Die Schneeprinzessin von der Schwertbraut
4: Der Klammwald (1)

Je tiefer sie in den Klammwald ritten, desto schlechter wurde die Sicht. Nun zog auch noch dichter Nebel auf, was das Vorankommen doppelt und dreifach erschwerte.
Anija stellte sich vor, wie sie die Nebelbank mit einem Messer durchschnitt, um die Gruppe vorwärts zu bringen. Auch ihr wurde langsam kalt.
"Wann werden wir rasten?" Ayrin drehte sich leicht zu Nibor.
"So wie ich Dai kenne, werden wir so weit reiten, bis wir die Hand vor Augen nicht mehr sehen können." Er lächelte leicht.
"Ist das nicht schon längst der Fall?", murmelte Anija.
"Es geht nicht um den Nebel, Mädchen", brummte Ghim. "Die Dunkelheit ist gemeint."
"Aber der Nebel ist so dicht. Als ob er uns von hier fern halten wollte..." Ayrin fröstelte.
Nibor zog eine Augenbraue hoch und Ghim brummte etwas Unverständliches in seinen Bart.
Es begann zu winden. Ayrin hoffte, dass sie bald eine geschützte Stelle finden würden.
Daimyon führte sie trotz des immer undurchdringlicher werdenden Dickichts sicher und zielstrebig durch den Klammwald. Er schien seinen Weg genau zu kennen.
Nach weiteren endlos scheinenden Stunden im Sattel stoppten die Reiter vor ihnen und die Schwestern konnten zwischen den sich nun lichtenden Nebelschleiern eine verfallene Ruine, ein Relikt aus alten Zeiten, erkennen.
Die Krieger vor ihnen saßen ab und wie eine Welle folgten ihnen die anderen. Der Page, der auf dem Kutschbock saß, sprang herunter und öffnete die Tür der Kalesche. Eris stieg aus und ging direkt auf die Schwestern zu.
"He, Mädchen, steigt ab."
Ayrin und Anija standen nun vor Eris. Sie war gut einen Kopf größer als die Schwestern und ein lockeres braunes Kleid umhüllte ihren voluminösen Körper. Die hochgesteckten, an den Schläfen bereits ergrauten Haare und ihre weiße Haube ließen sie strenger erscheinen, als sie tatsächlich war.
"Ja, Frau Eris?" Anija knickste.
"Ihre Hoheit wünscht ihre abendliche Toilette zu machen. Ayrin, du wirst Wasser holen. Und Anija kocht für alle." Sie blickte von einer zur anderen und ihre Mine duldete keinen Widerspruch.
Ayrin schluckte. Sie hatte Angst allein im Nebel. Und außerdem wusste sie nicht einmal wo sie einen See oder Fluss finden sollte.
"Nein!" Daimyon war hinzugetreten und baute sich vor Eris auf. "Es ist unverantwortlich, das Mädchen allein loszuschicken. Sie kennt sich hier nicht aus und war bestimmt noch nie weiter als einen Steinwurf von zu Hause entfernt. Außerdem ist es dunkel und die Nacht hat Augen."
Nun kam auch Séanizza hinzu. Majestätisch stellte sie sich vor Daimyon.
"Soweit man uns mitgeteilt hat, ist er für unseren Schutz zuständig und nicht für den einer Magd." Ein geringschätziger Blick traf Ayrin, die sofort den Kopf senkte. "Wenn wir frisches Wasser wollen, bekommen wir auch welches." Ihre Stimme wurde herrischer.
"Kommt, meine Liebe. Geht in die Kalesche, bis man Euer Zelt aufgebaut hat. Sonst erkältet Ihr Euch nur." Eris nahm Séanizza bei der Hand und führte sie sanft zur Kalesche zurück.
Prinz Hagir beobachtete die Szene, angelehnt an einen morschen Baum. Seine Hand ruhte auf seinem Schwert.
Eris kam wieder zurück. Sie sah Ayrin an, die immer kleiner zu werden schien.
"Die Eimer sind im Lastkarren." Und zu Anija gewandt: "Setz’ zwei Kessel aufs Feuer. Einen für das Wasser der Prinzessin und den anderen für den Eintopf." Sie dirigierte Anija weg von ihrer Schwester und Ayrin sah fassungslos hinterher.
