Die Schneeprinzessin von der Schwertbraut
3: Aufbruch

Noch vor Tagesanbruch stieg Pinora, mit einer Kerze in der Hand, die Treppe zum Schlafzimmer ihrer Töchter hinauf.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging zu erst zum Bett der Älteren. Pinora hielt das Licht in die Nähe von Anijas Gesicht und berührte sie dann sacht an der Schulter.
Sie brummelte verschlafen und öffnete zaghaft die Augen. Ein herzhaftes Gähnen drang aus ihrem Mund. Pinora lächelte und ging auf die andere Seite um auch Ayrin zu wecken.
Anija indes stand auf und schlurfte zum Fenster. Sie stieß die Läden auf und frische, kühle Luft schlug ihr entgegen. Sie duftete nach Gras und Bäumen, Wasser und... Freiheit.
Ayrin rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah ihre ältere Schwester am Fenster stehen. Ein morgendliches Ritual.
"Auf, Mädchen, zieht euch an. Meine Base, Larinda, hat euch bequeme Reisekleidung geschickt. Sie liegt auf dem Sessel bereit." Pinora machte eine Pause und blickte ihre Töchter abwechselnd an. "Kommt dann runter. Ich habe noch ein Frühstück für euch gemacht."
Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, musste sie sich sehr anstrengen ihre Tränen zurückzuhalten. Ihre Töchter waren doch noch halbe Kinder! Anija, ruhig und arbeitsam, immer darauf bedacht, dass ihrer kleinen Schwester nichts zustieß. Ayrin, wild und ungebändigt mit einem Temperament, das seinesgleichen suchte.
Pinora konnte sich noch gut daran erinnern, wie Ayrin zu ihnen kam. Damals war sie mit ihrer Tochter, die kaum ein Jahr zählte, bei ihrer Base Larinda in einem Tempel gewesen, als eine der Novizinnen ganz aufgeregt zur Hohepriesterin rannte. Sie trug ein in braune und weiße Tücher gewickeltes Bündel in den Armen.
Larinda, zu dieser Zeit eine Tempeltänzerin, versuchte das panische Mädchen zu beruhigen. Als sie ihr das Bündel abnahm und einige Tücher zur Seite schlug, erkannte sie einen Säugling. Zwar sehr schwach, aber am Leben. Pinora erklärte sich bereit, das Kind aufzupäppeln, da sie selbst noch stillte. Sie nahm das neugeborene Mädchen mit zu sich nach Hause und sicherte so sein Überleben. Nofal und sie gaben ihm den Namen Ayrin und sie wuchs als Anijas Schwester mit ihr im Schloss auf, diente als Küchenmagd, dann als Zofe und nun sollte sie die Prinzessin auf der weiten Reise ins Schneereich begleiten.
Pinora schluckte hart. Mit ihrer Schürze wischte sie sich aufkommende Tränen aus den Augenwinkeln. Langsam und bedächtig stieg sie die Treppe hinunter in den Hauptraum, ging zum Tisch und begann summend Brote zu schmieren. Sie wollte ihren Mädchen noch etwas von zu Hause mitgeben.
Einige Zeit später gesellten sich Anija und ihre Schwester zu ihrer Mutter. Es war ungewöhnlich still an diesem Morgen. Niemand sprach ein Wort. Schweigend tranken sie ihre warme Milch und aßen die Brote. Butter und Pflaumenmus waren dicker als sonst darauf geschmiert.
Pinora begann eine Melodie zu summen. Eine seltsame, leichte Mollweise. Es war ein Schlaflied.
"Das hast du früher immer getan..." Ayrin blickte ihre Mutter traurig an.
Pinora lächelte gequält und summte weiter. Mit dieser Weise hatte sie ihre Töchter mehr als einmal in den Schlaf gewiegt. Es stimmte sie traurig, dass sie ihre Kinder für so lange Zeit nicht mehr sehen konnte.

