Sebrina A'Leve von Knuddeldrache
Kapitel 1 (Teil 1): Der Weg in die Nurnauen

Oft schon hatten sie aufgeben wollen in den letzten Wochen. Vor allem die Schwestern hatten kaum durchgehalten. Nur die Tatsache, dass sich niemand bereit erklärte sie zurück zu begleiten hatte sie an einer Umkehr gehindert. Heute morgen nun waren sie aus einer der vielen wilden Schluchten, wie sie sie schon so oft durchquert hatten, über einen steilen Pass eine senkrechte Wand herauf in ein weites, sanftes Tal in einem Kessel von mehreren Kilometern Durchmesser gekommen. Als sie um eine Felswand bogen, stand sie plötzlich da. Unschuldig und strahlend thronte sie auf einem mächtigen Felssporn, der am Flusslauf inmitten des Kessels emporragte. Leuchtend weiß strebte sie mit ihren hohen und spitzen Türmen dem Himmel entgegen. Ihre glatten Mauern verdoppelten fast die Höhe des Felsens, auf dem sie erbaut war. Am Fuße des Felsens stand eine kleinere Festung, die den einzigen Weg hinauf zu dem Schloss bewachte, und um die Basis des Felsens schmiegte sich ein Dorf, dessen Häuser zum Teil wie Schwalbennester an die Wand gehängt waren. An der Festung waren noch überall Gerüste zu erkennen und auch das Schloss selbst schien sich noch im Bau zu befinden. Es wimmelte nur so von Menschen dort vor der Burg, wo noch viele grob gezimmerte Hütten standen für die Leute, deren Wohnungen noch nicht fertig waren.
Sie kamen nur langsam näher. Die Entfernung hatte sie durch die hohen Felswände sehr getäuscht und schrumpfte weit langsamer als erwartet. Dafür wurde das Schloss immer beeindruckender. Erst nach und nach erkannten sie die vielen Erker und Türmchen. Die hohen Spitzen, die sie für filigrane Türme gehalten hatten, entpuppten sich immer mehr als das größte und höchste, was sie jemals gesehen hatten. Einer der Türme verzweigte sich gar in drei schlanke Spitzen.

Auf der restlichen Strecke des Weges dachte Sebrina noch mal über den weiten Weg nach, den sie gemeinsam gegangen waren. Seit Monaten waren sie nun unterwegs und auf der Suche gewesen. Die kleine Gruppe hatte sich den Bergen zum Trotz durch die Gärten der Nurn geplagt, auf der Suche nach einem Gerücht, einer Behauptung. Einem Märchen, das Mütter ihren Kindern erzählten vor dem Einschlafen. Ein sehr reales Märchen wie sich zeigte. Etwas wie ein Kulturschock machte sich bemerkbar. Wochen um Wochen nur Wildnis und nun dies...
Vor etwa zwei Jahren hatte sie zum ersten Mal von dem Schloss gehört. Ein alternder Rumtreiber hatte im Rausch erzählt, dass inmitten der Nurngärten eine Burg entstehe. Ein Schloss, schöner und größer als alles was in der Welt der Menschen je gesehen worden sei. Es hatte wie ein nettes Märchen geklungen, doch irgendetwas war an dem Alten gewesen, das sie neugierig gemacht hatte. Auf ihre Frage, wer dort denn baue, antwortete er leise, dass die schönste und mächtigste dort baue. Die reichste und weiseste, die erste und die einzige. Mehr war aus ihm nicht heraus zu bringen. Bald schon hatte sie es wieder vergessen, doch irgendwann waren ihr weitere Gerüchte zu Ohren gekommen und bald schon ließ sie die Vorstellung von einer prachtvollen Burg inmitten des Gebirges nicht mehr los. Sie verdiente sich in der Zeit ihren Lebensunterhalt mit Musik, und wenn das nicht reichte, was öfters vorkam, dann scheute sie auch nicht vor fremden Geldbörsen zurück, die unvorsichtigerweise in ihre Reichweite gerieten. Hierbei wurde sie allerdings ertappt, und ausgerechnet dabei wie sie dem Baron Oberkommandeur der Königlichen Polizei die Geldbörse leerte. Man bot ihr nach einer sehr kurzen Gerichtsverhandlung an, sich zwischen einem mehrjährigen Aufenthalt in den königlichen Kerkern oder einem Auftrag zu entscheiden. Nun, der Auftrag war dieses Himmelfahrtskommando gewesen. Man wollte von ihr, dass sie dem Gerücht des in den Nurngärten entstehenden Schlosses