"Aber wie..." Sie war sprachlos. So hatte sie sich das ganze nicht vorgestellt. Ayrin war den Tränen nah. Sie begann zu beben.
"Aber, aber. Nicht doch." Daimyon stellte sich vor sie und streichelte ihr mit einem Finger über die Wange. Sie schniefte.
"Rys! Komm her." Er winkte die dunkelhäutige Kriegerin zu sich.
"Dai?" Sie stellte sich zu Ayrin. "Hat man ihr wehgetan?"
Er schüttelte den Kopf.
"Ungefähr eine halbe Meile von hier, in dieser Richtung", er deutete auf einen schmalen von Moos und Flechten bewachsenen Pfad, "gibt es eine Quelle. Begleite sie. Ayrin soll Wasser holen."
Rys nickte und lächelte Ayrin freundlich an.
"Komm, wir holen die Eimer." Rys drehte sich um und ging zum Lastkarren. Der junge Knappe, der noch auf dem Kutschbock saß, blickte Rys missbilligend an. Diese störte sich jedoch nicht im Geringsten daran, sondern fischte nach zwei Holzeimern und der Tragstange.
"Ghim! He, komm her!" Rys wedelte mit der Tragstange herum.
Der Zwerg watschelte auf die Frauen zu. Er hielt die schwere, mit magischen Zwergenrunen, verzierte Kriegsaxt in den Händen. Ghim hob eine graue buschige Augenbraue.
"Schnall die Axt um und nimm die Eimer." Rys drückte dem verblüfften Zwerg die Eimer in die Hand, die Tragstange nahm sie selbst, packte Ayrins Hand und zog sie in Richtung des von Daimyon beschriebenen Weges.
"Ghim! Komm endlich!" Rys war mittlerweile, samt Ayrin, im Nebel verschwunden, als Ghim sich endlich aufraffte, den beiden Frauen zu folgen.

"Eine Unverschämtheit! Was erlaubt die sich!" Wütend rührte Anija im Eintopf herum. Yolaf und Foxs standen kopfschüttelnd daneben.
"Pass auf, was du sagst, Anija. Wenn Eris... oder noch schlimmer: Wenn Séanizza dich hört..." Yolaf ließ den Satz unbeendet.
"Aber das geht doch nicht! Sie hat Ayrin allein in den Wald geschickt. Und nur, weil Ihre königliche Hoheit nicht mit dem mitgebrachten Wasser zufrieden ist." Sie ließ ihre Wut an Kelle und Kessel aus, die sie nicht gerade sanft aufeinander schlug.
"Ganz ruhig. Ich hab Rys und Ghim bei ihr gesehen. Ihr wird schon nichts passieren. Rys ist die beste Fährtensucherin aller Zeiten mit dem besten Orientierungssinn und Ghim kann, wie alle Zwerge, in der Dunkelheit besser sehen als wir alle zusammen." Foxs nahm ihr die Kelle aus der Hand und kostete. "Schmeckt gut."
Anija fixierte ihn mit ihren Augen. Sie mochte es gar nicht, wenn ihr jemand in den Topf griff.
Der Eintopf blubberte schließlich fröhlich vor sich hin und Loan hatte eine kleine Gruppe damit beauftragt, die Zelte aufzubauen - das der Prinzessin natürlich zuerst.
Es war rechteckig und größer als die der anderen. Im Innenraum gab es einen Raumteiler, der das Lager der Prinzessin von dem ihrer Amme trennte. Das Zelt wurde direkt an einer der höheren Mauerreste aufgebaut, an der sich ein, Loans Meinung nach, stabiler Überhang befand. Er würde für einen guten Schutz sorgen. Nachdem das Zelt aufgeschlagen war, kam Séanizza in Begleitung Eris’ aus der Kalesche und besah sich ihr Nachtlager. Niemandem entging ihr missbilligender Blick. Sie rümpfte ihr königliches Näschen und schritt zu ihrer Lagerstätte.
"Wo bleibt unser Quellwasser?" Sie wandte sich an ihre Amme. "Die Magd, wo bleibt sie so lange?" Dann erblickte sie Anija. "He da, Magd! Wo ist deine Schwester?"
