Krieg der Götter von Roxana
2: Anaxor

Als Alex nach einer Ewigkeit wieder zu sich kam, erwartete er schon fast in einem Krankenzimmer im Llandrindod Wells Hospital aufzuwachen, doch leider wurden seine Erwartungen enttäuscht, und das nicht zum ersten mal, seit er hier hergekommen war. Er wachte in einem ziemlich kleinen Raum auf, der an zwei Seiten mit sehr dicken Steinquadern gebaut zu sein schien. In einer dritten Wand war ein sehr kleines, schmales Fenster, das den Blick auf eine weitere sehr hohe Mauer freigab, eingelassen. Offensichtlich musste Alex´ Zimmer zum Innenhof des Turmes zeigen. Gegenüber dieses Fensters, auf der vierten Seite des Zimmers, sah er eine große, wuchtige aber auch ein wenig morsche Holztür, die allerdings keine Klinke oder sonstige Öffnungsmöglichkeiten besaß.
Alex selbst lag in einem sehr bequemen, jedoch auch sehr einfachen Bett. Erst jetzt bemerkte er, dass er entkleidet worden war und dass alle seine zahlreichen kleinen Wunden versorgt worden waren. 
Außer dem Bett, einem winzigen Tisch und einem Stuhl, auf dem alle seine Sachen gewaschen und zusammengelegt lagen, war der Raum völlig leer. Als Alex sich aufsetzen und zum Fenster gehen wollte, schoss ihm sofort ein stechender Schmerz durch den ganzen Kopf, so dass er sich dann doch auf sein Lager zurücksinken ließ. Er war kaum eine Viertelstunde wach, als Simon und ein sehr alter Mann das Zimmer betraten. Sie gingen dabei sehr vorsichtig zu Werke, weil sie wohl annahmen, Alex schiefe noch. Alex, der jedoch weder dem Alten noch Simon vertraute, tat alles, um den Anschein, er schliefe noch, aufrecht zu erhalten. Rasch schloss er die Augen und versuchte so gleichmäßig wie möglich zu atmen, um die Reaktion der beiden Besucher abzuwarten.
Seine Geduld wurde allerdings auf eine sehr harte Probe gestellt, denn der alte Mann legte Alex´ Sachen ohne jeden Laut auf den Tisch und setzte sich danach auf den freigewordenen Stuhl, während Simon an das Fenster trat und stumm in den Hof des Turmes starrte.
Alex wusste nicht genau zu sagen, wie lange er warten musste, doch es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Endlich nach langem Schweigen begann Simon zu sprechen.
"Ich weiß nicht, ob er es wirklich ist, doch wenn es so wäre, könnten wir den Krieg immer noch gewinnen."
Seine Stimme klang fest und entschlossen, doch irgendetwas darin gefiel Alex überhaupt nicht. Als nun der alte Mann sprach, hörte sich seine Stimme nicht so dünn und gebrechlich an, wie die der meisten alten Leute, die Alex kannte. Die Stimme des Alten war kräftig und klar und in seiner Antwort schwang ein leiser Unterton von Vorwurf mit.
Er sagte: "Und wenn er nun doch nicht der Junge aus der Prophezeiung ist? Wer verantwortet dann noch einen Unschuldigen, der in diesen sinnlosen Krieg mit hineingezogen wird? Denk doch einmal richtig nach, Simon, wenn du es ihm sagen würdest und es dann doch nicht zutreffen würde, was tust du mit ihm, zurück kann er dann nicht mehr? Und was täte er, wenn du es ihm sagen würdest und es zutrifft? Kannst du verantworten, ihn zu etwas zu zwingen, was er nicht will?"
Jetzt war es Alex aber zuviel geworden! Krieg? Welcher Krieg? Wer war der Alte und vor allen Dingen, wer oder besser was waren diese Wesen?
Ohne auf seine stechenden Kopfschmerzen zu achten, setzte sich Alex mit einem Ruck in seinem Bett auf und schaute in die erstaunten Gesichter seiner Gegenüber.
Er wollte gerade damit beginnen, seine Besucher zur Rede zu stellen, als auf den Zügen des alten Mannes ein freundlicher Ausdruck von Spott erschien. 
