Krieg der Götter von Roxana
1: Die andere Welt

Eigentlich wusste Alex nicht einmal genau, wie er dort hingekommen war, wo er sich jetzt befand. Wo das genau war, wusste er übrigens auch nicht.
Er wusste, dass er in einen See gefallen war, in dem sich nicht einmal das Monster von Loch Ness wohlgefühlt hätte. Dieser Tümpel war der einzige Platz, an dem er sich nach dem Umzug nach England richtig wohlgefühlt hatte. Der See war schwarz und selbst wenn die Sonne mittags ihren höchsten Stand erreicht hatte und genau senkrecht auf die Wasseroberfläche traf, war meistens nichts zu sehen als dunkles, doch auf keinen Fall schmutziges Wasser. Doch ein paar Mal, wenn er so am Waldrand saß und auf die spiegelglatte Oberfläche des Sees schaute, glaubte er, Lichter zu sehen oder auch irgendeine Art von Bewegung, die unter dem See und nicht in ihm zu erkennen war. Doch immer, wenn er sich darauf zu konzentrieren versuchte, schien es sich ihm, auf rätselhafte Weise, entziehen zu wollen und regelmäßig, wenn er immer noch versuchte, es genau zu erkennen, passierte irgendetwas, das ihn aus seinen Gedanken holte, wie zum Beispiel eine Wolke, die sich ganz zufällig vor die Sonne schob, oder eine Horde von Kindern, die vorbei liefen und Steine in den See warf, sodass die gesamte Seeoberfläche in Bewegung geriet und nichts mehr zu sehen war.
Doch an diesem Tag war alles anders gewesen, denn Alex setzte sich nicht wie gewöhnlich ein kleines Stück entfernt vom See am Waldrand hin und starrte Löcher in die Luft, sondern ging direkt und zielstrebig auf das Ufer zu und hängte seine Füße bis zu den Knöcheln in das eiskalte Wasser, obwohl er dies gar nicht vorgehabt hatte. Und dann ging plötzlich alles so schnell...
Er redete sich immer noch ein, einfach ausgerutscht und ganz in den See gefallen zu sein, sich eine Gehirnerschütterung beim Aufschlagen auf dem Grund geholt zu haben und jetzt irgendwie im Fieberwahn zu fantasieren. Doch im Grunde seines Herzens wusste er selbst, dass es sich so leider nicht abgespielt hatte. 
In Wirklichkeit war er im wahrsten Sinne des Wortes in einen riesigen Strudel, der sich plötzlich gebildet hatte, "eingesogen" worden. Er hatte noch verzweifelt versucht, sich gegen den Sog zu stemmen und sich an irgendetwas festzuklammern, aber das einzige was er fand waren seine Turnschuhe, die ihm in diesem Augenblick auch nicht weiter halfen.
Er schrie nach Leibeskräften als er wie in einer Spirale drehend dem Seegrund immer und immer näher kam. Alex wusste nicht, wie ihm geschah, ihm wurde schwindelig und übel und als er im nächsten Moment nach unten schaute, um zu sehen, wie weit sein Ende noch von ihm entfernt war, war der Seegrund verschwunden. Nun zweifelte Alex beim besten Willen an seinem Verstand, denn als er nach oben zu sehen versuchte, um festzustellen, ob er bei dieser ganzen Wirbelei nicht kopfüber gegangen war, sah er nichts als diesen riesigen Strudel aus Wassermassen und aquamarinblauen Himmel. 
Doch was in Gottesnamen war das!
Statt feuchtem, schwarzem Schlamm (wie üblich bei einem See), konnte er nun einen zweiten See unter sich erkennen und rundherum waren nun Wiesen und ein riesiger Turm zu sehen.
In diesem Moment hörte ganz plötzlich wie auf einen Schlag der Strudel, in dem er sich befand, auf zu rotieren und verschwand genauso schnell, wie er erschienen war. Alex´ Pech war nur, dass er sich immer noch gut zwanzig Meter über dem Erdboden befand. Zuerst passierte nichts. Er hing einfach in der Luft ohne auch nur zu wagen ein einziges Mal zu atmen. Als er fast schon so weit war, an die Außerkraftsetzung der Schwerkraft zu glauben, fiel er und zwar glücklicherweise in den zweiten See. Obwohl ihm der See von oben sehr klein vorgekommen war, schien er doch sehr tief und leider auch sehr kalt zu sein. Da Alex im Fallen angefangen hatte zu schreien, schluckte er beim Auftreffen auf dem See natürlich eine Menge Wasser.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte versuchte er sich zur Wasseroberfläche vorzuarbeiten. Doch auf halben Wege schwanden ihm vor Erschöpfung die Sinne und als er sich gerade einer angenehmen Schwere, die in seine Glieder gefahren war, ergeben wollte, ergriff ihn plötzlich eine eisenbehandschuhte Hand und riss ihn so schnell in die Höhe, dass es ihm die Luft aus den Lungen trieb.