"Euer Wasser holen, königliche Hoheit", presste Anija hervor.
Séanizza drehte sich um. Zum Glück - für Anija - war ihr der Unterton nicht aufgefallen.
"Wir werden uns nun zurückziehen. Gebt uns Bescheid, wenn die andere Magd mit dem Wasser kommt!" Zügig schritt sie, an Eris vorbei, in ihr Zelt. Die Amme maß noch einmal mit einem prüfenden Blick Anija und den großen Kessel, dann ging sie ihrer Herrin hinterher.
"Argh!", presste Anija mit geschlossenen Lippen hervor.
"Ruhig Blut. Das legt sich bestimmt wieder." Foxs grinste.
"Da kennst du Ihre Hoheit aber schlecht...", murmelte der Nordmann. "Sie hat heute nämlich einen guten Tag..."
Foxs schluckte. Das konnte ja heiter werden.

Rys ging zügig den schmalen Pfad entlang. Hinter ihr lief Ayrin - oder stolperte viel mehr. Dann kam Ghim. Dem Zwerg bereitete die eingeschränkte Sicht nicht die geringsten Probleme.
Sie schwiegen eine Weile.
"Woher kennt Herr Daimyon die Quelle?", brach Ayrin schließlich das Schweigen.
"Ha, ha, ha! Wenn Dai das hören könnte! Er und Herr!" Ghim lachte. Das Kreischen von verschreckten Tieren lag in der Luft. Überall bewegte es sich hektisch.
Ayrin atmete hörbar aus.
"Ghim! Lass das!", fauchte Rys.
"Tut mir leid, Ayrin. Aber es ist einfach lächerlich. Dai ist alles andere als ein Herr! Und um auf deine Frage zurückzukommen: Wir waren bereits einmal hier. Damals war Dai aber noch ein Knabe und grün hinter den Ohren. Er hatte sich verlaufen und hierher verirrt. Dabei stieß er auf die Quelle."
"Da hinten!" Rys deutete auf eine Lichtung unweit ihres Standortes.
Der Nebel lichtete sich und ihnen bot sich ein magischer Anblick. Die Lichtung war von gesunden niedrigen Bäumen und hohen alten Tannen umgeben. Aus einer Felsformation in ihrer Mitte sprudelte eine klare Quelle, die sich in einem kleinen See verlor. Über die Felsen ragten zwei schlanke Bäume, deren Zweige sich in stiller Umarmung umfingen. Hoch oben am Himmel stand ein runder bleicher Vollmond, dessen silbriges Licht die Waldschneise in zauberhaftes Licht tauchte. Es war ein Ort voller Frieden und Ruhe.
Als sie die Lichtung betraten, fühlte Ayrin sich schlagartig besser. Als ob eine unsichtbare Macht über diese Stelle wachte und alles Böse des Waldes von hier fernhielt.
Bezaubert schritt Ayrin auf die Quelle und die Bäume zu. Rys und Ghim standen noch am Rand der Schneise.
"Seltsam", brummte der Zwerg.
"Hm?" Rys sah zu ihm hinunter.
"Irgendwie wirkt sie anders. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll..." Der Zwerg wackelte mit dem Kopf.
Rys sah nun auch zu Ayrin.
"Sie wirkt seltsam. So nebelhaft, als ob sie nicht von dieser Welt wäre. Einfach majestätisch." Rys zuckte mit den Schultern. Sie konnte noch nie die richtigen Worte finden. Die Amazone stützte sich auf die Tragstange.
Ayrin war einmal um den See herumgelaufen. Nun legte sie die Hände auf die Rinde eines Baumes. Sie lehnte sich vollends dagegen und es schien wie ein stummes Zwiegespräch.
Ghim stapfte zur Quelle und Rys lief ihm hinterher. Ayrin hörte die beiden kommen, sah auf und lächelte.
Der Zwerg sah sich um. Dann blickte er an den Bäumen hoch.
"Kennst du die Geschichte von Lumia und Firn?" Ghim blickte immer noch zu den Bäumen.
"Nein", sagte Ayrin leise. Irgendwie wusste sie, dass die Frage ihr galt.