Nun fuhr der Alte an Simon gerichtet fort: "Ich denke, unser Gast ist jetzt wach, Simon. Lass mich einen Moment mit ihm alleine reden und besorge ihm inzwischen ein kräftiges Abendmahl. Er wird sicher hungrig sein."
Da Simon noch eine Sekunde zögerte und unschlüssig im Raum stand, fügte der alte Mann, diesmal allerdings nicht an Simon gerichtet, sondern an eine Person, die Alex zu seinem Erstaunen noch nicht bemerkt hatte, hinzu: "Und auch dich, Herrin, möchte ich bitten zu gehen!" 
Daraufhin trat ein Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren aus dem Schatten in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers.
Sie antwortete mit glasklarer durchdringender Stimme: "Wie du wünschst. Doch lass mich später auch mit ihm sprechen. Es wird schon nicht über seine Kräfte hinausgehen!"
Damit trat sie mit einem Schritt neben Simon und ging zur Tür. Alex folgte jeder ihrer Bewegungen genau und als sie an der Tür angekommen war, schaute sie ihm direkt in die Augen, lächelte ihn an und hob die Hand, um die Tür zu berühren, doch kurz bevor ihre weiße Hand das Holz berühren konnte, schwang die Tür lautlos nach außen auf. Simon trat an ihr vorbei in den Gang, doch sie sah Alex noch einen Moment an, ehe sie das Zimmer verließ. So lautlos wie die Tür sich geöffnet hatte, so lautlos fiel sie jetzt zurück in ihr Schloss.
Nach einigen Sekunden, die Alex noch auf die geschlossene Tür starrte, begann der Alte sich zu räuspern, so dass sich Alex nun wieder zu ihm umwandte, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Erst jetzt bemerkte Alex, dass der alte Mann eine bronzene Hautfarbe besaß und dass seine Augen, schwarz wie die Nacht, aufmerksam jede von Alex´ Bewegungen beobachteten. Er schätzte den Alten auf mindestens achtzig Jahre, doch die schlanke und doch kräftige Statur des Mannes verriet, dass Alex hier keinen Greis vor sich hatte. Auch waren die Augen des Alten nicht wie die der alten Menschen, die Alex kannte. Sie glänzten gutmütig aber auch streng und waren so klar wie die Augen eines jungen Menschen und kein bisschen trüb wie man eigentlich hätte erwarten müssen. Das ganze Gesicht war jedoch mit Kummer- sowie Lachfalten überzogen, so dass diese unvergesslichen Augen in ihren Höhlen, die etwas tiefer, jedoch nicht eingefallen waren, von Tausenden von winzigen Fältchen umgeben, noch einprägsamer wirkten. Die Nase des Mannes war schmal und etwas gebogen und gab dem Gesicht edle Züge. Überhaupt wirkte die ganze Erscheinung des Alten wie die eines Königs oder zumindest eines Anführers. Diesen Eindruck bestätigten ebenfalls das energisch ausgeprägte Kinn und der feingeschnittene Mund.
Nun begann der Mann zu sprechen: "Ich freue mich, dass es dir besser geht. Mein Name ist Anaxor und ich bin der Herr über Calthain, den Turm, in dem du dich befindest. Doch lassen wir das bei Seite. Ich möchte dich in deinem geschwächten Zustand nicht überfordern, deshalb werde ich nicht lange deine Ruhe stören. Wo kommst du her, Junge, und warum hat man dich geschickt?"
Alex war verzweifelt. Er wüsste doch selbst gern wer oder was ihn hierher katapultiert hatte und warum, darum sagte er zaghaft: "Ich komme aus Llandrindod Wells in England. Es hat mich niemand geschickt, wie kommen sie darauf? Der Ritter hat mich das alles auch schon gefragt, doch ich weiß doch wirklich nichts. Bitte glauben sie mir doch!"
