Lauf!, schrie eine Stimme, von der Alex zuerst nicht wusste,
wer ihr Besitzer war, bevor er bemerkte, dass es sich dabei um seine eigene
- innere - Stimme handelte, die ihn anspornte, sich die Seele aus dem Leib
zu rennen. Lauf um dein Leben! Wenn sie dich kriegen, ist es um dich
geschehen! Die Runenwächter kennen keine Gnade!
Er konnte nicht sagen, wie lange er schon rannte. Vielleicht seit
fünf Minuten, vielleicht auch schon seit fünf Stunden, aber es
kam ihm wie fünf Ewigkeiten vor. Was vor ihm lag, wusste er
nicht zu sagen - der unsichtbare Regisseur dieses höllischen Intermezzos
hatte einen dichten Vorhang aus scheinbar undurchdringlicher Dunkelheit
überall um Alex herum ausbreiten lassen, der ihm, Alex, die Sicht
auf alles nahm, was mehr als einen halben Meter von ihm entfernt war. Diese
finstere Mauer machte aber das Geräusch, das er hörte, nur noch
schlimmer, albtraumhafter, endgültiger: nackte Füße auf
dem unebenen Boden aus kaltem Stein. Alex wagte es nicht, sich umzudrehen.
Sie verfolgten ihn. Die Runenwächter verfolgten ihn.
Plötzlich, während er weiterlief und keuchte und ein gehässiges
Schicksal entschied, ihm einen nichtsnutzigen Gefährten in Form von
schmerzendem Seitenstechen zur Seite zu stellen, streifte ihn ein Gedanke
aus heiterem Himmel (ob der Himmel wirklich heiter war, wagte er zu bezweifeln),
so blitzartig und überraschend wie ein Computerabsturz während
einer LAN-Party. Woher wusste er, wie seine Verfolger hießen? Woher
hatte er den Namen Runenwächter?
Durch diese Erkenntnis abgelenkt, achtete Alex nicht auf den halben
Meter des Weges, der von der totalen Finsternis verschont blieb, und übersah
eine Unebenheit auf dem steinernen Boden. Er stolperte, begann mit den
Armen zu rudern und erlangte gerade noch sein Gleichgewicht zurück,
um nicht Bekanntschaft mit dem harten, kalten Stein zu machen. Noch während
er gegen die Eskapaden seines Gleichgewichtssinnes ankämpfte, lief
er weiter. Seine innere Stimme war nun zu einer schreienden Infernalität
herangewachsen, die immer dasselbe posaunte: Lauf! Lauf um dein Leben!
Die Runenwächter dürfen dich nicht in die Finger bekommen!
Seine Verfolger schienen aufgeholt zu haben, denn die Schritte waren
etwas deutlicher geworden. Sie kamen näher. Unaufhaltsam.
Das Seitenstechen wurde schlimmer, seine Lungen schrieen nach Sauerstoff,
trotzdem unterbrach Alex seine Flucht nicht. Was seine innere Stimme ihm
mit einer Lautstärke, gegen die sich jedes Gothic-Konzert wie ein
Schülerchor ausnahm, mitteilte, stimmte. Es stimmte einfach. Wenn
sie ihn erwischten, war es aus mit ihm. Er konnte nicht sagen, woher er
dieses Wissen bezog, es war einfach da. Egal, wie irrational es klingen
mochte, er wusste, dass seine innere Stimme einfach Recht hatte!
So sehr sie ihm aber ein grauenvolles Schicksal, sollte er den Runenwächtern
in die Hände fallen, prophezeite, so wenig warnte sie ihn vor dem
Abgrund, der vor ihm lag und den zu erkennen die Dunkelheit verbot.
Das Geräusch fliegender Schritte hinter ihm - er konnte seine
Verfolger nicht erkennen, denn als er sich umblickte, sah er keine Runenwächter,
sondern vollkommene Finsternis - ließ nicht nach, es schien im Gegenteil
drohend lauter zu werden, so dass Alex noch einmal alle Kräfte, die
er in seinem Körper ausmachen konnte, mobilisierte. Lauf um dein
Leben!, schrie seine innere Stimme unentwegt, als würde eine Schallplatte
mit einem Sprung in derselben irgendwo in seinem Innersten abgespielt.
Er lief und rannte und -
- trat ins Leere.