auf den Grund gehen sollte. Sie solle sich innerhalb der nächsten drei Monate auf den Weg dorthin machen. Etwas Genaueres konnten ihr die hohen Herren vom Rat der Südreiche auch nicht sagen, nur dass sie, wenn sie nach dieser Zeit aufgegriffen würde oder das Land auf einem anderen Weg zu verlassen suche, sofort verhaftet würde. Sollte sie aber das Schloss finden, so solle sie umgehend mit den Informationen zurückkehren. Dafür würde man sie freisprechen. Zur Sicherheit und als Garantie, dass sie auch wirklich aufbrach, stellte man ihr einen in Ungnade gefallenen Soldaten und ehemaligen Hauptmann zur Seite. Er sollte sie begleiten und wenn nötig beschützen. Von einem Trupp Soldaten wurden sie begleitet. um Vorräte und sonstige Dinge für ihre Reise einzukaufen, dann wurden sie nochmals gewarnt und sich selbst überlassen. In einem der südlichsten Wirtshäuser, südlich des Auges der Herina kehrten sie ein um zu übernachten und vorher eine billige Kleinigkeit zu essen. Sebrina hoffte währenddessen jemanden in der Schankstube um seine Geldbörse zu erleichtern, um noch etwas zusätzlichen Proviant und vielleicht eine bessere Waffe kaufen zu können. An der Theke lehnte, schwer vom Alkohol, ein alternder Priester mit den zerrissenen Roben eines Herinatempels und erzählte dem Wirt für einen Krug Bier gerade wie er den Tempel in Süderlenweiher zertrümmert und sieben andere Priester verprügelt hatte, bevor man ihn aus dem Tempel warf und aus der Bruderschaft der Herina ausstieß. Der Wirt zeigte wenig Interesse und wienerte weiter an seinen Gläsern herum. Vielleicht hatte er die Geschichte eben auch nicht zum ersten Male gehört, denn vor dem Priester stand noch eine ganze Reihe leerer Krüge. Außer dem Priester und dem Wirt war die Stube fast leer. An einem Tisch in der Ecke saßen drei Bauern und direkt neben dem Eingang zwei Mädchen, gerade noch nicht alt genug um Frau zu sein. Sie starrten ab und zu zum Priester her, steckten dann die Köpfe zusammen und kicherten wie es nur Mädchen in diesem Alter tun können. Sebrina schüttelte leicht den Kopf und schritt mit ihrem Soldaten im Schlepptau auf die Theke zu.
"Herr Wirt, wir hätten gerne ein billiges Zimmer für die Nacht und etwas von eurem Tagesfraß!"
Der Wirt sah sie missbilligend an und schien zu überlegen, ob er überhaupt antworten sollte. Der Priester drehte sich halb um und musterte sie, bevor er sagte: "Der Fraß ist heute recht gut, Herina sei dank. Aber ihr werdet doch nicht euer Nachtlager mit einem Soldaten teilen... Hat euch eure Mutter nie gesagt, wie sprunghaft Soldaten sind?"
Sebrina hielt ihren Wächter am Arm zurück und sagte in ihrer besten Bardinnenmanier: "Verzeiht, würdiger Vater, aber mein Wächter und ich können uns nicht wie die Mitglieder mancher Kirchen ein herrschaftliches Einzelzimmer leisten, wir müssen sehen, wie wir mit einem kleinen Raum zu zweit klar kommen, und sei es nur ein Stall."
Der Priester brummte und klopfte heftig seinen Krug auf den Tisch. "Ja, spottet nur, die Brüder des Herinaordens verdienen euren Spott, jedoch ändern wird es sich nicht, dass sie sich ihre fetten Hintern auf weichen Polstern platt sitzen und Dinge fressen, die vom Gold der Armen und Gläubigen bezahlt sind. Nichts wird sie ändern als der gerechte Zorn der Mutter. Doch um den Zorn der Mutter zu erregen muß man schon mehr tun als der Völlerei zu frönen. Ich habe es ihnen gesagt, ich habe sie gebeten sich zu ändern und den Armen zu dienen wie sie es geschworen hatten..."
Sebrinas Interesse war nun doch erwacht und sie sah den alten Priester gespannt an. "Und was geschah dann?"
Er seufzte. "Als Worte nichts halfen habe ich den Rat der Mutter im Weine gesucht und als ich nichts fand im Schnaps. Dann sprach die innere Stimme zu mir..."
Der Wirt lachte und ergänzte: "Gehe hin, nehme eine große Axt und schlage den Tempel kurz und klein..."
