Die Stille genießend flog Lugur über Bythen, dann über
die Meeresstraße aufs Festland. An der Küste von Cheinfran fand
er einen Platz, wo er über alles nachdenken konnte, so auch über
Lilian.
Da fielen ihm seine Eltern ein, die ihm von einem Land erzählten,
wo Drachen friedlich mit anderen Geschöpfen lebten. Nachdem er einen
Hirsch geschlagen, ihn kurz abgefackelt und gefressen hatte, flog er in
Richtung Sonnen-Drachenland. Immer wieder musste er eine Zwischenlandung
einlegen, da er schon wieder Magenprobleme hatte.
Er überquerte den Gebirgszug, der Meinein von Sonnen-Drachenland
trennte. Aus der Vogelperspektive erkannte er viele zerstörte Orte
und Häuser. Erkennen konnte er nicht, dass viele Handwerker tätig
waren. Ihm fielen die Erzählungen ein, die er von seinen Eltern gehört
hatte, warum eine Zerstörung stattgefunden hatte.
Im Osten ging langsam die Sonne auf, als er die Küste von Sternenmond
erreichte.
Im Morgengrauen landete er vor einem Dorf, das von einem Jahrzehnte
langen Bürgerkrieg zerstört worden war. Langsam schlurfte er
durch den Ort und begutachtete die Schäden, die auch durch wütende
und aufgebrachte Drachen entstanden waren.
Da fiel sein Blick auf ein Gebäude, das im Bau befindlich schien.
Vorsichtig näherte er sich, umrundete es und stellte fest, dass eine
einfache Holzleiter an der zum Wald gelegener Außenwand stand.
Durch ein Geräusch aufmerksam geworden, drehte er sich um und
vernahm Schritte und leise geführte Gespräche. Um unsichtbar
zu werden, murmelte er einige Worte und verschwand im Wald. Seine Ohren
spielten, ein Geräusch aus dem Unterholz und seine rechte Pranke fing
einen fetten Hasen, dann einen zweiten und einen dritten, die gegrillt
nach und nach in seinem Schlund verschwanden. Er rülpste und Blitze
entfleuchten durch die Schnauze. Sein Magen spielte schon wieder verrückt,
und er wusste nicht, von was das kam.
Den Hasen waren Drachen unbekannt, so spielten sie direkt vor seiner
Schnauze unbefangen Fangen.
Er legte sich bequem hin, die beiden Vorderarme unter den Kopf verschränkt,
und beobachtete, wie mehrere Bauleute sich diesem Gebäude näherten.
Einige stiegen auf der Leiter hinauf und arbeiteten. Was sie da
machten, konnte er bedauerlicher Weise nicht erkennen. Andere werkelten
an der Außenwand. Zimmerleute tauchten mit Holzbalken für den
Dachstuhl auf.
Es machte ihm Freude, zu sehen, wie ein Haus entstand und andere
instand gesetzt wurden.
Der Drache machte eine Bewegung, ein Ast bewegte sich und dadurch
wurde einer der Bauleute auf ihn aufmerksam. Dieser zeigte mit dem Kopf
in die entsprechende Richtung. Die Elben schauten während des Tages
immer wieder zum Wald hinüber.
Es war Lugur nicht entgangen, dass Blicke zu ihm geworfen wurden.
Er kuschelte sich ins weiche Gras und dadurch entstand eine Kuhle. Seine
Größe und Gewicht drückten einige Büsche platt.
Die Elben erkannten ihn auch daran. Jetzt fragten sie sich, welcher
Drache da ruhte.
Im Sonnen-Drachenland wirkte der Unsichtbarkeitsspruch nicht und
dies war Lugur nicht bekannt. Die Chefzauberer hatten gemeinsam mit dem
Drachenkönig Gurmoon einen Gegenspruch entwickelt, als der Bürgerkrieg
Kampfdrachen ins Land brachte, der immer noch wirkte.
Wer diesen Spruch einsetzen und benutzten wollte, musste beim Zauberministerium,
Abteilung Gefahrenabwehr, einen Antrag stellen. Erst nach eingehender Prüfung
und einem Eignungstest der Antragsteller wurden Geschöpfe ausgewählt,
diesen dann dieser Spruch zugeteilt, damit diese ihn nutzen durften. Nur
ein Drache zu sein, genügte dem Ministerium nicht. Das erfuhr Lugur
später bei dem Gespräch mit dem Elbenkönig.
Während die Handwerker am Haus werkelten, unterhielten sie
sich darüber, dass ein Drache wieder aufgetaucht war.
»Mulienis«, fing einer der Schreiner an, »dort
drüben am Waldrand liegt eine Drache.«
»Was?«, fragte der Angesprochene und schaute hinüber.
Schnell machte die Mitteilung unter den Handwerkern die Runde, von
dem aufgetauchten Drachen.
Bei der Frühstückspause schaute jeder hinüber zum
Waldrand und sie mussten sich die Augen reiben. Tatsächlich, da lag
ein Drache. Ob es ein junger oder alter Drache war, konnten sie noch nicht
erkennen.
Freudig erregt beendeten sie ihre Pause und mit Elan gingen sie
zurück an ihre Arbeit. Da sie hocherfreut waren, fingen die Zimmerleute
an, ein Lied zu singen. In ihren Herzen tauchte ein kleiner Hoffnungsschimmer
auf. Sollte endlich die vorhergesagte Friedenszeit angebrochen sein?
Am Abend eilten sie zum Elbenkönig und berichteten ihm davon.
Der riet ihnen, zu schweigen und zu beobachten, wie der Drache sich verhielt.
Wie Lugur bei seinen Spaziergängen erstaunt feststellte, waren
die Häuser schneller fertig als er es dachte und bewohnt.
Unter den Bewohnern des Sonnen-Drachenlandes verbreitete sich das
Gerücht, dass ein Drache zurückgekehrt sei, extrem schnell.
Jeder wusste, was er zu tun hatte. So wurde in den nächsten
Tagen und Wochen dafür gesorgt, dass die Weidezäune in der Nähe
und unterhalb der Drachenburg in Ordnung gebracht wurden. Damit das Vieh
bei Regen einen geschützten Platz fand, stellten sie Unterstände
auf. Auch die Tränken und die Zuleitungen wurden erneuert. Ochsen
bespannte Wagen standen am Wegesrand, während die Bauern mit ihren
Knechten die Erneuerungsarbeiten durchführen konnten.
