Runennacht von Michael Höfel
Kapitel 1 - Runentraum

Lauf!, schrie eine Stimme, von der Alex zuerst nicht wusste, wer ihr Besitzer war, bevor er bemerkte, dass es sich dabei um seine eigene - innere - Stimme handelte, die ihn anspornte, sich die Seele aus dem Leib zu rennen. Lauf um dein Leben! Wenn sie dich kriegen, ist es um dich geschehen! Die Runenwächter kennen keine Gnade!
Er konnte nicht sagen, wie lange er schon rannte. Vielleicht seit fünf Minuten, vielleicht auch schon seit fünf Stunden, aber es kam ihm wie fünf Ewigkeiten vor. Was vor ihm lag, wusste er nicht zu sagen - der unsichtbare Regisseur dieses höllischen Intermezzos hatte einen dichten Vorhang aus scheinbar undurchdringlicher Dunkelheit überall um Alex herum ausbreiten lassen, der ihm, Alex, die Sicht auf alles nahm, was mehr als einen halben Meter von ihm entfernt war. Diese finstere Mauer machte aber das Geräusch, das er hörte, nur noch schlimmer, albtraumhafter, endgültiger: nackte Füße auf dem unebenen Boden aus kaltem Stein. Alex wagte es nicht, sich umzudrehen. Sie verfolgten ihn. Die Runenwächter verfolgten ihn.
Plötzlich, während er weiterlief und keuchte und ein gehässiges Schicksal entschied, ihm einen nichtsnutzigen Gefährten in Form von schmerzendem Seitenstechen zur Seite zu stellen, streifte ihn ein Gedanke aus heiterem Himmel (ob der Himmel wirklich heiter war, wagte er zu bezweifeln), so blitzartig und überraschend wie ein Computerabsturz während einer LAN-Party. Woher wusste er, wie seine Verfolger hießen? Woher hatte er den Namen Runenwächter?
Durch diese Erkenntnis abgelenkt, achtete Alex nicht auf den halben Meter des Weges, der von der totalen Finsternis verschont blieb, und übersah eine Unebenheit auf dem steinernen Boden. Er stolperte, begann mit den Armen zu rudern und erlangte gerade noch sein Gleichgewicht zurück, um nicht Bekanntschaft mit dem harten, kalten Stein zu machen. Noch während er gegen die Eskapaden seines Gleichgewichtssinnes ankämpfte, lief er weiter. Seine innere Stimme war nun zu einer schreienden Infernalität herangewachsen, die immer dasselbe posaunte: Lauf! Lauf um dein Leben! Die Runenwächter dürfen dich nicht in die Finger bekommen!
Seine Verfolger schienen aufgeholt zu haben, denn die Schritte waren etwas deutlicher geworden. Sie kamen näher. Unaufhaltsam.
Das Seitenstechen wurde schlimmer, seine Lungen schrieen nach Sauerstoff, trotzdem unterbrach Alex seine Flucht nicht. Was seine innere Stimme ihm mit einer Lautstärke, gegen die sich jedes Gothic-Konzert wie ein Schülerchor ausnahm, mitteilte, stimmte. Es stimmte einfach. Wenn sie ihn erwischten, war es aus mit ihm. Er konnte nicht sagen, woher er dieses Wissen bezog, es war einfach da. Egal, wie irrational es klingen mochte, er wusste, dass seine innere Stimme einfach Recht hatte!
So sehr sie ihm aber ein grauenvolles Schicksal, sollte er den Runenwächtern in die Hände fallen, prophezeite, so wenig warnte sie ihn vor dem Abgrund, der vor ihm lag und den zu erkennen die Dunkelheit verbot.
Das Geräusch fliegender Schritte hinter ihm - er konnte seine Verfolger nicht erkennen, denn als er sich umblickte, sah er keine Runenwächter, sondern vollkommene Finsternis - ließ nicht nach, es schien im Gegenteil drohend lauter zu werden, so dass Alex noch einmal alle Kräfte, die er in seinem Körper ausmachen konnte, mobilisierte. Lauf um dein Leben!, schrie seine innere Stimme unentwegt, als würde eine Schallplatte mit einem Sprung in derselben irgendwo in seinem Innersten abgespielt. Er lief und rannte und -
- trat ins Leere.
Es kam so plötzlich und überraschend, dass er anfangs keinen Laut von sich geben konnte, dann, als er schreien wollte, konnte er nicht, da er begriffen hatte, dass er soeben in einen Abgrund stürzte, und sein Herz von einer unsichtbaren kalten Hand zu einem kleinen festen Kloß zusammengedrückt wurde. Die Dunkelheit, in die er nun stürzte und die ihm den Blick auf den Grund dieser Schlucht nahm, war keineswegs so vollkommen wie jene, die ihn auf seiner Flucht begleitet hatte. Sie war noch vollkommener.
Nun, da er unaufhaltsam dem Unbekannten entgegen fiel, lösten sich die kalten Ketten, in welche sein Herz geschlagen worden war, und er schrie aus Leibeskräften. Seine innere Stimme, die bis jetzt die Rolle des ebenso enervierenden wie auch anspornenden Gefährten inne gehabt hatte, war verstummt; wie um ihn still zu verspotten.
Er fiel, einem Grund entgegen, von dem nicht einmal sicher war, dass er vorhanden war, und Alex schrie, als würde der Leibhaftige selbst ihn erwarten, und ...