Der Alte fuhr herum und knurrte den Wirt an, der erschrocken zurück wich. "Ungläubiger, hüte deine Zunge... Nein, die innere Stimme sagte ‚Geh raus und erleichtere dich’. Also ging ich auf den Abort und dort an diesem einsamen und stillen Ort erkannte ich den waren Willen unserer Göttin." Er machte eine erwartungsvolle Pause. Sebrina konnte sich ein Lachen kaum verkneifen und auch der Wirt schien einen frechen Kommentar auf den Lippen zu haben. Doch bevor jemand etwas Abfälliges bemerken konnte fuhr der Alte fort. "Schlichtheit und Naturnähe, das war es was sie will. Ich stürmte in den Tempel und riss die protzigen Bilder und Leuchter von den Wänden, ich schlug auf den Tand und Firlefanz ein. Meine Mitbrüder wollten mich von diesem gerechten Weg abbringen und ich schlug sie windelweich. Daraufhin nahm ich den größten Teil des Kirchenschatzes und verteilte ihn an die Armen im Ort. Die Wache nahm mich fest und man sperrte mich ein, meine eigene Kirche verstieß mich und nun seht mich an: Ein gebrochener Mann ohne eine Zukunft, nur der Suff bleibt mir noch."
Sebrina schüttelte erheitert den Kopf und fragte: "Könnt ihr mit einer Heilertasche so gut umgehen wie mit der Axt, mit der ihr den Tempel zertrümmert habt, dann hätte ich vielleicht eine Zukunft für euch, die allerdings unter Umständen sehr kurz sein könnte."
Der Alte hob ungläubig die von Bier müden Lieder. "Was sollte denn das für eine Zukunft sein? Ich halte nicht viel von den Barden und ihrem allzu leichtfertigen Weg. Sie nehmen lieber den Leuten ihr mühsam Erarbeitetes als selbst etwas zu tun..."
"He, ihr braucht mich nicht gleich zu beleidigen, Priester... Oder sollte ich sagen Expriester... Wenn ihr ein wenig Erfahrung mit Heilerei oder dergleichen habt, dann wäre ich sehr glücklich darüber, wenn ihr uns auf unserem Weg begleiten würdet."
Der Alte grunzte und schaute misstrauisch von ihr zum Soldaten und wieder zurück. "Ich bin einer der besten Heiler des Tempels gewesen, aber was sollte es euch nützen, von was für einem Weg sprecht ihr?"
Sebrina erzählte ihm vom Schloss und den Nurnauen und dass die Nurn ja der Fluss der Mutter Herina selbst sei. Dass sie auf der Suche nach diesem sagenhaften Schloss seien und man dort bestimmt einen fähigen und gläubigen Herinajünger wie er einer sei brauchen könne.
Er sah sie misstrauisch an und grunzte am Ende ihres Vortrages. "Toll klingt das ja nicht gerade... Mit der Rede überzeugt ihr ja nicht einmal völlig Hoffnungslose und Verzweifelte... Aber da ich über dieses Stadium wohl schon hinweg bin und mich weit jenseits befinde, werde ich euch wohl begleiten. Mein Name ist Esmond, Esmond der Ausgestoßene, seit kurzem."
Sebrina schnappte sich seine ausgestreckte Hand und strahlte. Jedoch nicht sehr lange, denn die beiden Mädchen waren aufgetaucht und löcherten sie mit Fragen über dieses Schloss und wo es sei und vieles mehr, bis Sebrina in ihrer Verzweiflung leichtsinnigerweise sagte, sie sollten es sich doch selber anschauen, was die beiden als Einladung verstanden mit ihr zu kommen und sofort los rannten um ihre Sachen zu packen.
Karim, ihr Krieger, schüttelte den Kopf und meinte: "Tja, da habt ihr euch ja was Schönes eingebrockt, als ob es für zwei Leute nicht schwer genug ist über die Grenze abzuhauen, jetzt schleppt ihr noch einen Greis und zwei Göhren rum..."
Der Priester sprang auf und packte den Soldaten am Kragen. "Ich werde dir den Greis schon zeigen, Knabe."
Sebrina trat beide ans Schienbein, dass sie schrieen, und meinte dann ruhig: "Gebt Ruhe ihr beide, ich will über keine Grenze fliehen, ich will in die Nurnauen und dieses Schloss finden!"
