Die Schneeprinzessin von der Schwertbraut
2: Das Abschiedsfest

Der Frühling war angebrochen. Das Tauwetter hatte eingesetzt und auf den Grasflecken sprossen die ersten Krokusse. Die Hirtenjungen trieben das Vieh auf die Weiden und Ayrin und Anija halfen in der Küche bei den Vorbereitungen für das Abschiedsfest. Auch Prinzessin Séanizzas Verlobter, Prinz Hagir, würde anwesend sein. Alles war schrecklich aufregend. Sie konnten es kaum erwarten aufzubrechen, aber bis zum nächsten Morgen war noch sehr viel Zeit.
Es war etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang, als Ayrin mit Kaffee, frischem Brot und Schinken zu den Soldaten auf die Wehrmauer geschickt wurde.
Sie balancierte das schwere, volle Tablett durch die Küche, über den Hof und hinauf auf die Brüstung.
Außer dem Soldaten Yolaf war keiner zu sehen.
"Ayrin! Schön, dass du dich so um mich sorgst!", lachte er.
"Vielfraß! Das ist nicht nur für dich!"
Er begann zu grinsen: "Vielleicht sollte ich mich bei dir bedanken, Kindchen..."
Ayrin kniff die Augen zusammen und stellte das Tablett auf eine Zinne.
Yolaf kam immer näher. Sie wich einen Schritt zurück. Ihr Körper war angespannt und sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Als er sie packen wollte, duckte sie sich unter seinen Armen weg. Er kam ins Straucheln und Ayrin nutzte dies schamlos aus. Sie gab ihm einen kräftigen Stoß, er verlor das Gleichgewicht und fiel, wild mit den Armen rudernd, von der Brüstung, direkt in einen Heuhaufen, der sich darunter befand.
Ayrin atmete stoßweise und warf ihren Zopf über die Schulter. Sie genoss ihren kleinen Triumph über den Nordmann.
Yolaf hatte sich aufgerappelt und kam wieder auf die Brüstung; will heißen, er schwankte mehr. Sein Haar und seine Kleidung waren voller Heu. Er spuckte Heu aus und wischte sich den Mund ab. Dann wandte er sich zu Ayrin.
"Verdammt! Was sollte das?"
Sie sah ihn trotzig an: "Geschieht dir recht!" Dann streckte sie ihm die Zunge heraus.
"YOLAF!! Wie siehst du aus, Mann?!" Hauptmann Loan war in der Zwischenzeit hinzugekommen. Er hatte sich drohend vor dem, um zwei Haupteslängen größeren, Krieger aufgebaut: "Bist du unter die Stallknechte gegangen, oder holst du deine Kindheit nach?"
Yolaf stand sofort stramm.
"Nein, Hauptmann. Er wurde in den Heuhaufen geworfen.", antwortete Ayrin für ihn.
"Willst du mich veralbern, Mädchen? Keiner der anderen Soldaten hätte genug Kraft, um Yolaf die Brüstung hinunter zu werfen..."
"Das hat ja auch keiner von unseren Leuten getan... Sie war es.", murmelte Yolaf kleinlaut.
Hauptmann Loan wurde krebsrot vor Zorn, zog beide Augenbrauen hoch und wandte sich dann Ayrin zu. Er hatte große Mühe sich zu beherrschen.
"Hm... bist du nicht die Kleine von Nofal und Pinora?"
Ayrin nickte.
"Dann geh jetzt besser zurück in die Küche... Und danke fürs Frühstück" Er machte eine Pause. Dann sah er sie väterlich an: "Das hier ist kein Ort für Mädchen." Loan deutete mit ausgestrecktem Arm die Treppe hinunter.
"Gern geschehen." Ayrin lächelte und trollte sich.
"Yolaf!", hörte sie die Stimme des Hauptmanns noch hinter sich, "Dir hängt da noch Heu am Mundwinkel." Eine Pause. Dann Wutgeschrei: "Ein MÄDCHEN hat dich die Brüstung hinuntergeworfen! Schwächling, du bist eine Schande für alle Soldaten des Königs!"
Sie musste sich sehr anstrengen, nicht lauthals loszulachen.