... fuhr mit einem Schrei in die Höhe. Sein Herz jagte, als wolle es ihm aus der Brust springen, sein Atem versuchte Letzteres an spurtender Geschwindigkeit zu überbieten. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet. Als Alex sich im Bett aufsetzen wollte, wurde ihm sofort darauf schwindlig, das Zimmer begann sich immer schneller und schneller zu drehen, bis er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen.
Hastig schloss Alex die Augen, um dieses außer Kontrolle geratene Karussell aus fliegenden Fetzen der Wirklichkeit zu stoppen. Doch kaum hatte er dies getan, tat sich vor seinem geistigen Auge erneut der schwarze Abgrund aus seinem Albtraum auf und er hatte einmal mehr das Gefühl einem nicht existierenden Grund entgegenzutrudeln, so als ob der fürchterliche Traum allein durch das Schließen der Augen fortgeführt würde. Erschrocken öffnete er wieder die Augen und versuchte, seinen galoppierenden Atem in den Griff zu bekommen.
Es ist vorbei, dachte Alex, zwar keuchend und nach Luft schnappend, aber mit einem Gefühl der Beruhigung. Es war nur ein Albtraum, mehr nicht.
Ohne eine Vorwarnung flog die Tür seines Zimmers auf. Licht durchbrach den Vorhang aus Dunkelheit, der aufgrund der späten Stunde vorherrschte, und blendete Alex, dessen Augen noch immer das Bild vom lichtlosen Abgrund vor sich hatten. Noch während diese sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen versuchten, erschien eine Gestalt im Türrahmen; ein Schatten aus substanzloser Schwärze und geronnener Finsternis. Sie haben dich verfolgt, durchfuhr es Alex mit aufkeimender Panik, die Runenwächter haben dich bis hierher in die Wirklichkeit verfolgt. Bis in dein Zimmer!
Bevor er auch nur in irgendeiner Weise auf diese schattenhafte Bedrohung reagieren konnte, war die Gestalt mit zwei, drei Schritten an seinem Bett. Kräftige Hände packten ihn an den Schultern und schüttelten ihn.
"Alex, was ist los?"
Die Vertrautheit, die in dieser Stimme mitschwang, hielt ihn davon ab, nach ihrem Besitzer zu schlagen oder sich auf sonst irgendeine Art und Weise zu befreien.
"Was hast du, Alex?"
Alex blinzelte ein paar Mal, um die Tränen, die aufgrund des Lichtes seine Augen erobert hatten, zu vertreiben - und identifizierte das Gesicht, das ihn aus angsterfüllten Augen anstarrte, als das seines Vaters.
Er wusste nicht, wie lange er im Bett so dasaß und seinen Vater mit einem von Verwirrung und Angst erfüllten Blick fixierte. Wahrscheinlich nur Sekunden, doch ihm kam es wie die lächerliche Kleinigkeit der Zehnerpotenz von hundert Ewigkeiten vor. Schließlich brach sein Vater das unheilvolle Schweigen: "Was war denn los? Warum hast du so geschrieen?"
Alex blinzelte erneut; diesmal aber nicht, um seine Augen an die in seinem Zimmer herrschenden Lichtverhältnisse zu gewöhnen, sondern aus dem simplen Grund, weil er absolut keine Ahnung hatte, was sein Vater meinte. Ich habe geschrieen?, dachte er - und musste an seinen Albtraum denken, an den endlosen Sturz in die schwarze Tiefe und die unbeschreibliche Angst, die er gespürt hatte, als er aufgewacht war.
"Es ... es geht schon. War nur ein Albtraum", sagte er.