Der Soldat schüttelte den Kopf und begann den Eintopf zu löffeln, den der Wirt in der Zwischenzeit auf die Theke gestellt hatte. Später kamen die beiden Mädchen, die offensichtlich Schwestern waren, wieder aus ihrem Zimmer und es stellte sich heraus, dass sie von zuhause abgehauen waren und auf der Suche nach einer Anstellung bei einer noblen Herrschaft. Ein völlig neues Schloss schien ihnen da am besten geeignet zu sein. Sebrina wollte die beiden eigentlich nicht dabei haben, doch schaffte sie es nicht ihnen dies einfach so ins Gesicht zu sagen, weil sie sich so sehr freuten. So beschloss sie es anders zu probieren. Sie gähnte und meinte sie müsse nun ins Bett, weil sie morgen so früh raus müsse. Sie würden schon kurz nach Sonnenaufgang aufbrechen. Wie erwartet riefen die Schwestern gleich, sie müssten ins Bett um ausgeschlafen zu sein und gingen mit ihr die Treppe hoch. Einige Minuten später kam Sebrina wieder herab und setzte sich gemütlich zu einem weiteren Becher Wein. Der Soldat sah zu ihr herab und fragte:
"Ihr wollt doch die Kinder nicht etwa mitnehmen?"
"Wo denkt ihr hin, wir brechen morgen zwei Stunden vor Sonnenaufgang auf, Wirt! Könnt ihr dafür sorgen, dass wir drei morgen um diese Zeit geweckt werden, die Mädchen aber nicht?"
Der Wirt nickte. Sie tranken und schwatzten noch etwa eine Stunde, dann begaben auch sie sich in ihre Betten. Früh am Morgen, eigentlich viel zu früh, wie Sebrina fand, wurde sie aus dem Schlaf gerissen und von der durchdringenden Stimme der Tochter des Wirtes geweckt.
"Hoch mit euch, Bardin... Es ist zwei Stunden vor Sonnenaufgang."
Sie stand auf und erkannte, dass auch ihr Wächter schon auf war. Sie spuckte in die Luft und rannte oder kroch, wie in ihrem Fall, hindurch und war fertig mit der Wäsche. Unten in der Stube fand sie den Priester und den Wirt mit betretenen Mienen. Den Grund hörte sie bevor sie ihn sah. Die Schwestern gackerten in der Küche und schienen mehr als erträglich wach zu sein. Sie flöteten ein "Guten Morgen!" und fuhren fort das Frühstück zu richten. "Wir dachten wir stehen etwas eher auf und bereiten schon alles vor, aber wie wir sehen seid ihr ja auch schon wach."
Sebrina ließ sich ergeben in einen Stuhl fallen und schloss nochmals die Augen. Karim brummte ihr zu, sie solle es den beiden sagen. Sie schüttelte den Kopf, öffnete aber dann doch die Augen. "He ihr zwei..." Die beiden sahen sie glücklich an und Sebrina wurde schwer ums Herz, trotzdem fuhr sie fort: "Ich hab mir heute Nacht so meine Gedanken gemacht und bin zum Schluss gekommen, dass die Reise zu gefährlich für euch ist!"
Die beiden rannten auf sie zu, redeten auf sie ein, weinten abwechselnd herzerweichend und bettelten und flehten. Sebrina konnte einfach nicht anders als ihnen zu versprechen sie erst einmal bis an die südlichen Grenzen mitzunehmen, dann wollte sie weiter sehen. Dafür schenkte ihr Karim einen sehr missbilligenden Blick, sagte aber nichts. So brach die kleine Gruppe auf in Richtung Süden, immer weiter auf den Rand der besiedelten Gebiete zu.
Begrenzt wurde dieses Reich hier von den hohen und schroffen Bergen der Nurnauen oder auch ‚Das Labyrinth Der Nurn’. Außer den beiden Mädchen, die je ein Pony ritten, konnte sich keiner der Gruppe ein Reittier leisten. Doch noch waren die Wege gut und die Strecke eben und so kamen sie recht zügig vorwärts. Die Berge, die am Morgen im Süden gerade so aus dem Dunst geschaut hatten, waren schon ein ganzes Stück größer geworden und am Abend oder morgen früh würden sie die ersten Ausläufer des Gebirges erreichen. Die Grenze war als solche nicht so genau festgelegt. Sie änderte sich von Zeit zu Zeit, je nach dem, wie mutig die Siedler wurden und ihre Höfe dem Dichten Wald, der aus dem Gebirge herunter wuchs, abrangen oder wie mutig und aggressiv die Bewohner der Wildnis wurden und die Siedler wieder weiter in die Ebene vertrieben. Doch so alles in allem endete die Zivilisation an den ersten Ausläufern des Gebirges und vor dem dichten Wald, der von den höheren Bergen herab wuchs.