Zurück in der Küche erhielt sie umgehend den Auftrag, Gemüse zu schneiden und mit Anija Teig zu kneten.
"Ich habe Yolaf in einen Heuhaufen geworfen!" Ayrin schlug auf den wehrlosen Brotteig ein.
Anija starrte ihre kleine Schwester an: "Hör auf mich zu foppen!"
"Er hat den Halt verloren und ich hab dann nachgeholfen!" Sie war stolz auf sich.
Anija hörte plötzlich auf den Teig zu bearbeiten. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
"Oh, wie gern hätte ich das gesehen! Das war bestimmt ein Anblick für die Götter! Yolaf fällt in einen Heuhaufen. Der stärkste Krieger König Androns, hilflos wie ein Säugling..."
Mit ihrer Schürze wischte sie sich die Lachtränen aus den Augen.
Als sie ihre Arbeit erledigt hatten, schickte Malus die Mädchen nach Hause.
"Am besten ihr packt eure Sachen und geht dann in den Stall. Norun lässt euch ausrichten, dass ihr doch mal vorbeischauen sollt."
Anija und Ayrin zogen ihre Schürzen aus, hängten sie an den dafür vorgesehenen Platz und verließen schwatzend die Küche.
Als sie nach draußen kamen, war vor dem Schlosstor ein Menschenauflauf. Sie liefen hin um zu sehen was los war.
Eine seltsame Gruppe ritt herein. Sie waren zu sechst. Allen voran ritt ein junger Mann, der nicht älter als zwanzig sein konnte. Er hatte schwarzes Haar, graue Augen und ritt einen großen, hässlichen, pechschwarzen Hengst. Seine Kleidung war ebenfalls gänzlich schwarz. An seinem Schwertgurt hing ein schmuckloses Breitschwert und in seinem Gürtel stak ein schwerer Dolch.
Ihm folgte ein kleiner, stämmiger Mann mit eisengrauem Haar und langem Bart, der sich sichtlich unwohl auf seinem Pferd fühlte. Auf dem Kopf trug er einen runden Helm und er hatte sich eine schwere Axt auf den Rücken geschnallt. Von seinem Gürtel baumelte eine Wurfaxt.
"Anija, das ist ein Angehöriger des Zwergenvolkes... Ich kann es kaum glauben...", wisperte Ayrin aufgeregt.
Nach dem Zwerg ritt ein wieselgesichtiger Mann, mit einem geschmeidigen Körperbau. Er trug nur eine leichte Lederrüstung und hatte sich sein rotes Haar zu einem losen Zopf im Nacken gebunden. Grinsend sah er sich um. Dieser Mann trug keine schwere Waffe, sondern ein leichtes Kurzschwert und mehrere Wurfdolche.
Neben ihm ritt ein klug aussehender Mann, mit blondem Haar, an dessen Gürtel ein Rapier baumelte. Die beiden begannen sich angeregt zu unterhalten.
Zum Schluss ritten zwei hochgewachsene durchtrainierte Männer, offensichtlich Zwillinge. Ihre Haut war schwarz, ebenso ihr Haar. 
Der eine war in ein Fell gekleidet, welches einmal einem gelb schwarz gestreiften Tier gehört haben musste. Seine rechte Gesichtshälfte war mit seltsamen Zeichen bemalt. Jedoch schienen sie nicht auf die Haut gemalt worden zu sein, sondern darunter. Das Haar hatte er sich geschoren, bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte seines Kopfes. Er wirkte stolz und seine dunklen Augen unbarmherzig. Seine Waffen waren ein flaches gekrümmtes Schwert, das in seinem breiten Ledergürtel stak, und ein Speer, den er in der Hand trug.
Der andere trug eine Lederrüstung, die seine Brust bedeckte, aber den Bauch freiließ und einen Lederlendenschurz, vor dem metallene Plättchen baumelten. Seine Zeichnungen waren auf der linken Gesichtshälfte, allerdings nur um das Auge herum. Auch sein Haar war geschoren bis auf den schmalen Streifen, der sich jedoch bei ihm zu einem Zopf verlor. Er hatte einen schlichten, aber massiven Langbogen geschultert und der Köcher mit den Pfeilen baumelte an seiner Seite.
Bei genauerem Hinsehen jedoch erkannten alle Umstehenden zu ihrem Entsetzen, dass der Mann mit dem Bogen eigentlich eine Frau war.
Als der seltsame Zug in der Mitte des Schlosshofes angekommen war saßen sie ab. Der Anführer kam direkt auf Ayrin zu.
"Grüße, Mädchen. Wir wurden von König Andron angeworben, um seine Tochter auf einer Reise zu schützten. Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?"
Seine Stimme war ruhig und freundlich. Ayrin allerdings bekam kein Wort heraus.
"Ich bringe euch hin, Herr.", half Anija Ayrin aus der Verlegenheit.
"Danke. Kannst du meinen Leuten die Ställe zeigen?"
"Ja." Ayrin hatte ihre Sprache wiedergefunden und nickte. Dann bedeutete sie dem Rest der Gruppe, ihr zu folgen.
"Ayrin! Warte auf mich, bevor du zu Norun gehst, ja?", rief Anija ihr hinterher.
"Is gut!"
"Du heißt also Ayrin, wie?", begann der wieselgesichtige Mann ein Gespräch.
"Mhm."
"Ich bin Foxs. Unser werter Anführer, der mit deiner Freundin mitgegangen ist, heißt Daimyon. Der pferdescheue mutige Zwerg hier ist Ghim Eisenfaust. Der hinter mir heißt Nibor und die Zwillinge Rem und Rys."
Ayrin drehte sich kurz um und lächelte: "Freut mich."
"Du weißt nicht zufällig wie viele Leute noch mitkommen?" Rys' Stimme strafte ihr Aussehen Lügen. Sie war weich und melodisch, mit einem seltsamen Akzent.
"Hm... Also da wären Anija und ich, wir sind die Zofen der Prinzessin. Dann denke ich, dass Hauptmann Loan mitkommt. Und Yolaf. Der Weg führt durch Norderland, seine Heimat... Prinz Hagir wird uns wahrscheinlich bis nach Hohenhorst begleiten... Mehr weiß ich leider auch nicht."
Rys nickte langsam.
Völlig außer Atem kam Anija angelaufen.
"Warst du schon bei Norun?" Sie atmete schwer.
Ayrin schüttelte den Kopf.
"Gut, lass uns gehen, er ist hinten! ... Ich schicke jemanden, der sich um eure Pferde kümmert." Anija zog Ayrin mit sich.
Foxs schüttelte verwundert den Kopf. Anija pfiff nach einem Stallknecht und schickte ihn zu ihm.