Die Weideflächen waren grün und das Gras saftig. Es tummelte
sich hier nicht nur das Rotwild sondern auch Rinder und Kleinvieh. Da die
Weiden viele Jahre nicht benutzt worden waren, gab es auch etliche Büsche
und Bäume, die Schatten spendeten.
Von Lugur aufmerksam beobachtet, packten die Bauleute kurz nach
Sonnenuntergang ihre Werkzeuge zusammen und verschwanden. Er war sehr erstaunt,
dass die Handwerker bei ihrer Arbeit sangen und das Baumaterial, kaum geliefert,
schon verbaut wurde.
Während er sich erhob, reckte und streckte, fragte er sich,
warum die Handwerker auf einmal so fröhlich und zügig gearbeitet
haben. War er doch erst am Morgen angekommen. Er schüttelte kurz seinen
Kopf und kontrollierte, wie weit die Sanierung dieses Gebäudes war.
Ein zufriedener Drache erhob sich und flog davon.
Mit suchenden Blicken fand er rein zufällig den, durch Efeu
verdecken, Eingang zur elterlichen Höhle. Hier war er vor gut sechzig
Jahren geschlüpft und hatte die ersten Drachenschritte gemacht; bis
Hass und Kriege Drachen, auch seine Familie, aus ihrer Heimat vertrieben.
Notdürftig machte er die Höhle sauber und verließ
sie, um auf die Jagd zu gehen. Auf seinem Erkundungsflug entdeckte er unterhalb
der Drachenburg eine Weide mit äsendem Rotwild und wiederkäuenden
Rindern. Langsam kreiste er über dieser Herde, bis er seine Wahl getroffen
hatte.
Mit einem stattlichen Hirsch landete er auf der Plattform zur Höhle.
Er überlegte, ob das Geweih fressbar war. Die Entscheidung war schnell
getroffen, als er in einer Ecke Geweihe entdeckte.
Der Mond und die Sterne sahen ihm dabei zu, wie er den Hirsch in
kleine Teile riss und in den Schlund warf. Kaum war der letzte Bissen verschluckt,
hatte er wieder Magenprobleme. Die ganze Nacht spuckte er Feuer, bis er
am nächsten Morgen erschöpft einschlief.
Gegen Abend holte er sich ein Rind. Wieder musste er einige Zeit
nach dem letzten Bissen Feuer spucken. Rastlos schlich er durch die Höhlen,
bis es ihm besser ging. Er hockte sich in der Badehöhle in eine Ecke,
hier war auch die Drachentoilette, und entleerte sich.
Während er einen Spaziergang von der Höhle in den Wald
machte, überlegte er laut: »Woher kommen die Bauchschmerzen,
wenn ich den Hirsch und das Rind mit Haut und Haaren fresse. Auch wenn
ich die Tiere grille, habe ich Schmerzen. Wer kann mir helfen?«
Ohne dass er es wusste, hatte ein Elbe die Überlegung gehört.
Der Elbe suchte die beim Elbenkönig befindliche Bibliothek auf und
hier nach einem Buch, in dem Hilfe für Drachen stand. Endlich wurde
er fündig und hielt das Buch in der Hand. Die Seite über Magenproblemen
bei Drachen wurde vervielfältigt und zur Drachenburg gebracht.
Erleichtert nahm Lugur dieses Blatt entgegen und las es. Das Ergebnis
war, dass er den Tieren nach dem Töten das Fell über die Ohren
zog.
Er notierte in seinem Tagebuch, dass seine Magenprobleme und unkontrolliertes
Feuerspucken durch das Weglassen des Felles besser wurden und nach gewisser
Zeit aufhörten.
Zur gleichen Zeit hatte Lilian ihre Auftritte in Bythen. In den darauffolgenden
Jahren hatte Lilian pro Woche zwei Auftritte und dann gab es in manchen
Monaten bis zu vier Auftritte.
Zwischen den Auftritten fand sie immer wieder Zeit und die Gelegenheit,
um weitere Lieder zu schreiben und zu komponieren. Die meisten davon galten
dem unbekannten Drachen.
So vergingen viele Jahre, in denen Lugur und Lilian viel lernten.
Wenn er Bücher in die Krallen bekam, strahlte er, las sie und stellte
sie in seine Bibliothek.
Seine Freundschaft mit den Förstern und Waldbesitzern trugen
Früchte. So ließ er hinter der Drachenburg ein Stück Wald
roden, damit die Schreiner und Zimmerer etwas zu tun hatten.
Bedauernd hockte Lugur an einem See und dachte an seine Kindheit
und an seine Eltern, die eines Tages nach einem Ausflug in die Bernauer
Alpen nicht wieder zu ihm zurück kamen. Er vermisste sie und fragte
sich, ob das Gerücht, dass sie umgebracht worden seien, stimmt. Er
kam, so eine Anordnung des Drachenrates, zu einer Pflegefamilie. Hier wurde
er schnell selbständig.
Mit ihren wunderschönen goldenen Augen schaute Lilian freundlich
Familie und Freunde an. Was bei Drachen sehr ungewöhnlich war, sie
hatte lange Wimpern. Ihre ungewöhnlich starke Ausstrahlung zog viele
Drachen an.
Die sie umschwärmenden Drachen wies sie freundlich aber energisch
zurück. Sie war traurig, weil ihr unbekannter Drache nicht darunter
war. Überlegend, wo dieser nun sein könnte, lief sie im Park
hin und her.
»Hallo schöne Lilian«, zischte ein rot-brauner
Kleindrache. »Ich würde gern mit dir vor einer Höhle den
Hochzeitstanz machen.«
Energisch fauchte Lilian zurück: »Aber ich nicht mir
dir. Verschwinde aus meinem Blickfeld. Der Drache, mit dem ich den Tanz
machen würde, hat sich bei mir noch nicht gemeldet.« Sie drehte
sich auf der Stelle um und verschwand in der Höhle.
Bei Lilians Auftritten war stets ein Familienmitglied dabei, das
sie beschützte und umsorgte. Sie flog von einem Ort zum anderen. Immer
mit der Hoffnung, ihn, den Drachen mit den traurigen Augen, wiederzusehen.
Das Bild dieses Drachens, von dem sie immer noch nicht wusste, wie er hieß,
war fest in ihrem Herzen verankert.