Auf einem der letzten größeren Höfe, einer wehrhaften Anlage mit Mauern und festen Toren, die auf einer der ersten Anhöhen errichtet war, kehrten sie nochmals ein, um ihre Vorräte aufzufüllen. Sebrina handelte dem Bauer noch relativ günstig ein Maultier ab, das sie mit ihrem Gepäck und den Vorräten beluden. Karim und auch Esmond waren während ihres Handels peinlich berührt verschwunden, aber sie war nun mal eine Bardin und würde es sich nicht nehmen lassen, den Preis so weit wie möglich zu drücken. Dafür machte sie dem Mann ein etwas großzügigeres Angebot als sie noch um ein Nachtquartier bat. Darüber waren die Beiden nebst den Schwestern dann doch froh. Keiner wollte an diesem Nachmittag noch in die Wildnis eindringen. Wenn schon, dann doch lieber gut ausgeruht und früh am Morgen.
An Selbigem brachen sie dann nach einem Dämmerungsfrühstück sehr bald auf. Sebrina hatte die halbe Nacht mit den Schwestern diskutiert, doch waren diese gegen jedes Argument stur geblieben. Sie hatten ihr gedroht, sie würden einfach alleine in die Wildnis ziehen oder hinter ihnen her reiten, wenn Sebrina sie nicht so mitnähme. Irgendwann hatte sie vor Müdigkeit aufgegeben und ignorierte die Blicke, die ihr ihre beiden Begleiter zuwarfen, einfach. Sie gab dem Wirt noch ein wenig mehr als sie vereinbart hatten, dafür brachte ihrerseits die Bäuerin ein großes Paket in sauberes Leinen eingeschlagen. "Das ist ein altes Familienrezept", so erklärte sie, "Es ist ein besonderes Brot, das sehr lange hält und sehr nahrhaft ist. Es schmeckt nicht gerade wie Kuchen, aber es macht satt und wird euren Hunger, wenn ihr es nicht vorher esst, noch in einem halben Jahr stillen." Sebrina dankte der Wirtin für dieses Geschenk. Sie verpackte es auf dem Maultier unter den anderen Vorräten und sie hatte das Gefühl, es noch einmal sehr dringend brauchen zu können. Mit einem letzten Winken schritten sie los, dem immer größer werdenden Kamm des Gebirges entgegen.
Bald waren sie an der Stelle angelangt, an der ihre seither sehr genaue Karte die ersten weißen Flecken aufwies und auch ansonsten nicht mehr vertrauenswürdig war. Insgesamt reichte sie nur bis zu den ersten größeren Anhöhen des Labyrinthes. Der Weg war zu einem bloßen Pfad geworden, der auch mit jedem Kilometer schmaler und unwegsamer wurde. Sebrina führte die Gruppe an als sie immer weiter in das Dickicht eindrangen.
Plötzlich vernahm sie direkt neben sich eine Stimme: "Na, ihr macht ja mehr Krach als’n Rudel Kachschweine auf der Flucht..."
Sebrina fuhr herum und direkt neben ihr lehnte ein dünner Kerl an einem der Stämme. Karim hatte sein Schwert schon halb aus der Scheide, als der Fremde weiter sprach:
"Na, mal langsam. Ich tu euch schon nichts. Wenn ich’s gewollt hätt, wärt ihr alle schon durchlöchert. Begleit euch schon ne ganze Weile."
Sie betrachtete ihn neugierig. Er war nicht besonders groß, aber auch nicht klein. Seine Figur war eher schmal und er steckte ganz in brauner und grauer Kleidung, die hier im Zwielicht der Bäume kaum zu erkennen war. Über der Schulter hing ein langer Bogen und ein Köcher voller Pfeile und an seiner Seite baumelte ein Langschwert, zierlicher und schmaler als das große Schwert von Karim.
Esmond starrte ihn an und fragte unfreundlich: "Was willst du von uns, Wildschänder?"
Der Jäger blieb gelassen und gab Kontra: "Die Frage is eher was wollt ihr von mir? Hier draußn is nichts mehr als meine Hütte. Es is der letzte und äußerste Zipfel des Südlichen Bundes und vielleicht gehört’s schon nich mehr dazu."
Sebrina antwortete: "Nichts wollen wir von dir, wir sind ganz zufällig hier her gekommen."