"Ich verstehe, dass du verwirrt bist, doch wie du sicherlich schon gehört hast, liegen wir im Krieg und wir müssen sehr vorsichtig sein, aber wie ich erfahren habe, hat dich Simon ja schon darüber informiert, wenn auch nicht besonders feinfühlig. Ich bitte dich, ihm dies zu verzeihen. Ich glaube, du bist ein intelligenter Junge und weißt, dass dich dies alles nichts angeht, doch aus irgendeinem Grund wurdest du zu uns geschickt und wir werden uns vorerst um dich kümmern müssen, da jetzt keine Zeit ist, diesen Grund weiter zu erforschen. Ich denke, eine Gefahr stellst du im eigentlichen Sinne nicht für uns dar, darum werde ich Simon damit beauftragen, dir alles zu zeigen und dir jede Frage zu beantworten. Natürlich kommt dies erst in Betracht, wenn du wieder vollkommen genesen bist. Schließlich dachten wir schon, du würdest uns ganz einfach wegsterben, weil du vollkommen erschöpft und ausgezehrt warst, als du hier ankamst, doch unsere Heiler haben ein wahres Wunder vollbracht, dich dennoch ins Leben zurückzurufen. Ich werde dir jetzt deine wohlverdiente Ruhe lassen, wenn du nicht noch eine Frage an mich hast."
Er sah Alex so an als würde er eine ganz bestimmte Frage erwarten und es sah aus, als würde er sich fürchten, auf genau diese Frage zu antworten.
Als Alex dann fragte: "Bin ich ein Gefangener? Ich meine nur, weil die Tür hat keine Klinke und ich denke, zwischen kümmern und gefangen halten besteht ein kleiner Unterschied.", sah Anaxor fast erleichtert aus und antwortete:
"Nein natürlich bist du kein Gefangener und sobald es dir besser geht, wirst du auch ein besseres Zimmer zugewiesen bekommen, aber als du bewusstlos warst, konnten wir nicht sicher sein, zu welcher Seite du gehörst."
Nun hatte Alex nur noch eine Frage und als er sie aussprach, spürte er genau wie sich jeder Muskel in Anaxors altem Körper spannte.
Alex sagte: "Vorhin habe ich gehört, wie Sie mit Simon über einen Krieg geredet haben. Was ist das für ein Krieg und wer waren diese Wesen, die uns angegriffen haben?"
Während er diese Frage stellte, schaute Alex Anaxor direkt in die Augen und er glaubte, eine gewisse Angst oder ein regelrechtes Erschrecken darin zu sehen.
Doch was war mit dem alten Mann los? Warum hatte er solche Hemmungen Alex die Wahrheit zu sagen? Für Alex war diese ganze Welt oder was immer es auch sein mochte ein einziger Alptraum, aus dem es unmöglich schien zu entkommen.
Währenddessen sich Alex´ Gedanken überschlugen, erforschte Anaxor mit seinem Blick jeden auch noch so kleinen Winkel von Alex´ Seele. Als er endlich aufstand, schien er seine Entscheidung getroffen zu haben, denn alles hatte den Anschein, als würde er einfach ohne zu antworten den Raum verlassen. Doch dann wandte er sich ruckartig um und lächelte Alex sogar zu.
"Ich weiß, dass das, was ich dir jetzt sage, nicht das ist, was man so einfach akzeptieren oder gar glauben kann, doch wie ich dir vorhin schon gesagt habe, werde ich dir jede Frage beantworten, die du hast. Aber bevor ich dir antworte, stelle ich dich vor die Wahl, ob du diese Antwort hören willst, denn wenn du es willst, musst du dir darüber im klaren sein, dass wir dich nicht gehen lassen können. Also bedenke deine Antwort gut!"
Alex war schon auf etwas in dieser Art gefasst gewesen und wollte sich eigentlich eine passende Antwort dafür zurechtlegen, doch im Moment wusste er nichts, was er hätte erwidern können. Deshalb sagte er einfach: "Was wird passieren, wenn ich ablehne?"