Nach dem Frühstück gingen sie zu dritt auf den Schlosshof. Pinora hatte jeder einen kleinen Beutel mit Broten und Obst gemacht, den sie nun eng umklammerten.
Der Tross stand auf dem Schlosshof und den Ersten, den sie bemerkten, war Yolaf. Der Nordmann überragte alle. Er trug nun die traditionelle Kleidung der Nordmänner, statt der Uniform der Soldaten des Königs. Ein einfaches Kettenhemd, darüber einen blauen Wappenrock. Schwere Stiefel mit Besatz aus Robbenfell und einen Bärenfellumhang. Sein Helm war massiv, mit einem Paar riesiger, gewundener Hörner an den Seiten. Das blonde Haar trug er offen und den langen Bart hatte er zu zwei Zöpfen geflochten. Er hatte den gestrigen Vorfall aus seinem Gedächtnis gestrichen und lächelte die Schwestern nun an. Die schenkten ihm aber keine Beachtung. Nicht aus Bosheit, sondern weil sie traurig waren.
Nofal hielt die Pferde der Schwestern. Zwei Stallburschen halfen ihnen beim Aufsitzen.
Pinora konnte nun ihre Tränen nicht mehr verbergen. Sie nahm ihre Schürze und knüllte sie aus Schmerz zusammen. Weinend ging sie erst zu Ayrin.
"Pass auf dich auf, meine Kleine. Und hör auf deine Schwester. Ich will dich gesund wiederhaben."
Ayrin liefen Tränen über ihr schmales Gesicht. Sie neigte sich zu ihrer Mutter und umarmte sie fest. Pinora küsste die Stirn ihrer Tochter und trocknete deren Tränen mit ihrer Schürze.
Die Majordoma schniefte ein paar mal, zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und schnäuzte sich. Dann wandte sie sich ihrer Ältesten zu.
"Anija, mein Kind. Bitte, achte auf Ayrin. Ihr seid zwar fast gleich alt, aber ich halte dich für so vernünftig, dass du auf deine Schwester achten kannst. Und gib auch auf dich Acht, Anija Feuervogel."
"So hast du mich ja schon ewig nicht mehr genannt, Mutter." Anija beugte sich aus dem Sattel und umarmte ihre Mutter. Auch sie bekam einen Kuss auf die Stirn und mit der Schürze wurden ihre Tränen getrocknet.
"Heute ist wieder so ein Tag, an dem dein Haar wie ein Flammenkranz scheint." Pinora lächelte, aber ihre Augen waren noch feucht. Sie nahm Nofal die Zügel ab und er trat zu seinen Töchtern.
Nofal nahm je eine kleine Hand in die Seine und drückte sie zärtlich.
"Gebt auf euch Acht, meine Mädchen." Seine Stimme zitterte und er schluckte. Dann ging er schnell zu Hauptmann Loan, der an der Spitze des Trosses war.
Die beiden Männer unterhielten sich kurz und am Ende nickte der Hauptmann.
Nofal kam zurück und führte seine Frau mit sanfter Gewalt von den Schwestern fort. Pinora hielt sich nun nicht mehr zurück. Tränen liefen ungehindert über ihre Wangen und sie barg schließlich ihr Gesicht an Nofals Brust.
Ein Fanfarentusch und Trommelwirbel kündigte nun das Kommen der Kronprinzessin an. Eine prächtige Karosse wurde vorgefahren und Séanizza trat, in Begleitung ihrer Eltern, auf die Freitreppe. Sie trug ein schlichtes, himmelblaues Kleid mit tiefem Ausschnitt und weit ausfallenden Ärmeln. Ihr aschblondes Haar glänzte wie gesponnenes Gold und floss in weichen Wellen ihren Rücken hinab. Eine schlichte Tiara aus Gold und Saphiren, die mit den Augen Séanizzas konkurrierten, schmückte ihr Haupt.
Am Fuß der Treppe wartete Prinz Hagir von Hohenhorst in voller Rüstung. Er verneigte sich formvollendet vor der königlichen Familie und bot seiner Verlobten galant den Arm um sie zur Kalesche zu geleiten.
Eris saß bereits darin und nahm der Prinzessin das Kästchen ab, welches sie in den Händen trug. Darin befand sich die Opfergabe für die Schneeprinzessin.
Der Prinz von Hohenhorst ließ sich sein eigenes Pferd, einen feurigen Braunen, bringen und saß auf. Er stupste die Flanken des Tieres mit seinen Hacken und ritt nach vorn zu Loan, Daimyon und Yolaf.