Es kam so plötzlich und überraschend, dass er anfangs
keinen Laut von sich geben konnte, dann, als er schreien wollte, konnte
er nicht, da er begriffen hatte, dass er soeben in einen Abgrund stürzte,
und sein Herz von einer unsichtbaren kalten Hand zu einem kleinen festen
Kloß zusammengedrückt wurde. Die Dunkelheit, in die er nun stürzte
und die ihm den Blick auf den Grund dieser Schlucht nahm, war keineswegs
so vollkommen wie jene, die ihn auf seiner Flucht begleitet hatte. Sie
war noch vollkommener.
Nun, da er unaufhaltsam dem Unbekannten entgegen fiel, lösten
sich die kalten Ketten, in welche sein Herz geschlagen worden war, und
er schrie aus Leibeskräften. Seine innere Stimme, die bis jetzt die
Rolle des ebenso enervierenden wie auch anspornenden Gefährten inne
gehabt hatte, war verstummt; wie um ihn still zu verspotten.
Er fiel, einem Grund entgegen, von dem nicht einmal sicher war,
dass er vorhanden war, und Alex schrie, als würde der Leibhaftige
selbst ihn erwarten, und ...
... fuhr mit einem Schrei in die Höhe. Sein Herz jagte, als
wolle es ihm aus der Brust springen, sein Atem versuchte Letzteres an spurtender
Geschwindigkeit zu überbieten. Er war am ganzen Leib in Schweiß
gebadet. Als Alex sich im Bett aufsetzen wollte, wurde ihm sofort darauf
schwindlig, das Zimmer begann sich immer schneller und schneller zu drehen,
bis er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen.
Hastig schloss Alex die Augen, um dieses außer Kontrolle geratene
Karussell aus fliegenden Fetzen der Wirklichkeit zu stoppen. Doch kaum
hatte er dies getan, tat sich vor seinem geistigen Auge erneut der schwarze
Abgrund aus seinem Albtraum auf und er hatte einmal mehr das Gefühl
einem nicht existierenden Grund entgegenzutrudeln, so als ob der fürchterliche
Traum allein durch das Schließen der Augen fortgeführt würde.
Erschrocken öffnete er wieder die Augen und versuchte, seinen galoppierenden
Atem in den Griff zu bekommen.
Es ist vorbei, dachte Alex, zwar keuchend und nach Luft schnappend,
aber mit einem Gefühl der Beruhigung. Es war nur ein Albtraum,
mehr nicht.
Ohne eine Vorwarnung flog die Tür seines Zimmers auf. Licht
durchbrach den Vorhang aus Dunkelheit, der aufgrund der späten Stunde
vorherrschte, und blendete Alex, dessen Augen noch immer das Bild vom lichtlosen
Abgrund vor sich hatten. Noch während diese sich an die veränderten
Lichtverhältnisse zu gewöhnen versuchten, erschien eine Gestalt
im Türrahmen; ein Schatten aus substanzloser Schwärze und geronnener
Finsternis. Sie haben dich verfolgt, durchfuhr es Alex mit aufkeimender
Panik, die Runenwächter haben dich bis hierher in die Wirklichkeit
verfolgt. Bis in dein Zimmer!
Bevor er auch nur in irgendeiner Weise auf diese schattenhafte Bedrohung
reagieren konnte, war die Gestalt mit zwei, drei Schritten an seinem Bett.
Kräftige Hände packten ihn an den Schultern und schüttelten
ihn.
"Alex, was ist los?"
Die Vertrautheit, die in dieser Stimme mitschwang, hielt ihn davon
ab, nach ihrem Besitzer zu schlagen oder sich auf sonst irgendeine Art
und Weise zu befreien.
"Was hast du, Alex?"
Alex blinzelte ein paar Mal, um die Tränen, die aufgrund des
Lichtes seine Augen erobert hatten, zu vertreiben - und identifizierte
das Gesicht, das ihn aus angsterfüllten Augen anstarrte, als das seines
Vaters.
Er wusste nicht, wie lange er im Bett so dasaß und seinen
Vater mit einem von Verwirrung und Angst erfüllten Blick fixierte.
Wahrscheinlich nur Sekunden, doch ihm kam es wie die lächerliche Kleinigkeit
der Zehnerpotenz von hundert Ewigkeiten vor. Schließlich brach sein
Vater das unheilvolle Schweigen: "Was war denn los? Warum hast du so geschrieen?"
Alex blinzelte erneut; diesmal aber nicht, um seine Augen an die
in seinem Zimmer herrschenden Lichtverhältnisse zu gewöhnen,
sondern aus dem simplen Grund, weil er absolut keine Ahnung hatte, was
sein Vater meinte. Ich habe geschrieen?, dachte er - und musste
an seinen Albtraum denken, an den endlosen Sturz in die schwarze Tiefe
und die unbeschreibliche Angst, die er gespürt hatte, als er aufgewacht
war.