Norun wartete im hinteren Teil des Stalles. Er stand vor einer Box und tätschelte ein geschecktes Pferd.
"Anija und Ayrin... Schön, dass ihr gekommen seid."
"Hallo Meister Norun. Meister Malus meinte, Ihr hättet etwas für uns." Ayrin umarmte den alten Stallmeister.
"Kommt mal her. Seht ihr die beiden Pferde?"
Die Mädchen nickten.
"Das Schwarze ist für dich, Ayrin, und das Gescheckte ist deines, Anija."
Sie blickten ihn ungläubig an.
"Diese Beiden waren nicht gut genug für die Prinzessin. Deshalb hat König Andron sie mir überlassen. Und ich möchte sie euch schenken."
Anija und Ayrin umarmten ihn gleichzeitig.
"Oh danke, danke, danke!!!" Ayrin küsste ihn auf eine bartstoppelige Wange.
"Ja, ja, ja!" Anija tat es ihr gleich.
"Ha, ha... nun mal langsam, Mädchen. Geht und macht euch mit ihnen bekannt. Sie haben auch noch keine Namen. ... Es sind übrigens Stuten."
Zaghaft berührte Ayrin die Nase der schwarzen Stute. Das Pferd schnoberte.
"Ich glaube, ich nenne dich Schatten."
Anija tätschelte ihr Pferd. Sie war wesentlich mutiger.
"Dein Name ist Una."

Es war bereits Abend geworden. Die Sonne versank im Meer und die Mauern des Schlosses auf der Sturmklippe leuchteten in ihrem abendlichen Glanz. Im Hof waren schwere Holztische und Bänke aufgestellt worden. Mägde breiteten große, weiße Tischtücher über die Tische und deckten für alle Bewohner des Schlosses und die kleinen Dörfer ringsum.
Auf der großen Freitreppe, die in den Trakt der Königsfamilie führte, war ebenfalls ein Tisch aufgestellt worden. Dort würden heute Abend das Königspaar, ihre Tochter, deren Verlobter und einige Würdenträger des Reiches sitzen.
Direkt vor der Freitreppe stand der Tisch für die Reisegesellschaft.
Männer säumten den Kiesweg mit Fackeln und im Zentrum des Hofes war ein großer Scheiterhaufen für das Freudenfeuer des Beltahnefestes errichtet worden. 
Zwischen den Fenstern der Burg und an Holzpfählen rund um den Festplatz waren Seile gespannt, an denen nun teure Seidengirlanden und bunte Lampignons aufgehängt wurden. Sobald es ganz dunkel war, würde das Fest beginnen.