"Nun..." Ghim setzte sich umständlich auf einen Stein. Die Eimer stellte er neben sich. "Vor sehr, sehr langer Zeit lebte in einem Dorf hier im Wald ein Mann mit seiner Tochter Lumia. Sie war bildschön. Haar wie gesponnener Flachs und Augen blau wie Saphire. Schlank und grazil wie eine junge Ricke ... Oh! Ich schweife ab... Jedenfalls war Lumia dem Sohn des Dorfvorstehers versprochen. Aber sie liebte einen jungen Schmied, Firn. Natürlich stand diese Verbindung unter keinem guten Stern. Die beiden Liebenden trafen sich immer hier, an dieser Quelle. Aber eines Tages, als Lumia wieder zur Quelle unterwegs war, ging ihr der Sohn des Dorfvorstehers hinterher. Er überraschte sie hier mit Firn. Voller Wut lief er zurück ins Dorf und trommelte einige Männer zusammen.
Lumia und Firn wussten nichts davon. Sie tauschten weiter Zärtlichkeiten aus.
Als die Männer hier ankamen, sahen sie Lumia und Firn bei ihrem Tun. Sie trieben die beiden auseinander und prügelten Firn halbtot. Lumia ertrug das nicht. Sie betete zum Geist der Quelle, dass er sie und ihren Liebsten beschützen möge.
Da geschah das Unglaubliche. Wie von Geisterhand wurden Lumia und Firn neben die Felsen gezogen. Sie streckten die Arme nacheinander aus. Ihre Füße verbanden sich mit der Erde, die Körper der beiden wurden in die Länge gezogen und ihre Haut wurde zu Rinde. Ihre Arme zu Ästen, die sich umschlangen. So stehen sie noch heute. Hier an dieser Stelle."
Zu dritt blickten sie die Bäume an. Ayrin schluckte. Sie schwiegen eine Weile.
Rys nahm die Eimer und ging zu der Stelle, wo das klare Wasser aus dem Fels sprudelte. Sie hielt erst den einen, dann den anderen Eimer darunter.
Ghim saß noch immer auf seinem Stein und beobachtete die Umgebung. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte.
Ayrin ging um die Felsen herum. Direkt dahinter war eine seltsame Vertiefung im Boden. Im fahlen Licht des Vollmondes kniete sich Ayrin auf die Erde und schob mit ihren Händen herabgefallenes Blattwerk und das Gras beiseite. Eine verwitterte Steinplatte kam darunter zum Vorschein. Sie war quadratisch und an einigen Stellen mit Moos und Flechten überwuchert. In der Mitte der Platte befand sich eine leichte Erhebung und seltsame Schriftzeichen waren in die Oberfläche eingemeißelt worden. Teilweise waren sie schon nicht mehr zu erkennen. Aber eine seltsame Vertrautheit überkam Ayrin.
"Ghim, Rys! Kommt schnell her!" Ayrin fuhr mit zitternden Fingern die kunstvolle Schrift nach.
"Ayrin! Mädchen, ist alles in Ordnung?" Ghim kam und kniete sich neben sie.
Rys ließ die Eimer fallen und rannte zu der Stelle, an der sie Ayrin vermutete.
"Was ist das?" Sie beugte sich über Ayrin.
"Eine Steinplatte. Aber keine, die mein Volk geschaffen hat. Und diese Schrift... sie ist mir gänzlich unbekannt..."
"Flammenmeer ..." Ayrin fuhr über eine Anordnung von Schriftzeichen.
"D-du kannst das lesen?" Ghim war mehr als überrascht.
"Ich...ich weiß auch nicht, woher oder warum ..." Sie berührte eine weitere Anordnung. "Dies hier bedeutet Sternmetall."
"Ghim! Sternmetall ist doch nur ein anderes Wort für ..." Rys blickte ihren Zwergenfreund erstaunt an.
"Mithril." Beendete er den Satz.
Zitternd berührte Ayrin die Erhebung in der Mitte der Platte. Ein Geräusch, wie aus weiter Ferne erklang.
Ein Mechanismus, der schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt wurde, schob die zentnerschwere Platte zur Seite, als wiege sie nicht mehr als eine Feder.