Eines Tages entdeckte sie bei ihren Spaziergängen durch die
Stadt ein Plakat. Sie brauchte ihre Schwester nicht zu überreden,
die Ausstellung von Drachenmalern zu besuchen. Langsam schlenderten sie
durch die Galerie. Sie blieben vor einigen Bildern stehen, die ihnen gefielen.
Die beiden Schwestern fragten sich, welcher Maler sich hinter den beiden
Buchstaben L.R. versteckte. Von dieser Ausstellung berichtete Lilian begeistert
im nächsten Brief an ihre Eltern.
Hin und wieder fragte sie ihre Eltern, ob sie etwas über diesen
Drachen mit den schillernden Schuppen wüssten oder gehört hätten.
Ihr Vater schüttelte verneinend den Kopf und ihre Mutter fauchte ein
Nein. Denn sie konnten nichts über ihn persönlich sagen, weil
ihnen der Name nicht bekannt war.
Wenn Mama sie begleitete, genoss Lilian es von ihr verwöhnt
zu werden, und sie musste zugeben, dass es ihr sehr gefiel, betreut zu
werden.
Bei einem Ausflug zu den Tulpenfeldern in Beneluchsia, entdeckte
sie den regenbogenfarbenen Jungdrachen. Bevor sie ihn ansprechen konnte,
war er in der Menge verschwunden, denn er suchte seine Schützlinge.
Weil Drachenpocken Lugur erwischt hatten, zog er sich zurück.
Diese hatte er aus Beneluchsia mitgebracht, als er bei seinen Pflegegeschwistern
auf deren fünfjährige Drachenkinder aufgepasst hatte.
Von seinen Elbenfreunden erhielt er medizinische Hilfe und wurde
von ihnen versorgt und umsorgt. Er gab ganz offen zu, dass er es genoss,
Elfen und Elben um sich zu haben. Wenn es ihn zu sehr juckte, nahm er ein
linderndes Moorbad.
Dass einige Schuppen abgingen, war für ihn nicht schlimm. Gut
gesäubert und behandelt konnten diese weiter verarbeitet werden. Elfenkinder
fanden sie, sammelten sie ein und legten sie in ihre Schatzkästchen.
Ein Teil davon wurde zu Schmuck und Gürteln verarbeitet und verkauft.
Monate später war er in der Lage, längere Flüge zu
unternehmen. Durch die Gazette, die er abonniert hatte, erfuhr er, dass
Lilian eine bekannte Sängerin geworden war. Die Artikel über
Lilian heftete er ab.
Durch falsche Informationen, die eine eifersüchtige Drachin
ihm zugeraunt hatte, kam er immer zu spät. Denn die hätte gerne
mit Lugur einen Tanz gemacht, um sich von ihm, der hundert Jahre jünger
war als sie, befruchten zu lassen. Er reagierte nicht auf diese Avancen,
denn er liebte Lilian.
Sein Wissensdurst war enorm, so reiste er um die ganze Welt. Unter
anderem hielt er sich zwischendurch bei Menschen auf dem Planeten Erde
auf, um sie zu studieren. Für die Reisen nahm er drei Bücher
mit. Darunter eine, das war für Drachen sehr ungewöhnlich, sehr
alte Bibel.
Wenn er die Bibel in die Hand nahm, fiel ihm ein wie er dazu gekommen
war. Diese fand er auf dem Dachboden eines leer stehenden Bauernhauses,
nach dem er das ganze Haus mit den Nebengebäuden angesehen hatte.
In seinem Skizzenblock hatte er dann dieses Gebäude verewigt. Ihm
gefiel der Einband dieses besonderen Buches, deshalb hob er es auf und
blätterte darin. Leicht zartgelbe Rauchwolken kamen aus seinen Nüstern,
als er die Bilder entdeckte.
Er hockte auf einem Baumstumpf und las in der Bibel, und zwar die
Geschichte über Naomi und Ruth. Er war fast fertig damit, da vernahm
er einige Stimme. Fast lautlos packte er seine Fundstücke in den Rucksack.
Was er von den Männern in Uniform hörte, die Waffen bei
sich trugen, gefiel ihm nicht. Während sie nach wertvollen Dingen
suchten, sprachen sie von Mord und Vergewaltigungen, Plünderungen
und Zerstörungen; und sie prahlten damit.
Eines Tages, Lugur hatte Monate zuvor seinen hundertsten Schlupftag
begangen, saß er am Kristallsee und steckte seine Hinterbeine zur
Erfrischung hinein. Das machte des öfteren, wenn er an einem See rastete.
Ihm machte es viel Spaß und mit den Hinterbeinen im Wasser hin und
her zu bewegen. Die Sommersonne brannte vom wolkenlosen Himmel, so dass
viele Geschöpf Schatten suchten.
Die am Ufer stehenden Weiden ließen ihre zarten Äste
im Wasser spielen. Farne, die fast so groß waren wie ein Kleindrache,
wuchsen wie Unkraut.
Dem Drachen machte der Sonnenschein nichts aus. Seine Flügel
zusammengefaltet und seine Schwanzspitze bewegte sich hin und her. Ein
großer Hecht, so um die drei Meter lang, nagte an seinen Krallen.
Sofort griff er zu und hatte einen leckeren Imbiss in der Schnauze.
Seine Suche nach der lieblichen Lilian gab er nicht auf. Da er sehr
gut zuhören konnte, erfuhr er, dass Lilian in der Nähe einen
Auftritt hatte.
Sein scheinbares Phlegma täuschte seine Gegner und wenn seine
Zeit gekommen war, schlug er zu.
Er träumte vor sich hin und ihm fiel eine Begebenheit ein,
die er in Germanica beobachtete. Er sah, wie ein Paar auf einer Decke,
auf einer Lichtung, saß und sich unterhielt. Neugierig geworden schlich
er näher, so dass er der Unterhaltung gut folgen konnte.
Der Mann nahm die neben ihm liegende rote Rose und überreichte
sie der Frau. Die strahlte ihn an und küsste ihn.
Der Drache, der sich unsichtbar gemacht hatte, hörte zärtliche
Worte, die zwischen dem Paar gewechselt wurden. Auch dass sie sich darüber
gefreut habe, als er sie zu einem Picknick einlud und mit ihr allein sein
wollte. Die Kinder, so vernahm Lugur, seien gut bei den Großeltern
aufgehoben.