Ungläubig sah er sie an. "Zufällig? Ganz zufällig an’s Ende der Welt? Seid ihr wegen des Kopfgelds hier? So wertvoll war mein Kopf gar nich als ich zum letztn mal eine Zahl gehört hab, dass gleich fünf Kopfgeldjäger davon satt würdn. Wer hat euch geschickt? Niemand verirrt sich zufällig hier her."
Karim und Esmond schoben sich links und rechts neben Sebrina, die sie jedoch zurück hielt. "Wir sind nicht wegen euch hier, noch wissen wir überhaupt etwas von euch. Wir sind auf dem Weg in die Nurnauen..."
Der Fremde lachte schallend. Als er sich beruhigt hatte, meinte er noch immer grinsend: "In die Nurnauen? Na wenn’s weiter nichts is. Ihr wisst schon, dass kaum jemand von dort zurückkehrt, der mal hinein geraten is?"
Sie nickte: "Ja, ist uns bekannt, aber wenn ein Preis auf euren Kopf ausgesetzt ist, dann versteht ihr uns vielleicht. Ich bekam einen Auftrag, der ein reines Himmelfahrtskommando werden wird. Der Polizeichef des Reiches hat mich gezwungen nach einem Gerücht zu suchen, nach dem sagenhaften Schloss inmitten der Nurnauen. Ihn hier", sie deutete auf Karim, "er wurde mir zugeteilt, zwangsabkommandiert... Und er hier ist ein verstoßener Priester!"
Der Fremde lächelte sie noch immer an, allerdings war es ein ungläubiges Lächeln. "Aha... Ihr seid also auf’m Weg in die Nurnaun, aus denen keiner zurückgekehrt is, um ein Gerücht zu suchn? Nich grade glaubhaft..."
"Ihr braucht uns auch nicht zu glauben, wir werden sowieso weiter ziehen und euch kann das ganz egal sein."
Sebrina war sauer und marschierte forsch drauf los. Ihre Gruppe folgte ihr stumm und so drangen sie weiter in den Wald ein. Immer wieder horchte sie zurück, ob nicht von dem Jäger noch etwas zu hören war, doch scheinbar gab er sich damit zufrieden, dass sie weiter zogen. Etwas enttäuscht war Sebrina schon, einen Waldläufer und Kundschafter hätten sie gut als Unterstützung gebrauchen können. Als sie aufsah und ihre Gedanken verscheuchen wollte, schreckte sie schlagartig zurück und die anderen prallten in sie hinein. Der Kerl stand direkt vor ihr. Wie war er nur so schnell hier her gekommen.
Er sah sie nachdenklich eine ganze Weile lang schweigend an, dann brummte er: "Ihr wollt also tatsächlich in die Tiefen der Irrgärten der Nurn?"
Sebrina nickte.
"Ihr seid sehr mutig, oder natürlich absolut bekloppt, was meist aufs selbe rausläuft."
Sie sah ihn trotzig an, sagte aber noch immer nichts.
Er fuhr fort zu sprechen: "Falls ihr wirklich vor habt dieses Schloss zu suchn..."
Sie sah ihn noch immer direkt an: "Was dann?"
"Vielleicht könnt ihr nen erfahrenen Waldläufer gebrauchn, es gibt hier fast nur noch Wald und keiner von euch scheint sich mit der Wildnis wirklich auszukennen."
Sebrina sah ihn herausfordernd an. "Soll das heißen, ihr wollt uns begleiten?"
Er zuckte mit den Schultern. "Nun, wenn ihr mich mitnehmen wollt, ich möcht schon länger dort hin, aber allein is’s mehr als gefährlich."
Sebrina drehte sich zu ihren beiden Begleitern, die Schwestern würde sie bei so etwas nicht fragen, aber den Rat des Soldaten und des Priesters mochte sie schon vorher hören.
Karim wiegte den Kopf und sagte: "Einerseits war er nicht besonders freundlich und ich traue ihm auch nicht wirklich, aber er hat recht, mit der Wildnis kennen wir uns nicht aus."
Esmond blickte finster von ihr zu Karim und wieder zurück. "Ich halte diesen Burschen nicht für vertrauenswürdig. Er ist ein gesuchter Jäger, einer, der dem Herren Wild klaut. Ein Dieb, ohne jetzt euch zu nahe treten zu wollen, Fräulein Sebrina, ihr seid eine Bardin und eine hübsche noch dazu, da verzeiht man so etwas schon mal..."
Wieder schaltete sich Karim ein: "Er mag ruppig sein und finster, aber das sind die Waldjungs meistens. Vor allem wenn sie vertrieben wurden oder jemand ihrem Wald und Wild was tut. Ich denke, er ist einfach nur ebenso misstrauisch wie wir."