Staunend beobachteten sie, wie die Platte einrastete. Vor ihnen tat sich das Tor zur Unterwelt auf. Gähnende Leere und ein dunkler Schlund starrten ihnen entgegen.
Ghim kniff die Augen zusammen.
"Was sich da wohl verbirgt?" Er langte an seinen Gürtel und holte einen kleinen braunen Beutel hervor. "Geh mir einen trockenen Ast holen, Rys."
Die Amazone nickte und stand auf. Sie verschwand kurz in der Dunkelheit und kam einige Augenblicke später mit einem knorrigen Ast zurück.
"Danke." Ghim nahm den Ast entgegen und legte ihn vor sich. Aus seinem Beutel hatte er zwei weitere Beutel und ein irdenes Gefäß hervorgezogen. Er nahm eine Prise aus dem einen Beutel und tat sie in das Gefäß und mit dem Inhalt des anderen verfuhr er genau so. Als sich die beiden Pülverchen vermischten und mit dem Stein in Berührung kamen, begannen sie leicht zu glühen. Ghim nahm den Ast und strich das Pulver auf den oberen Teil.
"Ich gehe vor. Ayrin, du folgst mir und du, Rys, bildest die Nachhut."
Beide Frauen nickten.
Ghim stieg vorsichtig die Stufen hinunter. Der Bergbewohner brauchte den glimmenden Ast eigentlich nicht, aber Ayrin und Rys würden sich an seinem schwachen Licht orientieren können. 
Zaghaft kamen Ayrin und Rys hinterher. Die Stufen waren glitschig und alle mussten aufpassen, dass sie nicht fielen.
"Genau 99 Stufen", sagte der Zwerg, als sie unten angekommen waren. "Eine merkwürdige Zahl."
"Was kannst du erkennen?" Rys melodische Stimme hallte von den Wänden wider.
"Einen Gang, der sich weit unter die Erde erstreckt. Wir werden wohl einige Zeit laufen müssen."
"Ist er schmal oder breit?" Ayrin blinzelte ein paar mal. Es würde dauern, bis sich ihre Augen an das schwache Licht von Ghims Pulver gewöhnt hatten.
"Nicht sehr schmal. Die Wände sind mit Reliefs verziert und mit dieser Schrift, die nur du entziffern kannst."
Ghim setzte sich wieder in Bewegung und zu dritt liefen sie ins Unbekannte.
"Seltsam, dass mir diese Steinplatte nicht schon früher aufgefallen ist", brummte Ghim.
Ayrin strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht. Langsam aber sicher gewöhnten sich ihre Augen an das Zwielicht und sie begann, Umrisse zu erkennen.
Rys erging es ähnlich. Die Amazone lief nur ein paar Schritte hinter Ayrin und musst ein paar mal nach vorne greifen, um sie vor dem Stürzen zu bewahren.
"Da vorne. Da ist, glaube ich, was." Rys kniff die Augen zusammen.
"Hrmmm. Sieht nach einer weiteren Platte aus." Ghim seufzte.
Ungefähr zwanzig Schritte vor ihnen befand sich eine deckenhohe Platte, die vom gleichen Gestein wie die Platte war, welche den Eingang verdeckt hatte.
"Ayrin, sieh dir das an." Ghim hielt seinen glimmenden Ast direkt vor die Platte.
Sie bestand aus weißem Gestein und die Schriftzeichen, die hier sehr gut erhalten waren, waren mit Gold ausgelegt.
"Unglaublich." Rys verschlug es schier den Atem.
"Aus schwarzem Stein geboren, bewohne ich ein Flammenmeer. Um meiner Herrin zu dienen, erwarte ich ihre Wiederkehr. Ich bin der Wächter des Sternmetalls." Ayrin fuhr in der Luft die Schrift nach.
"Scheint eine Art Bann zu sein. Aber keiner, den ich kenne." Ghim schüttelte den Kopf.
Ayrin legte den Kopf schief. Dann ging sie näher an die Platte. Vorsichtig drückte sie auf zwei Schriftzeichen. Mit lautem Krachen und Ächzen schob sich die schwere Platte zur Seite.
"Faszinierend dieser Mechanismus. So etwas habe ich noch nie gesehen ..." Ghim sah bewundernd zu der Platte, die in einer Mauer verschwand.