Einige Stunden später saßen sie dann alle auf ihren Plätzen. Das letzte Mal für sehr lange Zeit würden sie zusammen essen. Ein Gongschlag läutete das Beltahnefest ein. Schlagartig verstummten alle Gespräche. Von Zimbeln und Trommeln begleitet, kam die Prozession der Priesterinnen durch das Haupttor. Ganz vorne vier Tänzerinnen, die die vier Jahreszeiten symbolisierten. Im prächtigsten Kostüm tanzte der Frühling in exstatischen Bewegungen. Daraufhin folgten die Musikerinnen. Auch sie sprangen und tanzten vor Freude. Unter dem Baldachin, der von vier weißgewandeten Jungfrauen getragen wurde, schritt die maskierte Hohepriesterin, die das heilige Feuer trug. Hinter ihr ging ihre auserwählte Nachfolgerin, mit einem Krug heiligen Wassers in den Händen. Auch ihr Gesicht war verschleiert.
Die Prozession wandelte einmal ringsum den Schlosshof und kam schließlich vor dem Scheiterhaufen zum Stehen. Die Musik verklang und die Hohepriesterin trat vor. Sie segnete die Anwesenden und mit einer knappen Bewegung ihrer Hand befahl sie ihrer Nachfolgerin, mit dem heiligen Wasser durch die Reihen zu gehen. Diese knickste und ging gemächlichen Schrittes an den Anwesenden vorbei während sie dabei einige Finger in den Krug tauchte und das Wasser dann versprengte.
Nachdem das geschehen war, wandten sich die Köpfe aller wieder zur Hohepriesterin, die nun eine Fackel entgegennahm und diese an die Lampe hielt. Das Feuer sprang über und sie ging um den Scheiterhaufen herum. Mit jedem Schritt führte sie die Fackel näher an das Holz, bis der Scheiterhaufen zu brennen begann. Dann warf sie die Fackel hinein.
Jubel brach aus und die Hohepriesterin sowie ihre Nachfolgerin nahmen ihre Plätze an der Tafel des Königs ein.
Mägde und Knechte tischten nun die Köstlichkeiten des Reiches auf. Es gab Fisch in allen erdenklichen Variationen, Braten vom Rind, Schwein, Lamm, Pilze und andere Waldfrüchte. Süßspeisen aller Art, wie Brei, Obstkuchen, Grütze und Sorbets.

Daimyon saß neben Ayrin und versuchte - vergebens - ein Gespräch in Gang zu bringen.
"Was ist das?" Er deutete auf  eine Schale, in der sich eine für ihn undefinierbare rote Masse befand.
"Grütze", sagte Ayrin, ohne von ihrem Teller aufzusehen.
"Kennst du schon die Reiseroute?"
Ayrin schüttelte den Kopf und tauchte ihren Löffel in den süßen Brei. Darauf hatte er gewartet. Daimyon schob alles Geschirr ein wenig zur Seite und mit einem breiten Grinsen im Gesicht holte er ein zusammengefaltetes, bereits vergilbtes Stück Papier aus der Tasche seines Wamses hervor.
Anija starrte in die Flammen. Sie tanzten miteinander, umschlangen sich in innigen Umarmungen und ihr schien es, als trügen sie sie weit fort, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.