Hustend und prustend wurde er an das Ufer des Sees gezogen und nach knapp fünf Minuten, als er die Augen öffnete, ohne dass ihm gleich wieder schwarz vor Augen wurde, blickte er auf eine stählerne Schwertspitze, die genau auf seinen Hals gerichtet war. Erschrocken wollte Alex hochfahren, besann sich dann aber eines Besseren und blieb bewegungslos liegen. Von dort aus folgte er dem Schwert über eine weitere eisenbehandschuhten Hand, einer Rüstung wie man sie heute nur noch in alten Ritterfilmen bewundern kann, zu einem Helm, der ebenfalls aus dem Mittelalter zu stammen schien.
Und in diesem Augenblick begann der Ritter auch schon mit blecherner Stimme zu sprechen: "Wer bist du und wo in Jesusnamen kommst du her?"
Als Alex weiter wie versteinert auf die Gestalt, die sich da vor ihm so groß und breit aufgebaut hatte, starrte und keine Anstalten machte, Antwort zu geben, wurde der Ritter endgültig wütend. 
Er schrie fast: " Wirst du wohl antworten, törichtes Kind! Ich frage jetzt nur noch ein einziges mal, wer bist du und wo kommst du her?"
Langsam erholte sich Alex von seinem Schrecken und begann zaghaft zu antworten:
"Mein... Mein Name ist... Alex. Ich komme aus... Llandrindod Wells in England."
"Nun", sprach der Ritter weiter, "Alex, so. Und was willst du hier, Alex? Willst du uns etwa ausspionieren?"
Alex beeilte sich nun zu antworten: "Nein, ich will ganz sicher nicht spionieren und ich weiß auch nicht, wie ich hier her komme, bitte glauben Sie mir doch!" 
"Du willst mir also weismachen, dass du nicht weißt, wie du hierher kommst und dass du keiner der Späher von Ignis  bist? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?"
"Ja, ich meine Nein... wer oder was ist Ignis denn überhaupt?", sagte Alex und der Ritter schien nun wirklich zu begreifen, dass Alex keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging, denn er ließ sein Schwert sinken und nahm mit der anderen Hand seinen Helm vom Kopf. Und wieder erlebte Alex eine Überraschung, denn das Gesicht, das jetzt zum Vorschein kam, war höchstens das eines sechzehnjährigen Jungen. Er hatte blaue Augen und strohblonde Haare.
Als der vermeintliche Ritter nun sprach hörte sich seine Stimme nicht mehr so blechern an, sondern eher wie die eines ganz normalen Jugendlichen.
Er sagte: "Ich glaube dir, dass du nicht weißt, was du hier machst, aber in Zeiten wie diesen sollte man besser von Anfang an vorsichtig sein. Viele Orks und Trolle sind unterwegs und Menschen hatten seit jeher ein wankelmütiges Gemüt. Doch ich war unhöflich und habe mich dir nicht vorgestellt. Mein Name ist Simon de Winter und ich bin Templer im Zeichen des Herrn!"
Als sich Alex den Templer jetzt richtig genau anschaute, konnte er auch das große blutrote Kreuz auf dem Waffenrock des Ritters erkennen und wunderte sich, es nicht früher bemerkt zu haben.
Doch auch jetzt blieb ihm fast keine Zeit, sich den Templer genauer anzuschauen, denn in diesem Augenblick hörte man einen lauten Knall und nur eine Sekunde später konnte man ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren über den nächsten Hügel rennen sehen. Sie hatte eine Schrotflinte bei sich und war gekleidet, wie Alex es in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Sie trug Kleidung, die aus dem 18. Jahrhundert stammen musste, ein Kleid aus grauem groben Stoff und alte Lederschuhe. Weiter konnte er sie nicht mustern, denn was ihr folgte, verschlug ihm schlagartig die Sprache und vernebelte seine Gedanken mit Angst. Sie wurde von einer Meute von Kreaturen gejagt, die aus einem Horrorfilm entsprungen zu sein schienen. Es waren wildschweingesichtige, struppigbehaarte Kreaturen, die mit schwarzen Rüstungen und Panzerhemden aus faustgroßen Schuppen bekleidet waren. Einige von ihnen ritten auf Wölfen, aber die meisten humpelten so durch das Gelände. Von fern hätte man sie fast als Affen ansehen können, aber Alex hatte noch nie solche hässlichen Wesen gesehen. 