Hauptmann Loan gab das Signal zum Aufbruch. Sie ritten unter dem Jubel der Menschen durch das große Tor auf die große Reichsstraße, die Resum von der Sturmklippe, im Süden, bis nach Riverrun, im Norden, durchzog.
Ayrin drehte sich noch einmal um und sah, wie Nofal seine Frau heimführte. Pinora war zusammengebrochen. Bei diesem Anblick krampfte sich Ayrins Herz zusammen und sie begann zu schniefen. Anija ritt näher zu ihrer Schwester und griff nach ihrer Hand.
Direkt hinter den Schwestern ritten Ghim Eisenfaust und Nibor.
"Alles in Ordnung bei euch zwei?" Die raue Stimme des Zwerges ertönte hinter ihnen.
"Heimweh.", sagte Anija schlicht.
"Jetzt schon?" fragte Nibor belustigt.
"Das ist nicht witzig!" fauchte Anija.
"Die beste Medizin gegen Heimweh sind Geschichten!" sagte der Zwerg gutmütig. "Nibor, mein Freund, kennt einige wundervolle Geschichten und Balladen aus allen Herren Länder! Und falls ihm nichts mehr einfällt, kenne ich noch Geschichten aus der alten, ruhmreichen Zeit der Großkönige der Zwerge."
Nibor und Ghim schlossen zu den Schwestern auf und ritten je rechts und links neben sie.
"Wenn ich mich den Damen nun vorstellen dürfte. Nibor. Barde und Privatgelehrter." Obwohl er im Sattel saß, machte er einen eleganten höfischen Kratzfuß. Dann tat er so, als würde er nachdenken.
"Eine Ballade! Ich werde sie euch erzählen. Eigentlich ist sie ein Lied, aber es spielt sich schlecht im Sattel." Er lächelte verlegen.
Auch die Schwestern lächelten leicht.
Nibor räusperte sich.
"Es ist das Lied der Sternwandlerin Luoma, die uns Menschen geschaffen hat. Aus einem Tropfen ihres Blutes, ihren Tränen, einer Strähne ihres Haares und Erde. Sie ist unsere Mutter, die uns erschuf und die uns wieder in ihren Schoß aufnimmt und zu Erde werden lässt, wenn wir sterben."
Er räusperte sich abermals:

"Weinend saß die große Mutter
in der Sternen Einsamkeit
wollt Lebendiges erschaffen
für die weite Ewigkeit.

Über Himmelsweite gleitend
bis hinab zu Ni’ins Welt
auf den Sternenfunken reitend
Luoma schön vom Himmelszelt

Aus ihrem Blut und ihren Tränen
Erde und dem güldnen Haar
formte sie uns Menschenkinder
sich zur Freude – sternenklar.

Preiset unsre große Mutter
die in Liebe uns erschuf.
Bittet sie um ihren Segen
Dass sie höret unsren Ruf."

Verzückt lauschten die Schwestern dem Lied über die Erschaffung der Menschen. Sogar Ghim war, für seine Verhältnisse, recht angetan. Als Barde hatte Nibor es gelernt, genau den richtigen Ton in der richtigen Stimmlage zu treffen.
"Das war ja ganz nett, aber die Geschichte wie wir erschaffen wurden, ist noch viel, viel besser. Es ist eine richtige Geschichte!" Ghim richtete seine Wurfaxt.
Nibor rollte mit den Augen.
"Erzählt Ihr es uns, Meister Ghim?" Ayrin liebte Geschichten jeglicher Art und eine Zwergengeschichte hatte sie noch nie gehört.
"Gern. Aber nennt mich nur Ghim. Mit 'Meister' komm ich mir so alt vor..." Er machte eine Pause und sog ein paar mal Luft ein, als würde er schnüffeln. "Wir werden wohl bald Rast machen. Zu einer guten Geschichte gehören nach Zwergenbrauch ein Feuer, ein Krug dunkles Starkbier, gut abgehangener Schinken, dicke Scheiben Brot und ein gestopftes Pfeiflein." Er rutschte auf seinem Sattel herum.
"Ihr Bergbewohner habt wohl noch nie was von Improvisation gehört, wie?" frotzelte Nibor.
"Bilde dir ja nichts ein, auf deine Klugheit, Jüngelchen! Wir Zwerge waren schon da, bevor Luoma nur darüber nachgedacht hat, euch zu erschaffen."
"Wirklich?" Anija war neugierig geworden.
"Ihr müsst wissen, wir Zwerge sind so alt wie die Berge selbst. Eisatmer, unser Schöpfer, war der erste der vier Sternwandler, der darüber nachsinnte sich Kinder zu schaffen. Dann folge ihm Pantira und schuf die Alwen und nach ihr Alkor sein Volk. Luoma..." Er brach ab, als er den Blick des Barden bemerkte.
"Luoma war traurig. Sie war die Einzige, die noch nichts Lebendes geschaffen hat. So stieg sie herab und vergoss bittere Tränen auf die Erde, denen sie einige Tropfen ihres Blutes beifügte. Sie schnitt sich eine Strähne ihres Haares ab und formte so die ersten sechs Menschenkinder." Schloss Nibor.
Nibor erzählte noch weitere Geschichten. Eine tragische Liebesgeschichte, von mächtigen Zauberern, den Draconiern und der Schneeprinzessin. So verging einige Zeit und die Schwestern vergaßen ihr Heimweh. Anija ließ Ayrins Hand los und sie summten eine kleine Weise.
"Ghim, Nibor!" Daimyon, der mit Yolaf, Loan, Foxs und zwei duzend Soldaten die Vorhut bildete, ritt im schnellen Trab zu den Schwestern, dem Zwerg und dem Barden.
"Was ist?" Ghim reckte sich.
"Einer von euch wird den Trupp abreiten und weitersagen, dass wir im Klammwald rasten werden. Dahinter kommt gleich das Rote Gebirge. Dort ist es fast undenkbar eine geschützte Stelle zu finden. Wind, Wetter und die schlechte Sicht werden es unmöglich machen mit der Kalesche nach Anbruch der Nacht über den Pass zu kommen." Er nickte den Schwestern zu und wendete sein Pferd.
Nibor seufzte und wendete sein Pferd ebenfalls. Er ritt zu Prinz Hagir und teilte ihm alles mit. Dieser nickte und lenkte seinen Braunen näher an die Kalesche. Eris nahm, wie es sich gehörte, die Nachricht entgegen und nickte.
Der Barde ritt zu den Zwillingen und der drei duzend Mann starken Nachhut und erklärte ihnen alles. Dann drehte er um und schloss zu Ghim und den Schwestern auf.
"Also bleiben wir im Klammwald..." Ayrin schaute sich ängstlich um.
Ghim bemerkte ihre Unruhe: "Was hast du, Mädchen?"
"Ich habe Geschichten gehört. Grausige Gestalten und böse Träume suchen alle heim, die es wagen, die Nacht im Klammwald zu verbringen..."
"Diese Geschichten kenne ich. Ich habe sie selbst schon erzählt. Im Winter, in einer Vollmondnacht, vor prasselndem Kaminfeuer..." Nibor schwelgte in Erinnerungen.
"Soll’n sie ruhig kommen, die Geister!" Ghim griff nach seiner Wurfaxt. "Habt keine Angst, Mädchen! Solange ich, Ghim Eisenfaust vom Clan der Eisenbrecher, bei euch bin, kann euch nichts geschehen!"
Die Schwestern lächelten gutmütig.
"Es sind nur Geschichten. Nichts davon ist Wirklichkeit gewesen", versuchte nun auch Nibor die Mädchen zu beruhigen.

