Der Frühling war angebrochen. Das Tauwetter
hatte eingesetzt und auf den Grasflecken sprossen die ersten Krokusse.
Die Hirtenjungen trieben das Vieh auf die Weiden und Ayrin und Anija halfen
in der Küche bei den Vorbereitungen für das Abschiedsfest. Auch
Prinzessin Séanizzas Verlobter, Prinz Hagir, würde anwesend
sein. Alles war schrecklich aufregend. Sie konnten es kaum erwarten aufzubrechen,
aber bis zum nächsten Morgen war noch sehr viel Zeit.
Es war etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang,
als Ayrin mit Kaffee, frischem Brot und Schinken zu den Soldaten auf die
Wehrmauer geschickt wurde.
Sie balancierte das schwere, volle Tablett
durch die Küche, über den Hof und hinauf auf die Brüstung.
Außer dem Soldaten Yolaf war keiner
zu sehen.
"Ayrin! Schön, dass du dich so um mich
sorgst!", lachte er.
"Vielfraß! Das ist nicht nur für
dich!"
Er begann zu grinsen: "Vielleicht sollte ich
mich bei dir bedanken, Kindchen..."
Ayrin kniff die Augen zusammen und stellte
das Tablett auf eine Zinne.
Yolaf kam immer näher. Sie wich einen
Schritt zurück. Ihr Körper war angespannt und sie atmete tief
ein und aus, um sich zu beruhigen. Als er sie packen wollte, duckte sie
sich unter seinen Armen weg. Er kam ins Straucheln und Ayrin nutzte dies
schamlos aus. Sie gab ihm einen kräftigen Stoß, er verlor das
Gleichgewicht und fiel, wild mit den Armen rudernd, von der Brüstung,
direkt in einen Heuhaufen, der sich darunter befand.
Ayrin atmete stoßweise und warf ihren
Zopf über die Schulter. Sie genoss ihren kleinen Triumph über
den Nordmann.
Yolaf hatte sich aufgerappelt und kam wieder
auf die Brüstung; will heißen, er schwankte mehr. Sein Haar
und seine Kleidung waren voller Heu. Er spuckte Heu aus und wischte sich
den Mund ab. Dann wandte er sich zu Ayrin.
"Verdammt! Was sollte das?"
Sie sah ihn trotzig an: "Geschieht dir recht!"
Dann streckte sie ihm die Zunge heraus.
"YOLAF!! Wie siehst du aus, Mann?!" Hauptmann
Loan war in der Zwischenzeit hinzugekommen. Er hatte sich drohend vor dem,
um zwei Haupteslängen größeren, Krieger aufgebaut: "Bist
du unter die Stallknechte gegangen, oder holst du deine Kindheit nach?"
Yolaf stand sofort stramm.
"Nein, Hauptmann. Er wurde in den Heuhaufen
geworfen.", antwortete Ayrin für ihn.
"Willst du mich veralbern, Mädchen? Keiner
der anderen Soldaten hätte genug Kraft, um Yolaf die Brüstung
hinunter zu werfen..."
"Das hat ja auch keiner von unseren Leuten
getan... Sie war es.", murmelte Yolaf kleinlaut.
Hauptmann Loan wurde krebsrot vor Zorn, zog
beide Augenbrauen hoch und wandte sich dann Ayrin zu. Er hatte große
Mühe sich zu beherrschen.
"Hm... bist du nicht die Kleine von Nofal
und Pinora?"
Ayrin nickte.
"Dann geh jetzt besser zurück in die
Küche... Und danke fürs Frühstück" Er machte eine Pause.
Dann sah er sie väterlich an: "Das hier ist kein Ort für Mädchen."
Loan deutete mit ausgestrecktem Arm die Treppe hinunter.
"Gern geschehen." Ayrin lächelte und
trollte sich.
"Yolaf!", hörte sie die Stimme des Hauptmanns
noch hinter sich, "Dir hängt da noch Heu am Mundwinkel." Eine Pause.
Dann Wutgeschrei: "Ein MÄDCHEN hat dich die Brüstung hinuntergeworfen!
Schwächling, du bist eine Schande für alle Soldaten des Königs!"
Sie musste sich sehr anstrengen, nicht lauthals
loszulachen.
Zurück in der Küche erhielt sie umgehend
den Auftrag, Gemüse zu schneiden und mit Anija Teig zu kneten.
"Ich habe Yolaf in einen Heuhaufen geworfen!"
Ayrin schlug auf den wehrlosen Brotteig ein.