Er fragte sich, was es bedeutete, wenn ein Mann einer Frau rote
Rosen schenkt. Bei der nächsten Gelegenheit suchte er eine Bibliothek
auf und fragte die Bibliothekarin, eine sehr alte Elfin, danach.
Sie sagte, dabei sah sie ihn an: »Die fünfteilige Blütenanordnung
symbolisiert das Pentagramm und damit das Geheimnis. Die Rose gilt seit
uralten Zeiten als Symbol der Verschwiegenheit. Sie wird auch zum Sinnbild,
für das Christentum. Dann galt die Rose als Blume der Weisheit und
als Bild des klaren Geistes. Während andere Blumen oder Blüten
meist nur eine Bedeutung haben, variiert die Bedeutung von Rosen je nach
Farbe.«
Lugur nickte und fauchte fragend: »Was bedeuten rote Rosen?«
»Sie sind ein Symbol«, fing die alte Elbin an, »für
die Liebe. Wenn ein Mann einer Frau zwölf rote Rosen schenkt, sagte
er, dass er sie sehr liebt. Sind in einem Blumenstrauß einige karminrote
Rosen, dann bedeutet es, dass jemand gestorben ist.«
»Bei meinen Erkundungstouren habe ich auch weiße Rosen
gesehen«, erzählte Lugur und goss sich ein Glas Quellwasser
ein.
»Sie stehen für Leidenschaft, Unschuld, Treue und Zustimmung,
weisen aber auch auf Entsagung hin.«
»Aha«, meinte Lugur nachdenklich.
»Rosa Rosen stehen für Jugend und Schönheit und
gelbe Rosen stehen für Eifersucht, Neid und Untreue, können aber
auch tiefe Verehrung ausdrücken.«
»Dann sah ich Rosen, die die Farbe Orange haben.«
»Die stehen für Glück und Hoffnung«, erklärte
die Elbin. Sie lächelte und sagte: »Wenn jemand eine schwarze
Rose geschenkt bekommt, bedeutet es, dass der Beschenkte in näherer
Zukunft bei einem Unfall sterben wird.«
Lugur erhob sich und sah sich die Bilder an, die Künstler von
Rosen gemalt hatten. Darunter war auch eine blaue Rose. Auf die zeigte
er nun.
»Die blaue Rose ist sehr selten und ein Symbol für das
Unerreichbare«, knurrte Lugur in einem freundlichen Ton. »Hin
und wieder reise ich in die Parallwelt und kam auf meinen Erkundungsflügen
nach Austria. Aus großer Neugier und großem Wissensdurst suchte
ich den botanischen Garten Wien auf. Die Gärtner hatten sie gerade
gezüchtet. Das war in dem Jahr, als ich meinen dreiundvierzigsten
Schlupftag begangen hatte.
Wie ich durch meine Kontaktleute weiß, sind diese Blumen unregelmäßig,
im April bis Juni zu besichtigen. Die Farbe schwankt jedoch zwischen mittelblau
bis türkis. Sie konnte jedoch außerhalb der Universität
Wien für Bodenkultur, die diesen alten Garten pflegen, nicht nachgezüchtet
werden.«
Er schaute nachdenklich vor sich hin und sagte: »Bei den Menschen
gibt es bis heute keine reinen blauen Rosen. Manchmal werden blaue Rosen,
diese sind jedoch gefärbt, so stellte ich fest, in Blumengeschäften
angeboten. Wie ich herausfand, enthält die Rose ein blaues Pigment,
dieses ist jedoch an ein rotes gebunden, dadurch sind auch durch züchterische
Bemühungen bisher nur lila-, lavendel-, oder fliederfarbene Töne
erzielt worden.«
»Interessant«, murmelte die alte Elfin und schaute ihn
freundlich an.
Um sie herum hockten interessierte Elben, die den Drachen erforschen
wollten. Dies ließ Lugur lächelnd zu und alles was er sagte
oder machte, wurde schriftlich festgehalten.
Die Information über blaue Rosen wurde abgespeichert und die
Elbengärtner fingen an, zu experimentieren und es gelang ihnen nach
vielen Jahren blaue Rosen zu züchten.
Durch einen Spruch, den seine Pflegemutter ihn gelehrt hatte, konnte
er von jedem Ort aus in die Parallelwelt, die Erde, wechseln und nicht
durch die bewachten Korridore. Wenn er flog, konnte er feststellen, dass
sie seinem Heimatplanten Edrena ähnlich sah.
Auf Edrena gab es, wie auch auf der Erde, viel Wasser, aber mehr
saubere Luft, denn die Bewohner und Herrscher der verschiedensten Länder
des Planeten Edrena waren weitsichtiger und sorgten dafür, dass die
Umwelt sauber blieb. Und es gab Wälder und Urwälder sowie tropische
Wälder. So konnte ein Eichhörnchen durch Aporeuais von Baum zu
Baum hüpfen, ohne den Boden zu berühren.
Daran dachte er an diesem Vormittag. Er seufzte, öffnete seine
große Umhängetasche, nahm sein großes Notizbuch heraus.
Die nächste leere Seite wurde aufgeschlagen und notierte seine Gedanken,
sowie was er sah.
Einige Bisamratten tauchten neben ihm auf, die nach der Häutung
kurz gegrillt mit einigen Kräutern versehen in den Rachen geworfen
wurden.
Das Notizbuch kam zurück in die Tasche und der Skizzenblock
lag auf seinen Knien und in den Pranken den Skizzenbleistift. Geschickt
skizzierte er die Umgebung. Er mochte dieses Tal im Thuringer Wald, mit
all den alten Bäumen und den Wiesen. In einer besonderen Mappe lagen
besondere Skizzen, und zwar von einer besonderen jungen Drachin.
Nachdem Mittagessen fauchte diese zu ihren Eltern: »Ich werde
an diesem freien Nachmittag einen Ausflug machen, und zwar alleine.«
Den Eltern war klar, dass ihre Tochter ihren Kopf freibekommen möchte
und Kraft tanken wollte.
Der Jungdrachin war zugetragen worden, dass ein gut aussehender
Drache, dessen Schuppen wie ein Regenbogen schillerten, nach ihr suchte.
Suchend flog sie an diesem Tag ein Tal entlang, bis sie den Kristallsee
unter sich entdeckte. Kristallklare Luft machten ihren Flug annehmbar und
als ein Sonnenstrahl auf seine Schuppen fiel, wusste sie, wo er zu finden
war und folgte diesem Wegweiser.
