Der köstliche Geruch von Essen weckte
ihn und machte ihm auf schmerzliche Weise klar, dass er wohl schon seit
Tagen nichts mehr gegessen hatte. Als er sich aufrichtete und die Augen
öffnete, sah er zu seinem Verdruss Simon, der es sich auf dem Stuhl
bequem gemacht hatte und, mit einem Bein gegen den Tisch gestützt,
kippelte. Alex wollte nicht wissen wie lange er dort schon saß und
ihn beobachtete.
Als hätte Simon seine Gedanken gelesen
sagte er: "Endlich ausgeschlafen? Wird ja auch Zeit! Das Essen, das ich
dir bringen sollte, wird schon kalt! Also beeil dich und zieh dich an!"
Der Ton, mit dem er das sagte, war so befehlend,
dass Alex ohne nachzudenken nach seinen Sachen greifen wollte, doch diese
waren nicht mehr da. Statt derer fand er einen hellbraunen Baumwollwams,
einen Gürtel aus schwarzem Leder und eine dunkelbraune Hose aus irgendeinem
sehr groben doch nicht rauen Stoff vor.
Alex fragte deshalb: "Wo sind meine Sachen
geblieben?"
"Na, was sollen wir schon damit gemacht haben?
Verbrannt, außer dieses eigenartige Schuhwerk da." Simon deutete
auf Alex´ Turnschuhe, die direkt neben dem Fußende seines Bettes
abgestellt worden waren.
In diesem Moment kamen ihm diese Schuhe wie
die letzten und einzigen Erinnerungsstücke an sein zu Hause vor. Als
sein Blick von ihnen zu Simons Gesicht wanderte und er den Ärger darin
las, hatte er es plötzlich sehr eilig, die auf dem Bett liegende Kleidung
sowie seine Schuhe anzuziehen. Während der Zeit, die er dafür
benötigte, sah ihm Simon aufmerksam zu. So aufmerksam, dass es Alex
schon fast peinlich war.
Als Alex fertig war, erhob sich Simon langsam
und sagte: "Jetzt setzt dich hin und iss, wir haben heute noch viel vor!"
Alex setzte sich gehorsam und begann, die
ihm dargebotenen Speisen gierig zu verzehren. Simon setzte sich nun auf
das Bett und beobachtete ihn eine Weile sichtlich amüsiert.
Als Alex seinen größten Hunger
gestillt hatte, sagte er: "Ich hätte dich vielleicht doch erstechen
sollen. Zumindest hätten wir dann noch eine gefüllte Vorratskammer!"
Über diesen seiner Meinung nach viel
zu argen Scherz konnte Alex nun wirklich nicht lachen, aber er hielt inne
und sah Simon verletzt an, sodass der sagte: "Nun hab dich nicht so. Wir
haben uns nur unter ungünstigen Umständen kennen gelernt. Ich
töte normalerweise keine Menschen, aber man weiß ja nie, wozu
der Feind fähig ist. Ich meine, die haben ja auch Menschen unter ihren
Spähern…" Er brach ab und beendete den Satz nur mit einem Schulterzucken,
dessen Bedeutung Alex nicht klar war.
Um von dem jetzt eintretenden unbehaglichen
Schweigen abzulenken, sagte Alex: "Du vertraust mir nicht. Ich meine, Anaxor
und dieses Mädchen haben dir sicher verboten, mich in irgendeiner
Weise schlecht zu behandeln, auch wenn ich selbst nicht weiß warum,
aber als du mich vorhin so übergenau beobachtet hast, als ich mich
angezogen habe, das war mehr als aussagekräftig. Man hätte meinen
können, du hättest Angst gehabt, dass ich fliehe oder so etwas
in der Art." Simons Reaktion auf diese Bemerkung fiel jedoch vollkommen
anders aus als Alex vermutet hatte. Simon lachte als habe Alex eben einen
Witz gemacht und ihn nicht auf eine solche Weise des Misstrauens beschuldigt.
Und er lachte lange. Als er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle
hatte, sagte er nur: "Aus Calthain kann niemand fliehen, nicht einmal du!