//Anija stand in einer großen, weiträumigen Halle. Die hohe Kuppeldecke war aus Glas und wurde von durchscheinenden Säulen aus Kristall getragen. Sie waren so raffiniert geschliffen worden, dass sie wie gigantische Prismen wirkten. Zwischen den Säulen waren keine Fenster. Nichts behinderte die Aussicht.
Die junge Frau gestattete sich einen Blick nach draußen. Eine Stadt war zu erkennen. Von den hinteren Bezirken stieg Rauch auf. Häuser brannten und Menschen liefen in wilder Panik umher. Anija hörte das Weinen von Kindern, das Klagen der Mütter und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden.
Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Wie Ameisen, die mit ihren kleinen Beinchen, nadelgleich, ihre Haut traktierten.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie drehte sich um.
"Finor...", sagte sie mit einer Stimme, die nicht ihre eigene war.
"Ich weiß, wir sollten dort sein, um den Menschen zu helfen... Aber Ihre Hoheit hat uns zu sich befohlen." Finor hatte sich leicht zu ihr gebeugt. Er war groß, und hatte halblanges pechschwarzes Haar, das ein asketisches Gesicht mit hohen Wangenknochen einrahmte. Seine Augen waren eisblau und seine Haut so hell, dass sie fast weiß schien. Finors Stimme warm und ruhig.
Sie nickte nur.
"Komm, Lanna. Die anderen warten bereits." Mit sanfter Gewalt schob er sie auf die gegenüberliegende Seite der Halle.
Auf einem Podest an der Stirnseite stand ein Thron aus Kristall, auf dem eine junge Frau saß. Eine tiefe Traurigkeit strömte auf Anija ein. Fast wollte sie weinen.
Sie blickte nach unten. Der Boden war verspiegelt und sie sah sich in einem fremden Körper. Ihr Spiegelbild hatte rotes Haar und grüne Augen. Die Kleidung, die sie trug, war schlicht und zweckmäßig. Ein weißsilbernes Kettenhemd, das sich wie Luft anfühlte, und ein braunes Wams darüber. Das Wappen auf ihrer Brust zeigte einen blauen Drachen, der den Mond in den Klauen trug und eine rote Flamme spie. Ein grauer Kapuzenumhang fiel ihr über die Schultern. Sie fühlte zwei Langmesser auf ihrem Rücken. Diese Frau war eindeutig eine Waldläuferin.
Die Fremde mit dem Namen Lanna sah auf. Anija schien es, als würde sie im Körper dieser Frau sein und gleichzeitig daneben stehen.
Eine andere Frau stand in ihrer Nähe. Sie hatte langes, braunes Haar und ihre spitzen Ohren verrieten die elbische Herkunft. Zwei Männer standen in ihrer Nähe. Der eine war sehr jung, fast noch ein Knabe. Er hatte schwarzes Haar und dunkle Mandelaugen. Die Elbin und der Andere redeten ruhig auf ihn ein. Anija hörte vereinzelte Gesprächsfetzen und konnte sogar Namen herausfiltern. Die Elbin hieß Elwen und der Jüngling Arn. Der Name des anderen Mannes war Gernot. Er hatte einen drahtigen Körperbau und sein Haar war braun, ebenso sein kurz gestutzter Bart.
Die schwere Tür am anderen Ende öffnete sich. Eine weitere Frau und ein Mann traten ein. Sie war klein und kurzes, blondes Haar umrahmte ihr hübsches Gesicht. Ihr Begleiter war deutlich älter als sie. Wahrscheinlich der Älteste der Anwesenden, von Elwen mal abgesehen. Er hatte schlohweißes Haar und sein Bart reichte ihm bis auf die Brust. Die grauen Augen waren ausdruckslos. Er war blind.
"Kiria, Léar!" Lanna lief auf die Neuankömmlinge zu. Anija wurde hinterhergezogen.
Der Mann Namens Léar legte eine raue, schwielige Hand auf Lannas Schulter.
"Kommt." Finor war hinzugetreten und führte sie zurück zum Thron und der jungen Frau mit den traurigen, goldenen Augen.
Nun konnte Anija sie genau erkennen. Sie war klein und zierlich. Das lange braune Haar trug sie offen; es reichte bis zu ihrer Hüfte. Ein schlichter Silberreif, in den eine umgekehrte Mondsichel aus blauem Diamant eingearbeitet war, zierte ihre Stirn. Ihr Kleid war aus schwarzem, fast durchscheinenden Stoff, der Schnitt war fremdartig und Anija konnte sich gar nicht satt sehen. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor. Anija wusste nur nicht mehr woher.
Die junge Frau stand auf. Sie nahmen im Halbkreis vor ihr Aufstellung.
"Primus Draconum Sir Finor, Secunda Dracona Lady Lanna, Magister Draconum Sir Gernot, Sir Léar, Lady Elwen, Lady Kiria und Sir Arn." Sie lächelte den Jüngsten an. "Meine furchtlosen Draconier. Ihr habt alle tapfer gekämpft. Aber Alkor und seine teuflische Brut haben dennoch einen Weg in mein Reich gefunden."
Anija erstarrte. Nun wusste sie es. Sie erlebte gerade die letzten Stunden des Goldenen Reiches hautnah. Und die zierliche Frau war niemand anders als die Schneeprinzessin selbst.
"Wir haben einen Verräter in unseren Reihen!" Arn war einen Schritt vorgetreten.
Die Schneeprinzessin erschrak.
"Arn hat recht, Hoheit. Es tut mir leid, Euch das mitteilen zu müssen. Aber der Überläufer ist kein geringerer als General Orun." Elwens Blick war voller Mitgefühl.
Die Prinzessin senkte ihr Haupt. Stumme Tränen rannen über ihr Gesicht als sie wieder aufblickte.
"Zu viel Leid wurde meinem Volk schon angetan. Ich werde es beenden..."\\