Rys zog Ayrin nach hinten. Der athletische Körper der Amazone war gespannt wie eine Bogensehne. Wer wusste schon, welcher Dämon hier gebannt war.
Aber nichts geschah.
Ghim hielt den Ast in den neuen Raum. Glänzender schwarzer Stein reflektierte das schwache Glühen. Der Raum war quadratisch und der Boden, die Wände, sogar die Decke waren aus eben diesem schwarzen Stein gefertigt. Es sah vollkommen natürlich aus. In der Mitte des Raumes befand sich ein massiver rechteckiger Altar aus Stein. Er war mit kunstvollen Reliefs verziert.
"Schwarzer und weißer Onyx", hauchte Ghim andächtig. Er wagte es kaum zu atmen.
Auf dem Altar stand eine kleine Halterung aus purem Gold. Die drei Beine waren fest mit dem Altar verbunden und ein eiförmiger Stein lag oben auf. Über dem Stein hing, von einer Kette aus Gold gehalten, ein schmales Schwert, offenbar für eine Frau geschmiedet.
Schweigend harrte die kleine Gruppe vor dem Altar. Nach einer endlos scheinenden Zeit ging Ayrin auf den Altar zu. Sie streckte eine zierliche Hand nach dem Stein aus und berührte ihn vorsichtig. Er war glatt und warm. So wie sich normalerweise kein Stein anfühlte. Sanft hob sie ihn von seiner Halterung herunter und drückte ihn an sich. Sie zog ihre Schürze aus und wickelte den Stein darin ein. Aus welchem Grund sie das tat, wusste sie nicht, aber der Stein brauchte Wärme. Die Bänder der Schürze wand sie sich um die Schulter und machte sie fest, so dass sie den Stein bequem in ihrer behelfsmäßigen Tasche tragen konnte.
"Ayrin ..." Rys’ Stimme war so weit weg, so weit ...
Ayrin stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich noch ein bisschen und griff nach dem Schwert. Es war leicht wie eine Feder und ein seltsam vertrautes Gefühl überkam sie.
Wie in Trance drehte sie sich zu ihren Gefährten um und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
"Mädchen ..." Ghim trat auf sie zu und schüttelte sie sanft. "Gib mir das Schwert. Es ist bestimmt zu schwer für dich." Er griff danach.
Ayrin blickte ihn fragend an, händigte ihm aber dennoch das Schwert aus. Ghim nahm es an sich und sackte sofort nach unten. Er keuchte.
"Wie kannst du es nur so einfach tragen ... Es wiegt doch mindestens drei Zentner ..."
Ayrin blinzelte, als wäre sie gerade aus tiefem Schlaf erwacht.
"Meister Ghim! Seid Ihr verletzt?" Sie kniete sich besorgt neben ihn.
"Du sollst mich doch nicht 'Meister' nennen ..." Er legte das Schwert ab und richtete sich wieder auf.
"Hm. Vielleicht kann nur eine Frau dieses Schwert tragen. Ich erinnere mich, dass auf der zweiten Platte von einer Herrin die Rede war." Nun bückte sich Rys und griff nach dem Schwert; aber auch sie war nicht in der Lage, es anzuheben.
Beide blickten Ayrin an. Diese beugte sich hinunter und hob das Schwert hoch, als hätte es kein Gewicht.
"Genau. Eine Herrin." Der Zwerg lächelte. "Und wie es aussieht, haben wir soeben die Herrin gefunden."
"Ich kann ja verstehen, dass du das Schwert willst. Aber diesen hässlichen Stein?" Rys schüttelte den Kopf.
"Doch! Er muss mit! Es ist nur ein Gefühl, aber ich glaube, der Stein und das Schwert gehören zusammen." Ayrin drückte den Stein fester an sich.
"Seltsam ist nur, dass wir dem Wächter nicht begegnet sind." Ghim sah sich um.
"Und das Sternmetall?" Rys wurde langsam nervös. Ihr Instinkt schlug Alarm. Etwas war nicht so, wie es hätte sein sollen.
"Wenn ich mich nicht täusche, besteht das Schwert aus Mithril." Ghim nickte in Ayrins Richtung.