Anija starrte ihre kleine Schwester an: "Hör
auf mich zu foppen!"
"Er hat den Halt verloren und ich hab dann
nachgeholfen!" Sie war stolz auf sich.
Anija hörte plötzlich auf den Teig
zu bearbeiten. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
"Oh, wie gern hätte ich das gesehen!
Das war bestimmt ein Anblick für die Götter! Yolaf fällt
in einen Heuhaufen. Der stärkste Krieger König Androns, hilflos
wie ein Säugling..."
Mit ihrer Schürze wischte sie sich die
Lachtränen aus den Augen.
Als sie ihre Arbeit erledigt hatten, schickte
Malus die Mädchen nach Hause.
"Am besten ihr packt eure Sachen und geht
dann in den Stall. Norun lässt euch ausrichten, dass ihr doch mal
vorbeischauen sollt."
Anija und Ayrin zogen ihre Schürzen aus,
hängten sie an den dafür vorgesehenen Platz und verließen
schwatzend die Küche.
Als sie nach draußen kamen, war vor
dem Schlosstor ein Menschenauflauf. Sie liefen hin um zu sehen was los
war.
Eine seltsame Gruppe ritt herein. Sie waren
zu sechst. Allen voran ritt ein junger Mann, der nicht älter als zwanzig
sein konnte. Er hatte schwarzes Haar, graue Augen und ritt einen großen,
hässlichen, pechschwarzen Hengst. Seine Kleidung war ebenfalls gänzlich
schwarz. An seinem Schwertgurt hing ein schmuckloses Breitschwert und in
seinem Gürtel stak ein schwerer Dolch.
Ihm folgte ein kleiner, stämmiger Mann
mit eisengrauem Haar und langem Bart, der sich sichtlich unwohl auf seinem
Pferd fühlte. Auf dem Kopf trug er einen runden Helm und er hatte
sich eine schwere Axt auf den Rücken geschnallt. Von seinem Gürtel
baumelte eine Wurfaxt.
"Anija, das ist ein Angehöriger des Zwergenvolkes...
Ich kann es kaum glauben...", wisperte Ayrin aufgeregt.
Nach dem Zwerg ritt ein wieselgesichtiger
Mann, mit einem geschmeidigen Körperbau. Er trug nur eine leichte
Lederrüstung und hatte sich sein rotes Haar zu einem losen Zopf im
Nacken gebunden. Grinsend sah er sich um. Dieser Mann trug keine schwere
Waffe, sondern ein leichtes Kurzschwert und mehrere Wurfdolche.
Neben ihm ritt ein klug aussehender Mann,
mit blondem Haar, an dessen Gürtel ein Rapier baumelte. Die beiden
begannen sich angeregt zu unterhalten.
Zum Schluss ritten zwei hochgewachsene durchtrainierte
Männer, offensichtlich Zwillinge. Ihre Haut war schwarz, ebenso ihr
Haar.
Der eine war in ein Fell gekleidet, welches
einmal einem gelb schwarz gestreiften Tier gehört haben musste. Seine
rechte Gesichtshälfte war mit seltsamen Zeichen bemalt. Jedoch schienen
sie nicht auf die Haut gemalt worden zu sein, sondern darunter. Das Haar
hatte er sich geschoren, bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte seines
Kopfes. Er wirkte stolz und seine dunklen Augen unbarmherzig. Seine Waffen
waren ein flaches gekrümmtes Schwert, das in seinem breiten Ledergürtel
stak, und ein Speer, den er in der Hand trug.
Der andere trug eine Lederrüstung, die
seine Brust bedeckte, aber den Bauch freiließ und einen Lederlendenschurz,
vor dem metallene Plättchen baumelten. Seine Zeichnungen waren auf
der linken Gesichtshälfte, allerdings nur um das Auge herum. Auch
sein Haar war geschoren bis auf den schmalen Streifen, der sich jedoch
bei ihm zu einem Zopf verlor. Er hatte einen schlichten, aber massiven
Langbogen geschultert und der Köcher mit den Pfeilen baumelte an seiner
Seite.
Bei genauerem Hinsehen jedoch erkannten alle
Umstehenden zu ihrem Entsetzen, dass der Mann mit dem Bogen eigentlich
eine Frau war.
Als der seltsame Zug in der Mitte des Schlosshofes
angekommen war saßen sie ab. Der Anführer kam direkt auf Ayrin
zu.
"Grüße, Mädchen. Wir wurden
von König Andron angeworben, um seine Tochter auf einer Reise zu schützten.
Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?"
Seine Stimme war ruhig und freundlich. Ayrin
allerdings bekam kein Wort heraus.
"Ich bringe euch hin, Herr.", half Anija Ayrin
aus der Verlegenheit.
"Danke. Kannst du meinen Leuten die Ställe
zeigen?"
"Ja." Ayrin hatte ihre Sprache wiedergefunden
und nickte. Dann bedeutete sie dem Rest der Gruppe, ihr zu folgen.
"Ayrin! Warte auf mich, bevor du zu Norun
gehst, ja?", rief Anija ihr hinterher.
"Is gut!"
"Du heißt also Ayrin, wie?", begann
der wieselgesichtige Mann ein Gespräch.
"Mhm."
"Ich bin Foxs. Unser werter Anführer,
der mit deiner Freundin mitgegangen ist, heißt Daimyon. Der pferdescheue
mutige Zwerg hier ist Ghim Eisenfaust. Der hinter mir heißt Nibor
und die Zwillinge Rem und Rys."
Ayrin drehte sich kurz um und lächelte:
"Freut mich."
"Du weißt nicht zufällig wie viele
Leute noch mitkommen?" Rys' Stimme strafte ihr Aussehen Lügen. Sie
war weich und melodisch, mit einem seltsamen Akzent.
"Hm... Also da wären Anija und ich, wir
sind die Zofen der Prinzessin. Dann denke ich, dass Hauptmann Loan mitkommt.
Und Yolaf. Der Weg führt durch Norderland, seine Heimat... Prinz Hagir
wird uns wahrscheinlich bis nach Hohenhorst begleiten... Mehr weiß
ich leider auch nicht."
Rys nickte langsam.
Völlig außer Atem kam Anija angelaufen.
"Warst du schon bei Norun?" Sie atmete schwer.
Ayrin schüttelte den Kopf.
"Gut, lass uns gehen, er ist hinten! ... Ich
schicke jemanden, der sich um eure Pferde kümmert." Anija zog Ayrin
mit sich.
Foxs schüttelte verwundert den Kopf.
Anija pfiff nach einem Stallknecht und schickte ihn zu ihm.
Norun wartete im hinteren Teil des Stalles.
Er stand vor einer Box und tätschelte ein geschecktes Pferd.
"Anija und Ayrin... Schön, dass ihr gekommen
seid."
"Hallo Meister Norun. Meister Malus meinte,
Ihr hättet etwas für uns." Ayrin umarmte den alten Stallmeister.
"Kommt mal her. Seht ihr die beiden Pferde?"
Die Mädchen nickten.
"Das Schwarze ist für dich, Ayrin, und
das Gescheckte ist deines, Anija."
Sie blickten ihn ungläubig an.
"Diese Beiden waren nicht gut genug für
die Prinzessin. Deshalb hat König Andron sie mir überlassen.
Und ich möchte sie euch schenken."
Anija und Ayrin umarmten ihn gleichzeitig.
"Oh danke, danke, danke!!!" Ayrin küsste
ihn auf eine bartstoppelige Wange.
"Ja, ja, ja!" Anija tat es ihr gleich.
"Ha, ha... nun mal langsam, Mädchen.
Geht und macht euch mit ihnen bekannt. Sie haben auch noch keine Namen.
... Es sind übrigens Stuten."
Zaghaft berührte Ayrin die Nase der schwarzen
Stute. Das Pferd schnoberte.
"Ich glaube, ich nenne dich Schatten."
Anija tätschelte ihr Pferd. Sie war wesentlich
mutiger.
"Dein Name ist Una."
Es war bereits Abend geworden. Die Sonne versank
im Meer und die Mauern des Schlosses auf der Sturmklippe leuchteten in
ihrem abendlichen Glanz. Im Hof waren schwere Holztische und Bänke
aufgestellt worden. Mägde breiteten große, weiße Tischtücher
über die Tische und deckten für alle Bewohner des Schlosses und
die kleinen Dörfer ringsum.
Auf der großen Freitreppe, die in den
Trakt der Königsfamilie führte, war ebenfalls ein Tisch aufgestellt
worden. Dort würden heute Abend das Königspaar, ihre Tochter,
deren Verlobter und einige Würdenträger des Reiches sitzen.
Direkt vor der Freitreppe stand der Tisch
für die Reisegesellschaft.
Männer säumten den Kiesweg mit Fackeln
und im Zentrum des Hofes war ein großer Scheiterhaufen für das
Freudenfeuer des Beltahnefestes errichtet worden.