Scheinbar unbemerkt von ihm landete sie in der Nähe und schlich
sich an ihn ran.
Ihre Pranke auf seine Schulter legend, schnaubte sie: »Das
ist eine schöne Skizze.«
»Komm, setz dich neben mich«, bat er sie, klopfte mit
der Pranke neben sich und sie folgte sehr gern seiner Einladung.
Scheinbar unabsichtlich berührten sich ihre beiden Schwanzspitzen.
Auf einmal lag seine Schwanzspitze auf der ihrigen.
Ihr Herz schlug schnell und ihr Blick, den sie ihm diskret zuwarf,
versprach Bände.
Auch sie steckte ihre Hinterpranken in den Kristallsee. Zwei sehr
große und neugierige Hechte und Forellen tauchten auf, sofort griff
Lugur zu und legte einen Teil der Fische auf den Schoß der schönen
Drachin Lilian.
»Danke«, sagte sie und biss hinein, dabei sah sie ihn
drachenfreundlich an und klimperte mit ihren Wimpern.
Dieser Blick ließ sein Herz schneller schlagen und in seinem
Magen flatterten Tausende von Schmetterlingen. Er kannte dieses sehr intensive
Gefühl noch nicht, aber er fand es fantastisch.
»Habe dich gesucht«, sagte Lugur und änderte seine
Sitzposition. »Und kam stets zu spät.«
»Aha«, grummelte sie freundlich.
Lugur drehte den Kopf und sah in Lilians Augen. Er atmete tief ein
und aus und legte den Skizzenblock neben sich. Er hatte sie bereits kommen
hören und freute sich über ihren Besuch.
Es blieb eine Weile still zwischen den Beiden. Lugur nahm wieder
seine Malzeug und malte weiter. Lilian schaute ihm zu und gab ein zufriedenes
Brummen von sich. Endlich war das Bild fertig und er packte es weg.
Die Drachin bemerkte, wie wendig Lugur war, denn auf einmal lag
er auf seinem Bauch und steckte seine rechte Pranke in den Teich. Schnell
hatte er einen Biber gefangen und legte ihn auf ihren Schoß. Auch
diesen nahm sie dankend an und verspeiste ihn. Dabei flirtete sie gewaltig
mit ihm; und sie tauschten immer wieder Blicke und berührten sich.
»Wie heißt du?«, fragte Lilian und lächelte
ihn an.
Lugur lächelte zurück und setzte sich auf. Er sagte in
schlichten Worten: »Ich bin Lugur Regenbogen.«
»Aha«, murmelte sie und ihre Füße bewegten
sich im Wasser hin und her und sie stützte sich mit den Vorderpranken
nach hinten ab.
»Wie kommt es, dass du beim Gesangswettbewerb in Steinhenge
kurz vor der Siegerehrung verschwunden bist?«, fragte sie ihn und
sah ihn neugierig an.
Lugur, der sich auf seinen Bauch gedreht hatte und mit seiner rechte
Pranke im Teich nach einem Fisch angelte, fauchte: »Habe geträumt
und nicht auf die Zeit geachtet. Ich war in Beneluchsia bei zwei meiner
Pflegeschwestern zu Besuch und hütete deren fünfjährige
Kinder, weil sie mit ihrem Partner alleine etwas unternehmen wollte. Kaum
war ich zurück in meiner Heimat, brachen bei mir die Drachenpocken
aus.«
»Nicht auf die Zeit geachtet und Drachenpocken?«, stotterte
sie und ihre linke Vorderpranke strich sanft über seine in Regenbogenfarben
schillernden Schuppen.
»Ja!«, fauchte er und zog seine rechte Pranke aus dem
Teich.
Mit seiner linken Pranke strich er sich stolz über seine glänzenden
Schuppen, die in den Farben des Regenbogens glitzerten.
»Mir ging es nicht gut und ich war für andere Drachen
nicht ansehnlich.« Dabei dachte er an Lilian, die so etwas ahnte.
»Hast du Lust mit mir eine Runde zu fliegen?«, fauchte
sie, ohne auf seine Erklärung weiter einzugehen und bewegte verführerisch
ihre Flügel.
Denn sie kannte das Problem; auch sie hatte als ganz junger Drache
darunter gelitten und es hatte Monate gedauert, bis sie sich davon erholt
hatte. Lugur erhob sich, packte seine Sachen in seinen großen Beutel,
ergriff Lilians Pranke und erhob sich mit ihr in die Lüfte.
Sie tanzten mit dem Wind und ihre Loopings zeigten, wie sehr sie
sich vertrauten und harmonierten. Von diesem Augenblick an begleitete Lugur
sie, anstelle ihrer Eltern, zu ihren Auftritten. Er sorgte dafür,
dass es ihr vor und nach den Auftritten gut ging und dass sie zwischendurch
Ruhetage hatte.
Ihre Familie war von Lugur begeistert und waren gern mit ihm zusammen.
Endlich hatte Lilian einen Beschützer und einen Partner, der ihr beistand
und ihr den Rücken freihielt.
Gurlan mochte seinen Schwiegersohn und plauderte gern mit ihm. Auch
Lilians Mutter und Geschwister unterhielten sich über die neuesten
Romane, die es auf dem Markt gab. Lugur war eine Leseratte und war stets
auf dem neuesten Stand, was die Technik betraf.
Mit seinen Schwägern überlegte er, wie die neueste Technik
funktionierte und wie man sie einsetzen konnte, ohne dass andere zu Schaden
kommen.
Wenn Lilian die Bühne verließ, wartete Lugur stets mit
einem kleinen Geschenk auf sie. Mal war es eine Rose, mal ein Schmuckstück,
oder im Hotel wartete ein leckeres Menü auf sie, das er höchst
persönlich zubereitet hatte.
Lilian war angenehm überrascht, weil Lugur sich immer wieder
etwas einfallen ließ.
Bei einem Gespräch mit ihrer Mutter, sagte Lilian zu ihr: »Mama,
hat Papa dir auch kleine Geschenke gebracht?«
Mama überlegte, schüttelte den Kopf und fauchte zurück:
»In all den Jahren, in denen ich mit deinem Vater zusammen bin, habe
ich keine Geschenke, geschweige denn Überraschungen erhalten.«
»Ich möchte gern wissen«, grummelte Lilian überlegend,
»woher Lugur weiß, was mir gefällt und warum er mir Geschenke
macht?«
Ihr Vater Gurlun mischte sich ins Gespräch ein und fauchte:
»Weil er dich sehr gern hat und wie mir zu Ohren gekommen ist, hat
er so etwas bei den Menschen gesehen. Ein Mann machte seiner Frau Geschenke
und die freute sich.«
»Aha«, grummelte Lilian, drehte sich um und wandte sich
ihrem Bruder Urgur zu.