Esmond musste sich als überstimmt geschlagen geben obwohl auch er zugab, dass ein guter Waldläufer in der Wildnis durchaus zu gebrauchen sein würde.
Sebrina wandte sich wieder dem Jäger zu. "Wenn ihr uns begleiten wollt, dann seid willkommen, sechs sind immer besser als fünf."
Er nickte, sagte dann aber: "Sechs wärn auch noch wenig für diese Aufgabe", er ließ einen abschätzenden Blick über sie gleiten, "aber dürftig Vier sind heller Wahnsinn. Ich liebe hellen Wahnsinn."
Er drehte sich auf dem Fuß um und sagte noch über seine Schulter: "Ich weiß ja, dass ihr mir nicht traut, aber wir sollten trotzdem zu meiner Hütte. Dort können wir noch übernachten und außerdem noch meine Sachen holen."
Sebrina hörte wie Esmond auf Karim eintuschelte, verstand aber kein Wort. Sie konnte sich eh denken, um was es ging. Es war ihr gleich. Mit dem Jäger hatten sie eine Chance durch zu kommen. Wenn er jedoch ein Verräter war... nun, ohne ihn wären sie ohnehin gescheitert.
Nur einige hundert Meter entfern mitten im dichtesten Wald stand eine Blockhütte mit einem kleine Stall dabei. Der Jäger öffnete die Türe und ließ seine Gäste eintreten. Nur Esmond bestand darauf, dass er vor ihm hinein ging. Im innern war es dunkel und eng. Eindeutig war diese Unterkunft nicht für sechs Personen gebaut worden, doch schafften es schließlich alle einigermaßen bequem zu sitzen, während ihr Gastgeber noch genügend Raum hatte, um Cha und einen dicken Eintopf zu kochen.
Während des Essens erfuhren sie mehr von dem eigentlich eher stillen Jäger. Er hieß Warn von der stillen Hand. Er war der Hofjäger des Königs dieses Reiches gewesen. Auf einem seiner Streifzüge hatte er einen Wilderer gestellt, der Sembals des Herrschers erlegt hatte. Es war ein alter Mann gewesen, der nicht wusste, wie er sonst seine Familie ernähren sollte. Sein Sohn war verkrüppelt, seit er bei der Garde des Königs einen Hieb erhalten hatte und konnte nicht arbeiten. Seine Schwiegertochter hatte schon zwei Kinder und ging mit dem dritten hoch schwanger. Er selbst war Wittwer und hatte seine Arbeit in der Mühle an einen Jüngeren verloren. Warn tat er leid und so ließ er ihm die Sembalgeiß und schickte ihn nach hause. Doch der Alte wurde auf dem Heimweg von einem anderen gefasst und beim Erpressen eines Geständnisses hatte er ihn verraten. Warn wurde angeklagt und musste fliehen. Hier war er dann gelandet, um seine Ruhe zu haben. Und um den Nurnauen näher zu sein, wo es ihn schon seit geraumer Zeit hinzog. Zwei Jahre sei es nun her, aber der König hätte das Kopfgeld noch nicht aufgehoben. Auch sie erzählte ihre Geschichte, und auch Esmond gab sein viel erzähltes Abenteuer im Tempel heute zum ersten Male nüchtern und mit Gebrumm zum Besten.
Warn musste grinsen. Er stapfte, ohne ein Wort zu verlieren, hinaus und kam Minuten später mit zwei großen Krügen, an denen noch die Erde vom Ausgraben klebte, wieder. Er nahm einen großen Becher und füllte ihn, dann meinte er entschuldigend: "Hoffe, es macht euch nichts aus, aus einem Becher zu trinkn, hab nun mal nich so viele."
Sie schlürften Wein und auch die Schwestern bekamen einige sehr kleine Schlucke ab, bis auch sie ihre kurze Geschichte erzählt hatten. Eine ganze Weile nachdem es wieder still geworden war und der Becher kreiste, fragte er Karim: "Nun, was habt ihr für ne Geschichte?"
Der Angesprochene sah traurig hoch und brummte: "Eigentlich keine sehr interessante..."
"Wenn ihr nich möchtet, behaltet’s für euch. Vielleicht später mal."
Karim sah von einem zum andern und alle starrten ihn mit erwartungsvollen Mienen an. Er hatte bisher noch keinem erzählt, was eigentlich vorgefallen war.