Zwischen den Fenstern der Burg und an Holzpfählen
rund um den Festplatz waren Seile gespannt, an denen nun teure Seidengirlanden
und bunte Lampignons aufgehängt wurden. Sobald es ganz dunkel war,
würde das Fest beginnen.
Einige Stunden später saßen sie
dann alle auf ihren Plätzen. Das letzte Mal für sehr lange Zeit
würden sie zusammen essen. Ein Gongschlag läutete das Beltahnefest
ein. Schlagartig verstummten alle Gespräche. Von Zimbeln und Trommeln
begleitet, kam die Prozession der Priesterinnen durch das Haupttor. Ganz
vorne vier Tänzerinnen, die die vier Jahreszeiten symbolisierten.
Im prächtigsten Kostüm tanzte der Frühling in exstatischen
Bewegungen. Daraufhin folgten die Musikerinnen. Auch sie sprangen und tanzten
vor Freude. Unter dem Baldachin, der von vier weißgewandeten Jungfrauen
getragen wurde, schritt die maskierte Hohepriesterin, die das heilige Feuer
trug. Hinter ihr ging ihre auserwählte Nachfolgerin, mit einem Krug
heiligen Wassers in den Händen. Auch ihr Gesicht war verschleiert.
Die Prozession wandelte einmal ringsum den
Schlosshof und kam schließlich vor dem Scheiterhaufen zum Stehen.
Die Musik verklang und die Hohepriesterin trat vor. Sie segnete die Anwesenden
und mit einer knappen Bewegung ihrer Hand befahl sie ihrer Nachfolgerin,
mit dem heiligen Wasser durch die Reihen zu gehen. Diese knickste und ging
gemächlichen Schrittes an den Anwesenden vorbei während sie dabei
einige Finger in den Krug tauchte und das Wasser dann versprengte.
Nachdem das geschehen war, wandten sich die
Köpfe aller wieder zur Hohepriesterin, die nun eine Fackel entgegennahm
und diese an die Lampe hielt. Das Feuer sprang über und sie ging um
den Scheiterhaufen herum. Mit jedem Schritt führte sie die Fackel
näher an das Holz, bis der Scheiterhaufen zu brennen begann. Dann
warf sie die Fackel hinein.
Jubel brach aus und die Hohepriesterin sowie
ihre Nachfolgerin nahmen ihre Plätze an der Tafel des Königs
ein.
Mägde und Knechte tischten nun die Köstlichkeiten
des Reiches auf. Es gab Fisch in allen erdenklichen Variationen, Braten
vom Rind, Schwein, Lamm, Pilze und andere Waldfrüchte. Süßspeisen
aller Art, wie Brei, Obstkuchen, Grütze und Sorbets.
Daimyon saß neben Ayrin und versuchte
- vergebens - ein Gespräch in Gang zu bringen.
"Was ist das?" Er deutete auf eine Schale,
in der sich eine für ihn undefinierbare rote Masse befand.
"Grütze", sagte Ayrin, ohne von ihrem
Teller aufzusehen.
"Kennst du schon die Reiseroute?"
Ayrin schüttelte den Kopf und tauchte
ihren Löffel in den süßen Brei. Darauf hatte er gewartet.
Daimyon schob alles Geschirr ein wenig zur Seite und mit einem breiten
Grinsen im Gesicht holte er ein zusammengefaltetes, bereits vergilbtes
Stück Papier aus der Tasche seines Wamses hervor.
Anija starrte in die Flammen. Sie tanzten
miteinander, umschlangen sich in innigen Umarmungen und ihr schien es,
als trügen sie sie weit fort, in eine andere Zeit, an einen anderen
Ort.
//Anija stand in einer großen, weiträumigen
Halle. Die hohe Kuppeldecke war aus Glas und wurde von durchscheinenden
Säulen aus Kristall getragen. Sie waren so raffiniert geschliffen
worden, dass sie wie gigantische Prismen wirkten. Zwischen den Säulen
waren keine Fenster. Nichts behinderte die Aussicht.
Die junge Frau gestattete sich einen Blick
nach draußen. Eine Stadt war zu erkennen. Von den hinteren Bezirken
stieg Rauch auf. Häuser brannten und Menschen liefen in wilder Panik
umher. Anija hörte das Weinen von Kindern, das Klagen der Mütter
und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden.
Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Wie Ameisen, die mit ihren kleinen Beinchen, nadelgleich, ihre Haut traktierten.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Sie drehte sich um.