"Anija! Anija!" Eine wohlbekannte Stimme rief sie zurück.
Als sie die Augen aufschlug, lag sie auf dem Boden und Ayrin hatte sich über sie gebeugt. Der Söldner Daimyon kniete neben ihr.
"Bist du verletzt? Du bist plötzlich zusammengesackt." Ayrin strich ihrer älteren Schwester einige Strähnen aus dem Gesicht.
Nun kamen auch Nofal und Pinora dazu.
"Anija! Kind, was ist nur passiert?" Pinora kniete sich neben Ayrin.
"Einer der Söldner kam zu uns. Er sagte du hättest eine Art Anfall..." Nofal ging ebenfalls in die Knie. Sein sonst so gutmütiges Gesicht lag in tiefen Sorgenfalten.
"Vielleicht wäre es besser, wenn du nicht mitgehen würdest.", sagte Pinora vorsichtig.
"Nein!" Anija setzte sich abrupt auf. "Ich muss auf jeden Fall mit! Wer soll denn sonst auf Ayrin achten, wenn ich nicht mitgehe!"
Wütend stand sie auf und funkelte die Umstehenden aus zornigen, braunen Augen an. Sie klopfte sich den Staub aus dem Rock und nahm die Hand ihrer jüngeren Schwester.
"Wir beide gehen jetzt schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind." Damit war für Anija alles geklärt. Sie zog die protestierende Ayrin, die zuvor doch Gefallen an der Unterhaltung mit Daimyon gefunden hatte, keinen Widerspruch duldend, hinter sich her.

Anija war noch immer gereizt, als sie zu Hause ankamen. Sie schob Ayrin vor sich her auf den Dachboden, wo sich das gemeinsame Zimmer der Schwestern befand.
"Ayrin. Ich hatte einen seltsamen Traum.", begann Anija, nun etwas ruhiger.
"Wie?" Ayrin zog sich gerade das Kleid über den Kopf und griff nach ihrem Nachthemd. Sie hatte nicht richtig zugehört.
Anija seufzte: "Schwesterchen, ich sagte, ich hatte während meiner Ohnmacht einen seltsamen Traum!"
Die Ältere erzählte nun jedes Detail ihres seltsamen Erlebnisses. Ayrin hörte ernst zu.
"Und du warst wirklich dabei? Wie ist es passiert? Was hat die Prinzessin dann gemacht?"
"Ich weiß es nicht. Bevor es zu irgendeiner Handlung von ihr kam, bin ich auf dem Boden wieder aufgewacht..." Anija zuckte mit den Schultern.
"Schade. Ich hätte es zu gerne gewusst."
"Ayrin, glaubst du denn wirklich, dass es damals so geschehen ist, wie ich es träumte?"
Nun war es an der Jüngeren mit den Schultern zu zucken.
"Ich kann es nicht sagen, aber belanglos war dein Traum bestimmt nicht. Warten wir es ab."
"Hör zu, du darfst aber zu niemandem ein Wort sagen. Es muss unter uns bleiben." Anija sah Ayrin durchdringend an. Diese nickte.
"Versprochen, Schwester. Kein Wort", sie legte ihren Zeigefinger an die Lippen, "wird je über diese Lippen kommen."
"Am besten wir schlafen jetzt. Morgen unterhalten wir uns weiter..." Anija schob ihre Schwester von ihrem Bett. "Gute Nacht, Schwesterchen." Damit war das Gespräch beendet.
Ayrin erhob sich und schlurfte müde zu ihrem eigenen Bett. Sie ließ sich in die weichen Decken sinken und schwebte ins Traumland.
 

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Und schon geht es weiter zum 3. Kapitel: Aufbruch

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