Der riet ihr, ihn doch zu fragen. Lilian lächelte und schwieg.
Ihr Lugur sollte ruhig sein Geheimnis, warum er es machte, bewahren. Eines
Tages würde sie es selber herausfinden.
Auch sie machte ihm kleine Geschenke, so unter anderem, indem sie
extra für ihn Lieder komponierte und sang. Oder sie besorgte für
ihn neues Zeichen- und Malpapier. Wenn seine Farben alle waren, dauerte
es nicht lange, schon war Nachschub da.
An einem Nachmittag, sie schaute gerade ihre Sachen durch, da fiel
ihr seine große Tasche in die Pranken. Diese war sehr unansehnlich
geworden und ging langsam kaputt. Da war ein Riss, der unfachmännisch
zusammengenäht worden war.
Sie biss sich auf die Unterlippe, tappte im Raum umher und überlegte,
bis ihr eine Idee durch den Kopf schoss.
Leise vor sich hersummend, ließ sie sich durch Hotelservice
Leder und Stoff kommen. Nach drei Wochen hatte sie alle Sachen zusammen
und nähte heimlich eine neue Tasche, und verschönerte sie mit
ihren eigenen Schuppen.
Lugur strahlte sie an, als er seine Initialen auf der neuen Umhängetasche
entdeckte. Auch seine Malsachen waren darin. Er nahm sie in seine Arme
und drückte sie drachenzärtlich an sich.
Hatte Lilian etwas auf dem Herzen, nahm Lugur sie an die Pranke
und flog mit ihr eine Runde, bis sie ein ungestörtes Plätzchen
fanden. Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. Dabei lag ihr Kopf
auf seiner Brust und lauschte seinem Herzschlag.
Über ihnen leuchteten die Sterne vom dunklen Himmel, der wie
dunkelblauer Samt aussah. Eine Wolke, die wie ein Schleier aussah, schob
sich über den Vollmond.
Lugur war klug und wartete, bis Lilian anfing zu reden. An diesem
Abend schwieg Lilian, denn sie hatte erreicht was sie wollte. Sie war endlich
mit ihrem Lugur alleine und kein anderer weiblicher Drache schob sich zwischen
sie und ihm. Sie gestand sich ein, etwas eifersüchtig auf andere zu
sein, wenn Lugur sich mit ihnen beschäftigte und unterhielt.
Pranke in Pranke erhoben sie sich und tanzten im Mondschein, bevor
sie zurück ins Hotel flogen. Sie waren nicht die einzigsten Drachenpaare,
die in dieser Nacht im Vollmondlicht ihre Nachtflüge machten, wie
sie feststellten.
»Lass uns zurück ins Hotel fliegen«, schlug Lugur
vor.
Seufzend erhob sich Lilian und reckte und streckte sich.
»Na gut«, grummelte sie und öffnete kurz die Flügel
und bewegte sie.
Es war einige Wochen später. Lilien betrat ihren Umkleideraum
und entdeckte auf dem Schminktisch einen mit Seidenpapier versehenen Topf.
Sie tappte näher und entfernte vorsichtig das Papier, das den Inhalt
verdeckte. Ihre Augen strahlten als sie einen gelbblühenden Rosenbusch
erblickte. Sie steckte ihre Nase in die Blüten und sie mochte den
zarten Geruch.
»Gefällt dir der Rosenbusch?«, fragte der in der
Tür stehende Lugur Lilian, und lauschte erwartungsvoll wie ihr dieses
Geschenk gefiel.
Er hatte lange gebraucht, um den für Lilian geeigneten und
perfekten Rosenbusch zu finden und ungesehen auf ihren Schminktisch zu
stellen.
»Ja«, entgegnete sie. »Sie riechen so angenehm.
Dann mag ich die gelbe Farbe der Blüten.«
»Soll der stets mit?«, fragte er und scharte ungeduldig
mit seiner rechten Hinterpranke.
Sie grummelte vor sich hin, was er nicht verstand, und schminkte
sich.
Er kam näher, legte seinen Arm um sie und aus dem Spiegel schauten
zwei Drachen ihm entgegen.
»Wir passen sehr gut zusammen«, stellte er zufrieden
fest und kam wieder auf die Rosen zurück. »Sollen die Rosen
mit?«
»Nein.«
»Nein?«, fauchte Lugur etwas erstaunt zurück.
»Richtig. Ich bringe sie zu Mama, die soll auf sie aufpassen,
bis wir eine eigene Höhle beziehen werden.«
Eine Woche nach diesem Auftritt flogen sie zu ihrer Familie. Lilian
bat Mama, dabei blickten ihre Augen sie bettelnd an, sich um den Rosenbusch
zu kümmern, bis sie und Lugur eine eigene Drachenhöhle beziehen.
Mama wiegte nachdenklich den Kopf und sagte: »Meinetwegen.«
Im stillen freute sich die alte Drachin, dass ihre Tochter zu ihr
kam und sie um Hilfe bat. Bis Lilian ihren Rosenbusch abforderte, kümmerte
sie sich liebevoll um ihn. Täglich sprach sie mit den Rosen und dadurch
gediehen sie. Aus den wöchentlichen Briefen, die Lilian von ihrer
Mutter erhielt, wusste sie, wie es ihrem Rosenbusch erging.
Durch Lilians Erzählungen und seinen Beobachtungen wusste er,
was seine Schwiegermutter liebte. So zog er aus seiner großen Tasche
eine extra große Drachenpralinenschachtel und übergab sie ihr.
Mama fauchte freudig ein Danke und brachte das Geschenk in Sicherheit.
Schleckerte sie doch für ihr Leben gern.
In den letzten Jahren hatte Lugur seine Gefährtin und deren
Familie gemalt. Darunter eins, das Lilian beim Baden zeigte. Als er die
Bilder Gurlun überreichte, freute der sich und hängte einige
in seinem Arbeitszimmer und andere im Wohnzimmer auf.