"Finor...", sagte sie mit einer Stimme, die
nicht ihre eigene war.
"Ich weiß, wir sollten dort sein, um
den Menschen zu helfen... Aber Ihre Hoheit hat uns zu sich befohlen." Finor
hatte sich leicht zu ihr gebeugt. Er war groß, und hatte halblanges
pechschwarzes Haar, das ein asketisches Gesicht mit hohen Wangenknochen
einrahmte. Seine Augen waren eisblau und seine Haut so hell, dass sie fast
weiß schien. Finors Stimme warm und ruhig.
Sie nickte nur.
"Komm, Lanna. Die anderen warten bereits."
Mit sanfter Gewalt schob er sie auf die gegenüberliegende Seite der
Halle.
Auf einem Podest an der Stirnseite stand ein
Thron aus Kristall, auf dem eine junge Frau saß. Eine tiefe Traurigkeit
strömte auf Anija ein. Fast wollte sie weinen.
Sie blickte nach unten. Der Boden war verspiegelt
und sie sah sich in einem fremden Körper. Ihr Spiegelbild hatte rotes
Haar und grüne Augen. Die Kleidung, die sie trug, war schlicht und
zweckmäßig. Ein weißsilbernes Kettenhemd, das sich wie
Luft anfühlte, und ein braunes Wams darüber. Das Wappen auf ihrer
Brust zeigte einen blauen Drachen, der den Mond in den Klauen trug und
eine rote Flamme spie. Ein grauer Kapuzenumhang fiel ihr über die
Schultern. Sie fühlte zwei Langmesser auf ihrem Rücken. Diese
Frau war eindeutig eine Waldläuferin.
Die Fremde mit dem Namen Lanna sah auf. Anija
schien es, als würde sie im Körper dieser Frau sein und gleichzeitig
daneben stehen.
Eine andere Frau stand in ihrer Nähe.
Sie hatte langes, braunes Haar und ihre spitzen Ohren verrieten die elbische
Herkunft. Zwei Männer standen in ihrer Nähe. Der eine war sehr
jung, fast noch ein Knabe. Er hatte schwarzes Haar und dunkle Mandelaugen.
Die Elbin und der Andere redeten ruhig auf ihn ein. Anija hörte vereinzelte
Gesprächsfetzen und konnte sogar Namen herausfiltern. Die Elbin hieß
Elwen und der Jüngling Arn. Der Name des anderen Mannes war Gernot.
Er hatte einen drahtigen Körperbau und sein Haar war braun, ebenso
sein kurz gestutzter Bart.
Die schwere Tür am anderen Ende öffnete
sich. Eine weitere Frau und ein Mann traten ein. Sie war klein und kurzes,
blondes Haar umrahmte ihr hübsches Gesicht. Ihr Begleiter war deutlich
älter als sie. Wahrscheinlich der Älteste der Anwesenden, von
Elwen mal abgesehen. Er hatte schlohweißes Haar und sein Bart reichte
ihm bis auf die Brust. Die grauen Augen waren ausdruckslos. Er war blind.
"Kiria, Léar!" Lanna lief auf die Neuankömmlinge
zu. Anija wurde hinterhergezogen.
Der Mann Namens Léar legte eine raue,
schwielige Hand auf Lannas Schulter.
"Kommt." Finor war hinzugetreten und führte
sie zurück zum Thron und der jungen Frau mit den traurigen, goldenen
Augen.
Nun konnte Anija sie genau erkennen. Sie war
klein und zierlich. Das lange braune Haar trug sie offen; es reichte bis
zu ihrer Hüfte. Ein schlichter Silberreif, in den eine umgekehrte
Mondsichel aus blauem Diamant eingearbeitet war, zierte ihre Stirn. Ihr
Kleid war aus schwarzem, fast durchscheinenden Stoff, der Schnitt war fremdartig
und Anija konnte sich gar nicht satt sehen. Irgendwie kam sie ihr bekannt
vor. Anija wusste nur nicht mehr woher.
Die junge Frau stand auf. Sie nahmen im Halbkreis
vor ihr Aufstellung.
"Primus Draconum Sir Finor, Secunda Dracona
Lady Lanna, Magister Draconum Sir Gernot, Sir Léar, Lady Elwen,
Lady Kiria und Sir Arn." Sie lächelte den Jüngsten an. "Meine
furchtlosen Draconier. Ihr habt alle tapfer gekämpft. Aber Alkor und
seine teuflische Brut haben dennoch einen Weg in mein Reich gefunden."