"Wir sollten langsam gehen. Hier stimmt etwas nicht." Rys wandte sich um und die anderen folgten ihr.
Sie liefen wieder durch den Korridor, der ihnen dieses mal gar nicht mehr so lang schien und stiegen die Treppe hinauf.

Als sie wieder an der frischen Luft waren, schloss sich die erste Platte selbständig. Sie gingen um die Felsen herum.
"Es scheint, als hätten dich deine Instinkte getrübt, Rys." Ghim deutete auf die stille Lichtung.
Es war ruhig und friedlich. Der Wind streichelte sanft über die Grashalme. Er liebkoste die Blätter der Bäume und ließ sie leise rauschen. Das Wasser plätscherte sanft in den See. Aber doch, irgendetwas stimmte nicht.
"Es ist so friedlich hier." Ayrin lächelte Rys an.
"Eben. Es ist zu still. Wieso höre ich keine Tiere? Normalerweise..." Weiter kam sie nicht.
Der Kampflärm brach zwischen den Bäumen aus. Sechs Kreaturen stürmten auf sie zu. Ihre schwarze, schuppige Haut glänzte feucht im Licht des Mondes. Sie liefen auf zwei Beinen, waren aber keine Menschen. Ihre Schädel waren haarlos und aus ihren geifernden Mäulern ragten gelbe und schwarze Zahnstümpfe.
Mit einer fließenden Bewegung nahm Rys ihren Bogen und griff nach einem Pfeil. Sie zielte und schoss in einer Bewegung. Der Pfeil fand sein Ziel direkt zwischen den Augen des ersten und streckte den Angreifer nieder.
Ghim griff nach seiner zweiblättrigen Axt und hob sie.
"Arrakhôr!" Der Schlachtruf des Zwerges ließ die Kreaturen für einen Moment innehalten. Sie glotzten in die Richtung, aus der sie den Schrei hörten.
Rys spannte ihre Sehne und schoss zwei Pfeile in Folge ab. Wieder fanden sie ihr Ziel und zwei weitere Angreifer fielen.
Nun mischte sich auch Ghim energisch ins Geschehen ein. Mit erhobener Axt stürmte er auf den ersten, den er sah, zu. Wie ein warmes Messer in ein Stück Butter drang die scharfe Klinge seiner Axt in die Seite seines Gegners. Er spuckte Blut und brach zusammen. Sofort wandte sich der Zwerg dem nächsten zu. Dieser war wohl der Anführer. Seine Rüstung war dicker als die der anderen und aus den verschiedensten Teilen zusammengeschmiedet. Er führte einen massiven Streitkolben und ließ ihn kraftvoll auf den Zwerg niederfahren. Ghim parierte mit seiner Axt. Hieb folgte auf Hieb. Ghim wurde weiter in die Defensive gezwungen. Rys konnte ihm nicht helfen, da sie selbst mit dem letzten Angreifer zu tun hatte. Außerdem musste sie Ayrin beschützen.
Der Angreifer war schon zu nahe für Rys’ Pfeile. Sie hechtete zu der Tragstange und führte sie wie einen Kampfstab. Die Amazone wirbelte die Stange über ihrem Kopf und ließ sie schwungvoll auf den Kopf ihres Gegners krachen. Ein widerliches Geräusch folgte und die Kreatur ging zu Boden.
Ayrin stand noch immer regungslos an dem Platz, wo Rys sie zurückgelassen hatte. Sie zitterte am ganzen Leib und wagte kaum zu atmen.
Rys indes legte wieder einen Pfeil an. Sie zielte, aber schoss nicht. Die Amazone konnte nicht abschätzen, ob der Pfeil nicht vielleicht Ghim treffen könnte.
Der Zwerg hatte es geschafft, seine zweite Axt zu ziehen. Während er mit der großen, schweren die Hiebe parierte, suchte er mit der Wurfaxt nach Schwachstellen. Der Anführer der Kreaturen riss seinen Streitkolben nach oben, Ghim duckte sich, hob die leichte Axt und ließ sie in seine ungeschützte Achselhöhle krachen. Stöhnend und gurgelnd brach auch der letzte Gegner zusammen.