Der Blick, mit dem Alex’ Vater seinen Sohn misstrauisch maß, zeigte, was er von dieser Bemerkung hielt - nämlich soviel wie vom Ausgang der letzten Wahlen - und einen Augenblick lang hatte Alex wirklich Angst, dass sein erwachsenes Gegenüber nachbohren und die namenlosen Schrecken eines grausamen Traumes wieder heraufbeschwören würde. Doch sein Vater schaute ihn noch zwei geschlagene Sekunden mit einem von schwachem Misstrauen geschwängerten Blick an, dann erhob er sich aus der Hocke, in der er sich neben Alex’ Bett befunden hatte, und sagte: "Okay, wenn du meinst."
Er drehte sich um und war kaum drei Schritte Richtung Tür und damit Richtung Wohnzimmer gegangen, als Alex allen Mut zusammennahm und den grauenvollen Bildern, die ihn zu attackieren gedachten, zum Trotz fragte: "Habe ich wirklich so laut geschrieen?"
Herr Berger blieb stehen und ließ - bewusst oder auch unbewusst, das vermochte Alex nicht genau zu sagen - einige Sekunden verstreichen, bevor er sich zu seinem in Schweiß gebadeten Sohn umdrehte. "Junge, ich dachte, in deinem Zimmer wird ein Schwein abgestochen. Ich habe es wirklich mit der Angst zu tun bekommen."
Das glaubte er seinem Vater, gleichzeitig aber nistete sich auch so etwas wie - vollkommen irrationale - Wut in seinen Gedanken ein. Wenn du wüsstest, was ich ausgestanden habe. Und erneut griffen Schreckensbilder eines Nachtmahrs wie tausend düstere Tentakel nach ihm ...
"Wo ist eigentlich Mutter?", versuchte er (sich) vom Thema abzulenken.
"Auf einer Weihnachtsfeier in der Firma."
Natürlich, fiel es ihm wieder ein. Sie hatte ja extra betont, dass es spät werden könnte, bis sie wieder zu Hause war.
"Schlaf jetzt", meinte sein Vater, "morgen hast du schließlich noch eine Prüfung." Er grinste; kein hämisches Feixen, sondern ein aufmunterndes Lächeln. "Die letzte vor den Ferien. Dann hast du zwei Wochen frei."
Sein Vater hatte Recht. Mit einem genuschelten "Gute Nacht." legte er sich hin und schloss die Augen. Kaum aber hatte sein Vater die Tür hinter sich geschlossen und Dunkelheit sein Zimmer zurückerobert, öffnete er sie wieder und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wäre es eine Geschichte gewesen, auf die er in irgendeiner Fantasy-Anthologie oder im Internet gestoßen wäre, hätte er dieses Angstgefühl als das empfunden, was es in diesem Fall gewesen wäre; nämlich als obligatorischer Schockeffekt, die verpflichtete Gänsehaut, unentbehrlich für eine spannende Erzählung. Aber es war eben keine Geschichte aus der Feder eines Stephen King gewesen, wie sie in seinem Bücherregal zuhauf vorhanden waren, sondern ein schrecklicher Albtraum, der ... so lebendig wirkte, dass er ihn mit purer Angst erfüllt hatte.
Vielleicht sollte er H. P. Lovecraft und Konsorten für längere Zeit mal im Regal stehen lassen, bevor seine Phantasie überhand nahm und Albträume zur nächtlichen Gewohnheit würden.
Runenwächter, dachte er, bevor er wieder dem Schlaf anheim fiel. Was für ein seltsamer Traum.

Auf dem Dach eines Gebäudes gegenüber dem Wohnbau, in dem sich die Wohnung von Alex und seinen Eltern befand, stand eine dunkle Gestalt, die das Geschehen von eben, das Aufwachen des Jungen aus einem schlimmen Albtraum, beobachtet hatte.
Es ist nun soweit, dachte sie. Die Runennacht bricht an. Traurig hob die Gestalt den Kopf und betrachtete den bleichen Vollmond. Es könnte das letzte Mal sein, dass Menschen ihren kosmischen Nachbarn zu sehen bekommen.
 

© Michael Höfel
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Und schon geht es hier weiter zum 2. Kapitel: "Zeichen der Nacht"...

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