Aber die hohe Herrin als Mädchen zu bezeichnen, würde ich dir
nicht raten. Sie ist zwar sehr geduldig und gutmütig, im Gegensatz
zu den anderen Hohen des Lichtes, aber diese Bezeichnung wird sie mit Sicherheit
zur Weißglut treiben."
Diese Welt war sonderbar: Anschuldigungen
tat man als Humor ab, aber falsche Bezeichnungen machten die Menschen oder
was auch immer hier wütend. Alex sprach dies natürlich nicht
laut aus, statt dessen fragte er: "Was ist sie denn dann?"
Simon sah ihn auf eine ihm sehr unangenehme
Art und Weise an und schien ernsthaft darüber nachdenken zu müssen.
Als Alex schon gar keine Antwort mehr erwartete, sagte Simon: "Nun, in
meiner Zeit hätte man sie wohl wegen Ketzerei oder Hexerei verbrannt...
Aber wie soll ich sie beschreiben? Sie heißt Aquara und wir Menschen
würden sie... die beste Bezeichnung für sie ist wohl... ja...
Sie ist eine Göttin, könnte man sagen."
Alex sah Simon direkt in die Augen und versuchte
etwas wie Amüsement oder Spott darin zu entdecken, doch alles, was
er darin las, war Nachdenklichkeit und Ernst. Dies war keiner von Simons
derben Späßen, die darüber hinwegtäuschen sollten,
dass er ihn um ein Haar getötet hätte, es war ernst gemeint.
Hätte man Alex so etwas noch vor ein paar Tagen gesagt, hätte
er sich vor lachen kaum halten können, doch jetzt...
Nach einer Weile, die sie so dasaßen
und sich ansahen, stand Simon plötzlich auf und sah zum Fenster hinaus.
Er sagte: "Bist du fertig mit dem Essen?", wandte sich wieder Alex zu,
um dessen Nicken zu registrieren und sagte weiter: "Gut, dann könnte
dir ja ein kleiner Verdauungsspaziergang durch Calthain gut tun. Komm,
der Turm ist groß und der Tag schwindet bereits. Wenn wir noch das
wenige Tageslicht, das uns verbleibt, nutzen wollen, sollten wir uns eilen."
Mit diesen Worten ging er zur Tür, streckte
seine Hand aus und wie beim ersten Mal schwang die Tür vollkommen
lautlos nach außen, kurz bevor seine Finger das Holz berührten.
Alex sputete sich, ihm zu folgen, da er Simon immer noch nicht richtig
einschätzen konnte und ihn keinesfalls noch mehr verärgern wollte,
als er es bisher schon getan hatte.
Kaum durch die Tür getreten, fanden sie
sich auf einem dunklen Gang wieder, dessen Wände und Decke aus demselben
groben Stein zu bestehen schienen, wie die in seiner Kammer. Im Gang war
es sehr dunkel und die wenigen Fackeln, die rechts und links der zahlreichen
Türen in Eisengestellen an den Wänden angebracht waren, vermochten
die Schatten nicht zurückzudrängen. Eher wurde die Dunkelheit,
die in Ecken und Nischen Einzug gehalten hatte, noch durch die spärliche
Beleuchtung beton. Simon hatte sich wohl verschätzt, heute würde
Alex nicht mehr viel zu sehen bekommen, denn zumindest in diesem Teil des
Turms hatte die Nacht bereits begonnen.
Sie wandten sich nach links. Simon ging im
Gegensatz zu Alex´ Vermutung nicht sehr schnell und er ging neben
ihm. "Wir werden mit der anderen Seite anfangen müssen. Dir alles
zu zeigen, bedarf sowieso mehr Zeit, als uns heute noch verbleibt" , sagte
Simon und beschleunigte nun doch seine Schritte.
Der Grundriss des Turmes schien ein riesiges
gleichmäßiges Sechseck zu sein, denn sie gingen zuerst einen
langen Gang entlang und als Alex sich schon fragte, ob dieser Tunnel je
enden würde, machte dieser einen Knick nach links. Der Winkel, in
dem dieser Gang an den vorherigen anschloss, war sehr groß und als
Alex Simon eine entsprechende Frage stellte, sagte dieser nur, dass sich
an sechs solcher Ecken die großen Außenmauern des Calthain
treffen würden und dass diese Ecken extra verstärkt worden waren.