"Es ... es geht schon. War nur ein Albtraum", sagte er.
Der Blick, mit dem Alex’ Vater seinen Sohn misstrauisch maß,
zeigte, was er von dieser Bemerkung hielt - nämlich soviel wie vom
Ausgang der letzten Wahlen - und einen Augenblick lang hatte Alex wirklich
Angst,
dass sein erwachsenes Gegenüber nachbohren und die namenlosen Schrecken
eines grausamen Traumes wieder heraufbeschwören würde. Doch sein
Vater schaute ihn noch zwei geschlagene Sekunden mit einem von schwachem
Misstrauen geschwängerten Blick an, dann erhob er sich aus der Hocke,
in der er sich neben Alex’ Bett befunden hatte, und sagte: "Okay, wenn
du meinst."
Er drehte sich um und war kaum drei Schritte Richtung Tür und
damit Richtung Wohnzimmer gegangen, als Alex allen Mut zusammennahm und
den grauenvollen Bildern, die ihn zu attackieren gedachten, zum Trotz fragte:
"Habe ich wirklich so laut geschrieen?"
Herr Berger blieb stehen und ließ - bewusst oder auch unbewusst,
das vermochte Alex nicht genau zu sagen - einige Sekunden verstreichen,
bevor er sich zu seinem in Schweiß gebadeten Sohn umdrehte. "Junge,
ich dachte, in deinem Zimmer wird ein Schwein abgestochen. Ich habe es
wirklich mit der Angst zu tun bekommen."
Das glaubte er seinem Vater, gleichzeitig aber nistete sich auch
so etwas wie - vollkommen irrationale - Wut in seinen Gedanken ein. Wenn
du wüsstest, was ich ausgestanden habe. Und erneut griffen Schreckensbilder
eines Nachtmahrs wie tausend düstere Tentakel nach ihm ...
"Wo ist eigentlich Mutter?", versuchte er (sich) vom Thema abzulenken.
"Auf einer Weihnachtsfeier in der Firma."
Natürlich, fiel es ihm wieder ein. Sie hatte ja extra
betont, dass es spät werden könnte, bis sie wieder zu Hause war.
"Schlaf jetzt", meinte sein Vater, "morgen hast du schließlich
noch eine Prüfung." Er grinste; kein hämisches Feixen, sondern
ein aufmunterndes Lächeln. "Die letzte vor den Ferien. Dann hast du
zwei Wochen frei."
Sein Vater hatte Recht. Mit einem genuschelten "Gute Nacht." legte
er sich hin und schloss die Augen. Kaum aber hatte sein Vater die Tür
hinter sich geschlossen und Dunkelheit sein Zimmer zurückerobert,
öffnete er sie wieder und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wäre
es eine Geschichte gewesen, auf die er in irgendeiner Fantasy-Anthologie
oder im Internet gestoßen wäre, hätte er dieses Angstgefühl
als das empfunden, was es in diesem Fall gewesen wäre; nämlich
als obligatorischer Schockeffekt, die verpflichtete Gänsehaut, unentbehrlich
für eine spannende Erzählung. Aber es war eben keine Geschichte
aus der Feder eines Stephen King gewesen, wie sie in seinem Bücherregal
zuhauf vorhanden waren, sondern ein schrecklicher Albtraum, der ... so
lebendig
wirkte, dass er ihn mit purer Angst erfüllt hatte.
Vielleicht sollte er H. P. Lovecraft und Konsorten für längere
Zeit mal im Regal stehen lassen, bevor seine Phantasie überhand nahm
und Albträume zur nächtlichen Gewohnheit würden.
Runenwächter, dachte er, bevor er wieder dem Schlaf
anheim fiel. Was für ein seltsamer Traum.
Auf dem Dach eines Gebäudes gegenüber dem Wohnbau, in dem
sich die Wohnung von Alex und seinen Eltern befand, stand eine dunkle Gestalt,
die das Geschehen von eben, das Aufwachen des Jungen aus einem schlimmen
Albtraum, beobachtet hatte.
Es ist nun soweit, dachte sie. Die Runennacht bricht an.
Traurig hob die Gestalt den Kopf und betrachtete den bleichen Vollmond.
Es könnte das letzte Mal sein, dass Menschen ihren kosmischen Nachbarn
zu sehen bekommen.
© Michael
Höfel
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