"Nun gut, wenn ihr’s hören müsst... Ich war Hauptmann der Wache im Schloss zu Peringberg. Mein Fürst war zufrieden mit mir und ich erwartete eigentlich eine baldige Beförderung. Außerdem hatte ich eine Verlobte. Als mein Fürst sie sah, verlangte er von mir sein Recht der ersten Nacht... Ihr wisst, was das für ein barbarischer Brauch ist? Der Herrscher hat das Recht die erste Nacht mit der Braut nach der Hochzeit zweier seiner Untertanen für sich zu beanspruchen. Ich lehnte ab und er drohte mir, da ließ ich mich hinreißen und gab ihm eine Ohrfeige. Ich wurde ergriffen und ins Loch gesteckt. Als ich zwei Wochen später wieder raus kam war viel passiert, der Fürst war tot und meine Braut auch. Keiner wollte mir verraten, was los war. Ich wurde abgeschoben und in die Dienste eines anderen versetzt. Bevor ich gebunden abgeführt und abtransportiert wurde, erfuhr ich noch von einem alten Freund, was wirklich passiert war. Mein Fürst hatte mich eingesperrt und holte sich meine Braut. Sie glaubte ihm nicht, dass ich dem Erstnachtrecht zugestimmt hätte und ohrfeigte ihn ebenfalls... Meine kleine... Er wollte ihr weismachen, ich sei geflohen, auch das glaubte sie ihm nicht. Als er sie dann mit Gewalt nahm, zog sie den Dolch, den ich ihr geschenkt hatte, aus ihrem Mieder und erstach erst den Fürsten und dann sich. Bin nie wieder ein guter Soldat geworden... Mochte keinem Herrn mehr dienen, deshalb schieben sie mich jetzt so ab."
Karim schwieg und auch kein anderer wagte es etwas zu sagen, selbst die immer quasselnden Schwestern waren verstummt. Nach einer ganzen Weile schüttelte sich Karim plötzlich und lächelte.
"Das ist alles lange her, vergesst das Ganze. Komm, gib mir noch mal den Wein. Lasst uns Bruderschaft trinken, was haltet ihr davon. Wir werden eine Weile in der Wildnis unterwegs sein und können genauso gut Du zueinander sagen. Was meint ihr? Nun, Herr Esmond, ich weiß wohl, dem Ältesten der Gruppe gebührt es solches vorzuschlagen. Ihr wart aber alle so sprachlos."
Esmond grinste. "Du hast verdammt noch mal recht, Junge, lasst uns darauf anstoßen."
Der Becher kreiste und jeder prostete jedem zu. Auch die Mädchen schloss man hierbei natürlich nicht aus. Dann schien Warn etwas einzufallen.
"Ich muß mein Zeug noch packn, entschuldigt mich nen Augenblick, morgen wär’s dafür zu spät." Er erhob sich und auch Sebrina nutzte die Gelegenheit noch mal hinaus zu gehen, nach dem Maultier und den Ponys zu sehen und frische Luft zu schnappen.
Im Verschlag hinter der Hütte polterte es und gleich darauf kam Warn um’s Eck und führte einen Braunen am Zügel. Er richtete Packtaschen und Lastsattel und legte alles bereit für den nächsten Tag. Plötzlich brummte etwas hinter Sebrina, ein tiefes Grollen erklang. Vorsichtig drehte sie sich um und starrte auf einen riesigen Hund mit gefletschten Zähnen. Struppiges, hellgraues Fell bedeckte den hochbeinigen Körper, der ihr bis über die Taille reichte und die spitzigen Ohren waren weit nach hinten gelegt. Warn schüttelte den Kopf und sagte ruhig: "Alles in Ordnung, Baja altes Mädchen, sie gehört jetzt dazu."
Das war alles, und scheinbar alles was die Hündin brauchte. Ihre Ohren schnellten vor und der lange buschige Schwanz peitschte hin und her als sie schnüffelnd ihre Schnauze an Sebrinas Rock abwischte. Diese hielt ihr vorsichtig die Hand hin und sie schnupperte erst und leckte dann über ihren Handrücken. Sie hatte die raueste Zunge, die Sebrina je bei einem Hund gefühlt hatte.
In Warns Hütte wurde es recht eng in dieser Nacht. Das Schnarchen von drei Männern war nahezu unerträglich und Seba beschloss den Rest der Nacht draußen im Verschlag zu verbringen. Dort musste sie sich den noch engeren Raum mit Pferd, Maultier, Ponys und Hund teilen, welche aber wenigstens nicht schnarchten.
 

© Knuddeldrache
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