An diesem Punkt fing Simon einen unaufhörlichen Vortrag über
den Nutzen und die Schwächen dieses "Trutzturmes", wie er ihn nannte,
an. Alex versuchte ihm zuzuhören, doch es gelang ihm nicht.
Militärische Strategie und Taktik hatten
ihn noch nie besonders interessiert, sehr zum Ärger seines Vaters,
der regelrecht vernarrt war in alles, was mit Krieg und Militär zu
tun hatte. Sein Vater war der Grund des Umzuges gewesen oder besser seine
Befehle vom deutschen Luftwaffenkommando, die seine Abkommandierung auf
einen Stützpunkt in Wales enthielten. Alex´ Vater war der beste
Eurofighter-Pilot der deutschen Luftwaffe und da die Briten ebenfalls Flugzeuge
dieses Typs bauten, benötigten sie einen Ausbilder, der die Eigenarten
der Maschinen bestens kannte und die englischen Soldaten damit vertraut
machen konnte. Die Wohnung, die Alex´ Familie auf dem englischen
Stützpunkt bezogen hatte, war zwar größer als die, in der
die Familie in Deutschland gelebt hatte, doch irgendwie hatte sie auf Alex
eher wie ein Militärmuseum gewirkt, denn sie war vorab eingerichtet
worden. Die Leute, die dies übernommen hatten, hatten mehr Wert auf
die Funktion gelegt als auf Ästhetik. Die wenigen Bilder an den Wänden
zeigten Generäle, Flugzeugtypen oder Satellitenaufnahmen des Stützpunktes.
Nach einigen Wochen hatte seine Familie die Wohnung soweit umgestaltet,
dass man hätte meinen können, wieder in Bad Frankenhausen zu
sein.
"Alex? Alex! Hast du mir überhaupt zugehört?"
Alex schrak aus seinen Gedanken auf und bemerkte erst jetzt, dass Simon
wohl schon eine geraume Weile versuchte mit ihm zu sprechen. Als er in
Simons ungeduldig dreinblickendes Gesicht sah, war ihm seine Geistesabwesenheit
schon wieder peinlich. Er hatte Simon nicht verärgern wollen, doch
Simons militärisches Denken hatte ihn an sein zu Hause denken
lassen und dann führte ein Gedanke zum anderen...
Gerade als Alex erneut im Begriff war, in
seiner Gedankenwelt zu versinken, sprach ihn Simon wieder an, jetzt allerdings
in einem eindeutig mehr spöttischem als verärgertem Ton: " Sag,
hast du eigentlich irgendetwas in der letzten halben Stunde bemerkt?"
Nun war Alex mit einem Mal hellwach.
"Eine... eine... halbe Stunde?" fragte er
vollkommen verwirrt und nahm zum ersten Mal bewusst seine Umgebung wahr.
Er befand sich auf einer Art Innenhof. Im
Rücken hatte er eine der riesigen Innenwände des Außenturms,
in dem er bis jetzt untergebracht worden war. Vor ihm ragte ein noch größerer
Innenturm auf, der die Form eines gigantischen sechseckigen Pyramidenstumpfes
hatte und den Außenturm um mehr als fünfzig Meter überragen
musste. Die genaue Höhe konnte Alex nicht erkennen, da es jetzt völlig
Nacht geworden war und er den Innenturm nur aufgrund einiger Fackeln, die
im Inneren leuchteten, und der enormen Ausmaße des Schattens, der
sich gegen den nächtlichen Sternenhimmel abzeichnete, abschätzen
konnte.
"Ja, eine halbe Stunde. Dann waren also all
meine Ausführung über die Vorteile und den Aufbau Calthains umsonst",
stellte Simon in resignierendem Ton fest.
"Allem Anschein nach scheinst du an der Sprungkrankheit
zu leiden. Keine Angst, das geht vorbei. Es ist nur die Reaktion deines
Körpers auf den Verlust des Raum-Zeit- Kontinuums."