Anija erstarrte. Nun wusste sie es. Sie erlebte
gerade die letzten Stunden des Goldenen Reiches hautnah. Und die zierliche
Frau war niemand anders als die Schneeprinzessin selbst.
"Wir haben einen Verräter in unseren
Reihen!" Arn war einen Schritt vorgetreten.
Die Schneeprinzessin erschrak.
"Arn hat recht, Hoheit. Es tut mir leid, Euch
das mitteilen zu müssen. Aber der Überläufer ist kein geringerer
als General Orun." Elwens Blick war voller Mitgefühl.
Die Prinzessin senkte ihr Haupt. Stumme Tränen
rannen über ihr Gesicht als sie wieder aufblickte.
"Zu viel Leid wurde meinem Volk schon angetan.
Ich werde es beenden..."\\
"Anija! Anija!" Eine wohlbekannte Stimme rief
sie zurück.
Als sie die Augen aufschlug, lag sie auf dem
Boden und Ayrin hatte sich über sie gebeugt. Der Söldner Daimyon
kniete neben ihr.
"Bist du verletzt? Du bist plötzlich
zusammengesackt." Ayrin strich ihrer älteren Schwester einige Strähnen
aus dem Gesicht.
Nun kamen auch Nofal und Pinora dazu.
"Anija! Kind, was ist nur passiert?" Pinora
kniete sich neben Ayrin.
"Einer der Söldner kam zu uns. Er sagte
du hättest eine Art Anfall..." Nofal ging ebenfalls in die Knie. Sein
sonst so gutmütiges Gesicht lag in tiefen Sorgenfalten.
"Vielleicht wäre es besser, wenn du nicht
mitgehen würdest.", sagte Pinora vorsichtig.
"Nein!" Anija setzte sich abrupt auf. "Ich
muss auf jeden Fall mit! Wer soll denn sonst auf Ayrin achten, wenn ich
nicht mitgehe!"
Wütend stand sie auf und funkelte die
Umstehenden aus zornigen, braunen Augen an. Sie klopfte sich den Staub
aus dem Rock und nahm die Hand ihrer jüngeren Schwester.
"Wir beide gehen jetzt schlafen, damit wir
morgen ausgeruht sind." Damit war für Anija alles geklärt. Sie
zog die protestierende Ayrin, die zuvor doch Gefallen an der Unterhaltung
mit Daimyon gefunden hatte, keinen Widerspruch duldend, hinter sich her.
Anija war noch immer gereizt, als sie zu Hause
ankamen. Sie schob Ayrin vor sich her auf den Dachboden, wo sich das gemeinsame
Zimmer der Schwestern befand.
"Ayrin. Ich hatte einen seltsamen Traum.",
begann Anija, nun etwas ruhiger.
"Wie?" Ayrin zog sich gerade das Kleid über
den Kopf und griff nach ihrem Nachthemd. Sie hatte nicht richtig zugehört.
Anija seufzte: "Schwesterchen, ich sagte,
ich hatte während meiner Ohnmacht einen seltsamen Traum!"
Die Ältere erzählte nun jedes Detail
ihres seltsamen Erlebnisses. Ayrin hörte ernst zu.
"Und du warst wirklich dabei? Wie ist es passiert?
Was hat die Prinzessin dann gemacht?"
"Ich weiß es nicht. Bevor es zu irgendeiner
Handlung von ihr kam, bin ich auf dem Boden wieder aufgewacht..." Anija
zuckte mit den Schultern.
"Schade. Ich hätte es zu gerne gewusst."
"Ayrin, glaubst du denn wirklich, dass es
damals so geschehen ist, wie ich es träumte?"
Nun war es an der Jüngeren mit den Schultern
zu zucken.
"Ich kann es nicht sagen, aber belanglos war
dein Traum bestimmt nicht. Warten wir es ab."
"Hör zu, du darfst aber zu niemandem
ein Wort sagen. Es muss unter uns bleiben." Anija sah Ayrin durchdringend
an. Diese nickte.
"Versprochen, Schwester. Kein Wort", sie legte
ihren Zeigefinger an die Lippen, "wird je über diese Lippen kommen."
"Am besten wir schlafen jetzt. Morgen unterhalten
wir uns weiter..." Anija schob ihre Schwester von ihrem Bett. "Gute Nacht,
Schwesterchen." Damit war das Gespräch beendet.
Ayrin erhob sich und schlurfte müde zu
ihrem eigenen Bett. Sie ließ sich in die weichen Decken sinken und
schwebte ins Traumland.
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