Anaxor lächelte ihn warm an und erwiderte: "Wie du dich auch entscheidest, du wirst kein Gefangener oder Sklave sein. Wir werden dich nur hier in Calthain behalten, weil wir dich nicht dorthin zurück schicken können, von wo du gekommen bist. Du kannst dich in der gesamten Burg umsehen und dich auch frei bewegen. Falls du glaubst, ich will dich durch Simon überwachen lassen, muss ich dich enttäuschen, er soll dir nur helfen, dich einzugewöhnen, weiter nichts und ich denke, du wirst ihn mögen!"
Was war das nur für eine eigenartige Welt!! Erst wollte man Alex töten und nun war man um sein Wohlergehen besorgt. Obendrein sollte er sich mit einem Ritter (oder was Simon auch immer war) anfreunden, der ihn um ein Haar umgebracht hätte!! Das alles war zu viel und auch Anaxor schien dies zu bemerken, denn er sagte: "Nun gut, deine Antwort hat noch ein wenig Zeit. Ruh dich noch eine Weile aus, bevor die Herrin wieder zu dir kommt."
Er stand auf und bevor Alex auch nur eine weitere Frage stellen konnte, war Anaxor aus dem Zimmer verschwunden.
Alex wollte nun aufstehen, um zu sehen, was eigentlich im Hof unten geschah, denn er dachte gar nicht daran zu schlafen. Doch er konnte nicht einmal die Kraft aufbringen, seine Beine aus dem Bett zu schwingen oder auch nur aufzustehen. Also ließ er sich wieder in die Kissen zurücksinken. Doch er fand keine Ruhe und starrte vor sich hin und dachte über Anaxors Worte nach 'Bedenke deine Antwort gut!' Ja wollte denn wirklich wissen was hier vorging? Er wusste es nicht, aber wusste, dass ihm die Antwort mit Sicherheit nicht gefallen würde. Doch wenn er keine Antwort zu hören bekäme, würde er vielleicht in diesem Krieg sterben ohne zu wissen für was. In solchen Bahnen bewegten sich seine Gedanken schier eine Ewigkeit und er bemerkte nicht einmal wie er in einen schlafähnlichen Zustand überging.

Alex schreckte mit der Gewissheit nicht allein zu sein aus seinem Schlaf hoch. Seine Kopfschmerzen waren völlig verschwunden und als er sich aufrichtete und sich sein  zuerst vernebelter Blick lichtete sah er das Mädchen, das am Fenster lehnte und gedankenversunken hinaus sah. Da sie anscheinend nicht bemerkt hatte, dass er erwacht war, hatte Alex jetzt die Chance sie genau zu betrachten, denn zuvor hatte er nur ihr Lächeln gesehen. Sie war in ein dunkelblaues Kleid, dessen Stoff ihre Figur bis zum Boden umspielte. Ein aufwendig filigran gearbeiteter silberner Ring, der mit einem auffälligen hellblauen Stein verziert war, schmückte den Mittelfinger ihrer blassen, fast durchscheinenden linken Hand. Wallend fiel ihr Haar, dessen Farbe man unmöglich hätte beschreiben können, lang über ihre Schultern.
Nun schien sie ihn bemerkt zu haben, denn sie wandte ihre wasserblauen Augen ihm zu.
"Du bist wach. Gut. Wie geht es dir?" Alex wusste nicht was er sagen sollte. Er fühlte sich gut, aber ihm gelang es nicht auch nur ein Wort zu sprechen.
Die Augen des Mädchens schienen sich in seinen Blick zu bohren und bis auf den tiefsten Grund seiner Seele zu blicken. "Ich sehe, du bist noch nicht völlig wiederhergestellt und dein Misstrauen sowie deine Angst überfordern dich noch. Doch diese Gefühle sind wahrlich unbegründet. Es wird dir hier nichts geschehen. Gönne deinem Körper noch ein wenig Ruhe. Zeit spielt keine Rolle und meine Fragen können warten. Schlaf!" Bei den letzten Worten wandte sie sich vollends um und kam zu ihm herüber. Sie beugte sich zu ihm herunter und berührte seine Stirn mit ihren schneeweißen Fingern. Noch ehe er die Berührung spürte, fiel er in einen tiefen, erholsamen und traumlosen Schlaf.
 

© Roxana
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Und schon geht's hier weiter zum 3. Kapitel: Calthain

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