.
"Was ist das?"
"Eine Hilfe und zusätzliches Rätsel zugleich. Löse
das Rätsel und es wird dir behilflich sein, deine Aufgabe zu meistern.
Und jetzt geh, du solltest vor der Dämmerung aufbrechen."
Ghilthanas verstand nicht. Er nahm den winzigen, zugeschnürten
Lederbeutel aus der Hand seines Onkels und schaute hinein. Ein kleines
Schmuckstück befand sich darin. Er nahm es heraus und erkannte, dass
es ein Armband war. Ein merkwürdiger geschmeidiger Stoff, mit einer
steinernen Kugel daran. Es war sanfter als Leder, schien jedoch mindestens
genauso fest zu sein.
"Mach es um, und dann zieh endlich los", ermutigte ihn Keltson augenzwinkernd.
Er legte das Band um sein linkes Handgelenk, verstaute den Lederbeutel
in seiner Umhängetasche und verabschiedete sich von Keltson, indem
er seinen Oberam fest packte. Sein Onkel erwiderte die Geste mit einem
Lächeln.
Dann ging er schnellen Schrittes zum nördlichen Ende des Dorfes.
Er würde zunächst den Weg zum kleinen Keiler nehmen und den Elduar
in der Nähe des ersten Aufeinandertreffens suchen. Abschließend
blickte er noch einmal über die Schulter. Einige Zurufe erreichten
ihn, manche winkten ihm zum Abschied. Niemand wusste genau, wie viel Zeit
es Ghilthanas kosten würde. Doch er selbst war sich über eines
im Klaren.
Bei meiner Rückkehr werde ich das Anwärter-Dasein hinter
mir gelassen haben!
© Christopher
Batke
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