Zwei Tage bevor Lugur und Lilian kamen, erhielten ihre Geschwister
eine große Holzkiste, die sie nun in Lugurs Gegenwart öffneten.
Strahlend wurde aus der Kiste Bücher für Lilians Brüder
und Nippes für Lilians Schwestern herausgeholt, sowie für deren
Gefährten.
Die Nippessachen wurden auf ein Regal gestellt. An diesem Tag waren
alle Kinder, auch Schwiegerkinder von Gurlun und Mama anwesend.
Lugur genoss die Umarmungen seiner Schwäger und Schwägerinnen
und drückte sie. Er liebte das Beisammensein mit Lilians Familie,
denn er vermisste es, von Eltern verwöhnt und umsorgt zu werden.
Bei einem der Familiengespräche kamen sie auf ihre Vorfahren.
So erfuhr Lugur, dass Gurlun ein Nachkomme Gurlus war und somit sein Onkel.
Gurlun erklärte seiner Familie, dass seine leibliche Mutter ihrer
Kusine Lulu ein Ei untergeschoben habe. Das Lulu gern ausbrütete und
den kleinen Drachen, der dann schlüpfte, wie ein eigenes Kind aufzog.
Seine Mutter, die sein Ei hervorgebracht hatte, wollte nichts von ihm wissen.
Mehr war aus Gurlun nicht herauszubekommen. Lugur war klar, dass dies ein
schmerzliches Kapitel für seinen Schwiegervater war.
Drei Tage und drei Nächte wurde diese Entdeckung ihrer engen
Familienbande gefeiert. Lilian grinste und schrieb einige Lieder dazu,
die beim nächsten Konzert vorgetragen wurden, nachdem die Familie
sie für gut befunden hatten.
Es waren inzwischen mehrere Jahre nach ihrem Hochzeitstanz vergangen.
Lugur saß hinter der Bühne und beobachtete, wie seine Lilian
bejubelt wurde. Da fiel ihm an diesem Abend wieder dieses komische Verhalten
von ihr auf. Er überlegte und es fiel ihm ein, dass diese Veränderung
vor gut drei Wochen begonnen hatte.
Lilian schlurfte müde durch die Höhlenräume, die
sie im Drachenhotel Tatra bewohnten und packte umgehend ihre Sachen ein.
Sie würdigte der wunderschönen Aussicht auf die Berge mit den
grünen Wiesen und den Wäldern keinen Blick.
Dann fauchte sie Lugur an: »Lass uns sofort abfliegen. In
den nächsten drei Wochen habe ich Zeit für dich und deine Drachenburg.«
Lugur grinste, schnappte sich das Gepäck, griff Lilians linke
Pranke, zahlte an der Rezeption und verließ das Drachenhotel.
Die Sonne ging gerade unter, als sie vor der Eingangshöhle
des Drachenschlosses landeten. Vorsichtig schob Lilian die Pflanzenwand
beiseite und betrat die Höhle. Lugur folgte ihr ganz langsam und stellte
in einer Nische das Gepäck ab.
Lilian bedauerte, dass sie Termine auf Jahre hinaus hatte. Auch
Lugur, der gerne malte und seine Bilder ausstellte, hatte einen vollen
Terminkalender. Seine Gemälde waren begehrt und wurden gesammelt.
Da sie die Renovierung und Sanierung der Drachenhöhle aus Zeitgründen
nicht selber machen konnten, beauftragten sie dafür fähige Handwerker.
Die ließen sich Zeit dafür und trödelten.
Mit dem Saubermachen hielten sie sich auch nicht auf, wenn sie mit
Renovierung oder Ausbau einer Höhle fertig waren. Nutzten sie doch
stattdessen diese Zeit, um nach der Drachenschatzhöhle zu suchen,
die sie zum Glück nicht fanden.
Inzwischen waren wieder viele Jahre ins Land gegangen und in Sternenmond
war der Friede endgültig eingezogen. Als Lugur erfuhr, dass in zwei
Länder geteilt war, gefiel es ihm nicht. Er studierte die Bücher
und lächelte, als er eine Verheißung entdeckte.
Endlich hatte Lilian keine Termine mehr und genoss es, ohne Termindruck
herumzureisen und einzukaufen. Die Einkäufe ließ sie durch Boten
in die Drachenburg bringen.
Durch einen Boten erfuhr Lugur, dass die Umbauarbeiten abgeschlossen
seien und bei der nächsten Gelegenheit flog er mit Lilian zur Drachenburg.
Die erleichterte Lilian freute sich und sah sich gründlich
in der Drachenburg um. Sie fauchte ungehalten und spuckte Feuer, weil die
Handwerker den Dreck nicht weggeräumt hatten, obwohl diese sich dazu
verpflichtet hatten.
Gemeinsam säuberten die beiden Drachen die Burg und Schreie
ertönten, welches Dreckschwein ihre Höhle verunreinigt hatte.
Der sehr geduldige Lugur besorgte im Drachengroßhandel große
Eimer, Seife und große Bürsten, jeweils die beste Qualität,
die es auf dem Markt gab. Immer wieder schleppte er aus der eigenen Heißwasserhöhle
frisches heißes Wasser herbei und der Hausputz ging weiter. Das schmutzige
wurde in einen Klärteich gegossen.
Kaum waren sie fertig, tauchte Mama mit dem Rosenbusch auf und überreichte
ihn der Tochter. Die strahlte Mama an und pflanzte den Rosenbusch an geeigneter
Stelle ein.
Vor der Wohnzimmerhöhle gab es eine kleine windgeschützte
Wiese, wo nun dieser Busch seinen Platz fand. Mit sanfter Stimme hieß
Lilian die Rosen willkommen. Lugur lächelte und besorgte noch weitere
Rosen und andere Sträucher.
An einer geeigneten Stelle, das Gelände gehörte ebenfalls
zur Drachenburg, hatte ein Elfenlandwirt Lavendel auf einem Feld angebaut,
und meinte zu den Drachen, sie könnten sich einige Lavendelbüschel
davon für ihre Garderobe vom Feld holen.
Freundlich bedankte Lilian sich und bat, ihr doch einige Säcke
vor die Höhle zu stellen, sie hätte jetzt keine Zeit zum Ernten.
Die Elfenfamilie brachte nicht nur Säcke mit getrocknetem Lavendel,
sondern auch Seife und Duftwasser aus eigener Herstellung zur Drachenburg.