Die letzten drei Sätze hatte eine Person
gesprochen, die Alex bisher noch nicht bemerkt hatte. Und auch Simon wandte
sich überrascht um, um verwundert auf das Mädchen herabzublicken,
das gut einen Kopf kleiner war als Simon. Sie hielt Alex einen hölzernen
Becher hin und sagte: "Trink das! Es wird die Nachwirkungen des Raumwirbels
lindern."
Ganz automatisch griff Alex nach dem Becher
und nahm einen großen Schluck. Die Flüssigkeit war kühl
als sie durch seine Kehle in seinen Magen hinabglitt. Doch als sie seinen
Magen erreicht hatte, entstand darin ein kribbeliges Gefühl, das sich
warm in seinem ganzen Körper auszubreiten schien. Das Getränk
hatte zudem keinen wirklichen Eigengeschmack, sondern schmeckte im eigentlichen
Sinne nach tausend verschiedenen Sachen.
"Alex, das ist Cathleen, unsere Kräuterhexe!"
Diese Bemerkung Simons quittierte Cathleen mit einem wütenden Blick
in dessen Richtung.
"Ich weiß, das Zeug schmeckt nicht wirklich
gut, aber du bist ja auch meine erste Testperson. Ich musste Anaxor darum
anflehen, es dir verabreichen zu dürfen. Er ist wirklich zu vorsichtig.
Das einzige, was passieren kann, ist, dass du Ausschlag bekommst, aber
die Halluzinationen verschwinden mit Sicherheit."
Alex hätte vor Schreck fast das Mittel
wieder ausgespuckt, überlegte es sich dann aber anders und schluckte
auch den Rest der Flüssigkeit gehorsam hinunter.
Um von der nun eintretenden Stille abzulenken,
sagte er: "Du bist das Mädchen, das von diesen Dingern gejagt wurde,
nicht wahr?"
"Dingern?" Cathleen schien völlig verständnislos
und blickte ratlos Simon an, der daraufhin erwiderte: "Er meint die Orks,
die dich vor zwei Tagen angefallen haben."
Nun schien Cathleen zu verstehen und sagte
mit schuldbewusster Miene: "Es tut mir leid, aber in den vergangenen zwei
Tagen ist soviel passiert, dass ich diesen Vorfall schon fast vergessen
habe. Ja, ich hatte nur Glück schon einen gehörigen Vorsprung
gehabt zu haben, sonst wäre es um mich geschehen gewesen."
Simon warf Cathleen einen fast verschwörerischen
Blick zu und sagte nun wieder an Alex gewandt: "Trink das Zeug da aus.
Heute werden wir unseren Rundgang sowieso nicht vollenden können,
deshalb schlage ich vor, Cathleen und ich begleiten dich jetzt in dein
Schlafgemach und erklären dir deinen Trainingplan für morgen.
Danach solltest du schlafen, denn morgen wird ein harter Tag für dich."
"Was für ein Training? Ich meine Anaxor
sagte, dass ich hier bleiben sollte, aber er hat nichts von einem Training
oder etwas in der Art erwähnt", sagte Alex, der jetzt überhaupt
nichts mehr verstand. Irgendetwas war da zwischen Cathleen und Simon, doch
Alex wusste nicht genau zu sagen, was es war. Er wusste nur, dass es da
war und dass es wahrscheinlich nichts gutes bedeutete (für ihn).
Cathleen trat einfach an Alex rechte Seite
hackte sich bei ihm unter und sagte lediglich: "Ach weißt du, dieses
Training ist Pflicht für alle Neuankömmlinge. Du schaffst das
schon. Außerdem könnte bald dein Leben davon abhängen,
wie du es meisterst. Und über dies kann ich dir sagen, dass Simon
kein schlechter Lehrmeister ist, wenn man sich erst einmal an seinen schlechten
Humor gewöhnt hat."
Als Simon nach einem unwilligen Blick in Cathleens
Richtung nun an Alex' rechte Seite trat und sie begannen auf den Innenturm,
der vor ihnen emporwuchs, zuzugehen, wusste Alex gar nicht mehr, was er
von dieser eigenartigen Welt mit ihren noch viel seltsameren Bewohnern
zu halten hatte, aber es war ihm egal, denn aus irgendeinem Grund wusste
er, dass, solange er in der Nähe von Cathleen und Simon war, ihm absolut
nichts geschehen konnte.
© Roxana
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