Als er endlich den Blick von diesen schrecklichen Dingern nehmen konnte und sich zu Simon umdrehte, war dieser ganz blass geworden und war dabei, seinen Helm wieder aufzusetzen. Danach nahm er sein Schwert hocherhoben in die rechte Hand und packte Alex mit der Linken so kräftig, dass dieser jeden Fluchtplan gleich wieder zu den Akten legte. Simon rannte ohne Vorwarnung los und zerrte Alex einfach hinter sich her. Sie rannten genau auf das Mädchen zu und Alex sah wie sie die Schrotflinte nachlud und im Rennen auf die Kreaturen zu schießen begann. Sie traf einen, zwei dann drei, doch jedes Mal, wenn eines dieser Wesen getroffen zu Boden sank, schienen zwei seinen Platz einzunehmen.
Alex hörte Simon ihren Namen schreien. Simon schrie: "Cathleen, Cathleen, zum Turm, schnell!"
Und das Mädchen verstand seine Worte, denn statt weiter auf sie zu zurennen schwenkte sie augenblicklich nach rechts ab, geradewegs auf den Eingang des großen Turms zu, den er von oben gesehen hatte.
Simon zog ihn jetzt immer schneller hinter sich her, sodass sie bald neben dem Mädchen liefen. Es war nur noch eine halbe Meile bis zum Eingang des Turms und schon machte sich in Alex eine Hoffnung breit nicht von diesen Wesen in Stücke gerissen zu werden, doch als er sich im Laufen umwandte, bemerkte er, dass der Vorsprung, den sie zu den Kreaturen gehabt hatte immer weiter schwand und dass sie es höchstwahrscheinlich nicht schaffen würden, den Turm zu erreichen ohne eingeholt zu werden. Diese Wesen schienen über eine bemerkenswerte Ausdauer und Kraft zu verfügen und waren außerdem auch noch sehr schnell, denn sie holten bei jedem Schritt ein wenig auf.
Doch plötzlich begannen einige von ihnen zurückzubleiben oder umzufallen und eine Minute später erkannte Alex auch den Grund dafür. Als er sich abermals umdrehte und nun wieder zu dem Turm schaute, fielen ihm die Bogenschützen auf, die in den Fenstern des Turmes Stellung bezogen hatten und begannen, ihre Verfolger unter Beschuss zu nehmen.
Aber diese Wesen schienen nicht dumm zu sein, denn als sie ihren ersten Schrecken überwunden hatten, rissen sie ihre Schilde hoch vor ihre Körper und die meisten Pfeile prallten wirkungslos daran ab.
Als Alex und seine zwei unfreiwilligen Begleiter dies bemerkten, mobilisierten sie noch einmal all ihre Kräfte und erhöhten ihr Tempo weiter. Ihr Vorsprung wuchs wieder ein wenig und es waren nicht mal mehr hundert Meter bis zu dem eisenbeschlagenen Tor, das den Eingang zum Turm darstellte. Sie kamen dem Tor immer näher und als sie auf fünfzig Meter heran waren, öffnete sich der linke Flügel dieser enormen Konstruktion aus Holz und Metall.
Mit letzten Anstrengungen erreichten sie das Tor und stürmten ohne Vorwarnung hindurch. Als sie den Innenhof des Gebäudes betraten, kam ihnen schon ein Trupp von Bewaffneten entgegen, wie man ihn sonst nirgendwo sehen konnte. Es waren alles Jugendliche von neun bis ungefähr siebzehn Jahren, die aus den unterschiedlichsten Zeitepochen zu stammen schienen. Einige von ihnen waren mit Schwertern, Pfeil und Bogen oder sogar mit Äxten bewaffnet. Andere trugen Schrotflinten, andere Gewehre oder Pistolen bei sich. Und Alex war sich sicher, dass kein einzelner von diesen Jungen und Mädchen zögern würde, seine Waffe gegen diese Wesen einzusetzen.
Doch er war so erschöpft von dieser Hetzjagd und den Anstrengungen, die er im Strudel hinter sich gebracht hatte, dass er im Hof des Turmes angekommen ohne ein weiteres Wort zusammenbrach und gerade noch merkte, wie ihn Simon sanft auffing, bevor er vollends in Ohnmacht fiel.
 
© Roxana
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