Wenn sie ausflogen, um die Tische und andere Einrichtungsgegenstände
abzuholen, die die Handwerker endlich fertig hatten, erschien am Himmel
ein Regenbogen.
Lugur hatte den Handwerkern seine Meinung über deren langsame
Arbeitsweise fauchend kundgetan. Seufzend schoben und krempelten die Handwerker
ihre Ärmel hoch und beeilten sich. Ärger mit dem Regenbogendrachen
wollten sie nicht haben.
Das Erscheinen der Regenbögen, obwohl es nicht geregnet hatte,
wurde von den Bewohnern von Sternen beobachtet, wie auch im Elfenwald.
Bei einem der Ausflüge in die nähere Umgebung entdeckte
Lilian einen großen Bienenschwarm.
Mit Rauch beruhigte Lilian die aufgeregten Bienen und fauchte fröhlich
fordernd: »Ich brauche Bienenwachs für Kerzen.«
Diese Aufforderung hörten einige Elfen und unterstützen
die Bienen bei der Anfertigung von großen Kerzen. Der Honig wurde
kalt geschleudert und in Gläser abgefüllt.
Die Imker bestellten bei den Glasmachern große Gläser,
damit die Drachen Honig für den Frühstückstoast hatten.
Satte Drachen sind friedliche Drachen, so die gängige Meinung
bei der Bevölkerung, und sorgten dafür, dass stets genügend
Brot und andere Lebensmittel in die Drachenburg geliefert wurde.
Die Glasbläser freuten sich über den Auftrag und fertigten
die Gläser in den verschiedensten Größen an. Das mundgeblasene
Fensterglas war begehrt und wurde gern für besondere Fenster genommen.
Kinder entdeckten beim Spielen das versteckte Tonlager wieder und
berichteten davon ihren Eltern. Erleichterung bei den Töpfern, denn
das bis jetzt genutzte Tonlager ging langsam zur Neige. Dieser Ton war
so gut, deshalb konnte es auch für Dachziegeln und Backsteine verwandt
werden.
Beim Aufräumen entdeckte Lilian die Schatzhöhle, die von
den Zwergen nicht gefunden worden war. Und eine weitere Höhle wurde
entdeckt, hier gab es fließendes Wasser, das durch Röhren in
die Küche geleitet und als Trinkwasser genommen wurde.
Ein halbes Jahr nach dem Einzug war die Drachenburg endlich sauber
und gut eingerichtet, so wie es sich Lilian vorgestellt hatte.
Lugur holte die restlichen Bücher der noch im Exil befindlichen
Familienbibliothek zurück und brachte diese in die dafür vorgesehene
trockene Höhle.
In den Wohnräumen sowie in der Bibliothek hingen Spiegeltelefone
und ein großer Fernsehflachbildschirm wurde über einem Sideboard
im Wohnzimmer angebracht. Diese elektronischen Geräte hatte Elfenkönig
Blunang besorgt, ihnen liefern und durch Fachleute installieren lassen.
Das Drachenpaar genoss es, abends sich davor hinzusetzen und die
verschiedensten Fernsehberichte anzusehen.
Die Vorratskammern waren gut gefüllt und die Schlafhöhle
gemütlich eingerichtet. Die Felle des gejagten Rotwildes, der Rinder
und des Kleinviehs waren und wurden bearbeitet.
Die bearbeiteten Kuhhäute sowie der Schafe und Ziegen wurden
in die Nester gelegt. Das eine oder andere Fell lag auf dem Boden vor den
Nestern und vor dem Sofa. Lilian hatte dies in einem Magazin gesehen und
nachgeahmt.
Lugur lehnte sich zurück und erinnerte sich daran, als er noch
ein sehr kleiner Drache und etwa drei Jahre alt war. Seine Eltern flohen
mit ihm aus Sonnenland, kurz nachdem er seinen dritten Schlupftag mit seinen
Freunden gefeiert hatte. Sie waren die letzten Drachen, die das Land verließen,
und sein Vater hatte bis zu seinem Verschwinden die Drachenchronik geschrieben
und fortgeführt.
Hin und wieder notierte Lugur seine Erlebnisse in dieser Chronik.
Erst nach seiner Verbindung mit Lilian interessierte er sich für die
Vergangenheit und ergänzte die Chronik. Sehr intensiv wurde es, als
Lilian ihm sagte, dass sie trächtig sei.
Sofort wurde für den Nachwuchs eine Kinderhöhle, die direkt
neben der Elternschlafhöhle lag, eingerichtet.
Wieder waren aus dem Drachenberg laute Geräusche zu hören.
Lugur und einige Zwerge hauten im Eiltempo die Wände der Kinderhöhle
glatt, damit sich der Kleine nicht verletzte.
Lilian richtete die Höhle so ein, wie sie es in einem Magazin
gesehen hatte. - Dieses Magazin hatte Lugur aus der Parallelwelt mitgebracht.
- An den Wänden hingen Felle und von der Decke Mobiles, die Lilian
aus ihren Drachenschuppen und Muscheln, die sie mit ihrem Mann bei einem
Strandspaziergang gefunden hatte, bastelte.
Eines Tages nahm Lugur Kontakt mit dem Elbenkönig Blunang auf.
Lugur zeigte ihm die Vorhersage, dass, wenn Mond und Sterne zusammenkommen
und die Regenbogendrachen Zwillinge bekommen, endgültig Frieden zwischen
Drachen und Menschen herrschen werde.
Blunang atmete tief ein und aus und sagte: »Lugur, ich werde
dies meiner Nichte Tumdah erzählen.«
Er stand auf, schaute kurz aus dem Fenster und wandte sich an seinen
Gast. Leicht angespannt ging Blunang im Thronsaal auf und ab.
»Ich weiß aber nicht wie«, überlegte er laut.
Blaustern, die seit vielen Jahren Blunangs Lebensgefährtin
war, war diesem Gespräch gefolgt und schlug vor: »Am besten
ist es, du überlässt es Juna, Tumdahs Lieblings-Bücherfee,
die wird die geeigneten Worte finden und es unserer Lieblingsnichte beibringen
und zeigen. Die soll das Buch mit der Vorhersage raussuchen und es Tumdah
in einem geeigneten Moment vorlegen.«
Erleichtert seufzte Blunang: »Sehr gute Idee«, drehte
sich zum Spiegelbildtelefon und rief Juna an.
© Luise
Drachenanwältin
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