Rys senkte den Bogen und rannte zu Ayrin.
"Geht es dir gut? Bist du unverletzt?"
Ayrin nickte.
Ghim zog angewidert seine Axt aus dem toten Körper. Er säuberte die Klingen an der Kleidung der Angreifer.
"Bravo!" Eine fremde Stimme ließ die Drei herumwirbeln. Auf den Felsen stand ein Mann in schwarzer Rüstung. Er hatte die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen. So war es unmöglich, sein Gesicht zu erkennen.
"Wie ich sehe, habt ihr das Portal öffnen können." Er deutete auf Ayrin, die das Schwert immer noch an sich drückte.
"Rühr sie ja nicht an!" Rys hob ihren Bogen erneut und schoss auf den Fremden. Er fing den Pfeil mit einer geschickten Bewegung ab und brach ihn in der Mitte entzwei.
Ein überraschtes Keuchen entwich ihrer Kehle.
Gemächlich setzte sich der unbekannte Mann in Bewegung. Er sprang von den Felsen und schlenderte an Ghim vorbei.
"Graahr!" Ghim schwang seine Axt, jedoch der Fremde war schneller. Mit einer für das Auge kaum wahrnehmbaren Bewegung hatte er sein eigenes Schwert gezogen und fing die Schläge geschickt ab. In einer finalen Kombination bückte er sich, hieb in schneller Folge auf den Zwerg ein und schlug ihm schließlich mit einer immensen Kraft die Axt aus den Händen. Durch die Druckwelle wurde Ghim an die Felsen geschleudert und blieb benommen liegen.
"Ghim!" Rys schnappte sich erneut die Stange und ging auf den Fremden los. Sie wusste, Holz konnte gegen Stahl nichts ausrichten, aber ihren Freunden hielt sie im Kampf stets die Treue und wenn es ihr eigenes Leben kosten sollte.
Er parierte ihre Angriffe mit der Breitseite seines Schwertes und vollführte schließlich die selbe Kombination, die schon Ghim das Bewusstsein gekostet hatte. Aber sie war vorbereitet. Blitzschnell duckte sie sich und das Schwert des Mannes riss ihren Arm auf. Blut spritzte. Sie unterdrückte einen Schrei. Er hob seine freie Hand und schlug ihr einmal kräftig mit der Faust ins Gesicht. Die Amazone ging zu Boden.
Er senkte seine Waffe und ungehindert ging er weiter auf Ayrin zu. Ängstlich wich sie zurück, bis ein Baum ihre vorsichtige Flucht beendete.
"Du bist es wirklich." Seine Stimme klang eigenartig sanft und vertraut. Der Fremde streckte seine Hand nach Ayrin aus. Sie kniff verängstigt die Augen zusammen.
"AYRIN!" Daimyon und Rem preschten aus dem Wald. Der Söldner hielt direkt auf den Unbekannten zu. Rem rannte zuerst zu seiner Schwester, dann zu Ghim.
"Fass sie ja nicht an!" Noch im Laufen zog er sein Schwert. Als er es in der Hand hielt, war aus dem schmucklosen Breitschwert ein prächtiges Schwert mit schwarzer Klinge geworden. Der Namenlose zuckte zusammen. Missmutig wandte er sich von Ayrin ab und hob sein Schwert.
Beide Männer umkreisten sich, starteten Testangriffe und Finten, um die Schwachstellen des Gegners ausfindig zu machen.
Der erste Angriff kam von Daimyon. Er hieb blitzschnell auf den Gegner ein. Nach ein paar Hieben hatte sich der Fremde an den Rhythmus gewöhnt und fing alle Schläge ab. Er konterte mit einer ebenso schnellen Parade. Beide waren gleichstark. Plötzlich hob der Unbekannte sein Schwert direkt vor sein Gesicht. Es war eine Art Salut. Dann steckte er es zurück in die Scheide und verschwand im dunklen Wald.
Ayrin atmete heftig. Daimyon ging sofort zu ihr.
"Daimyon..." Sie torkelte auf ihn zu. Dann wurde es schwarz um sie herum und sie fiel in seine Arme.
 

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Und schon geht es weiter zum 5. Kapitel: Der Klammwald (2)

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