Einige Zeit ritten sie schweigend nebeneinander her. Auch wenn sie sich fürchtete, freute sich Ayrin schon auf Ghims Geschichte. Dann kamen schon die ersten Ausläufer des Klammwaldes in Sicht. Der Weg wurde immer unebener und die Kalesche polterte über Wurzeln und Steine. Anija war froh, reiten zu können. Prinzessin Séanizza und Eris würden wahrscheinlich nicht ohne ein paar blaue Flecke davonkommen.
Es wurde merklich dunkler und kühler. Ayrin fröstelte. Mit einer Hand zog sie ihren Umhang enger um sich und setzte die Kapuze auf.
"Nur keine Sorge, Ayrin. Bald sitzen wir alle am warmen Feuer, essen, trinken und erzählen uns Geschichten. Du kennst doch sicher auch ein paar, nicht?" Ghim lächelte väterlich.
"Ja. Aber sicher keine, die Meister Nibor nicht schon einmal gehört hat..." Sie blickte verlegen zu Boden.
Nibor lachte. Vögel flogen verschreckt aus einem Strauch.
"Ich bin trotzdem gespannt. Du wirst uns doch eine erzählen, oder?" Nibor grinste.
Ayrin nickte schließlich: "Ich werde mir etwas überlegen."

Vor ihnen ragte der Klammwald auf. Im diffusen Licht der untergehenden Sonne wirkte er unwirklich, schemenhaft. Als wäre er nicht von dieser Welt. Trockene Bäume, deren Äste wie dürre Arme mit Klauenhänden schienen, säumten die Straße. Hier und da war eine dunkle Tanne zu sehen. Niedrige Sträucher und Büsche boten kleinen Tieren Schutz und Versteck.
Ein unheimlicher Ort. Augen leuchteten aus der Dunkelheit. In der Ferne heulten Wölfe. Die Wände des Roten Gebirges warfen das Echo grauenvoll verzerrt zurück.
Eulen schuhuten und flogen lautlos über die Köpfe der Reisegruppe hinweg. Ayrin zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Die Erinnerungen an die Geschichten waren immer präsent. Auch Anija wurde nervöser. Sie griff wieder nach Ayrins Hand und drückte diese.
"Wir sind zu zweit. Hab keine Angst."
Ayrin nickte. Dann schluckte sie.
Und Daimyon führte die ihm Anvertrauten tiefer in den Klammwald.
 

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Und schon geht es weiter zum 4. Kapitel: Der Klammwald (1)

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