Sebrina A'Leve von Knuddeldrache
Kapitel 1 (Teil 3): Der Weg in die Nurnauen

Am nächsten Morgen waren sie wie gerädert. Der unzulängliche Rastplatz, die feuchte Kälte der Nacht und die Aufregung wegen des Orks hatten sie alle gleichermaßen schlecht schlafen lassen. Der Ork blieb auch auf der weiteren Reise gefesselt und trug nicht eben dazu bei, dass sie schneller vorwärts kamen.
Immer weiter folgten sie dem Bachlauf und wenn sie nun auch nicht mehr über steile Hänge und Gipfel mit Schnee klettern mussten, einfach war der Weg in dem engen Tal dennoch nicht. Oftmals mussten sie den immer breiter werdenden Bach überqueren, weil die Ufer an ihrer Seite zu steil wurden, oder sie mussten durch tückischen Sumpf und Moor waten. Kalt und klamm waren ihre Kleider und nicht wenigen aus der Gruppe begannen die Nasen zu laufen. Baja und Warn waren die meiste Zeit voraus und erkundeten den weiteren Weg, um sie zu den günstigsten Übergängen des Baches zu führen, wenn sie wieder queren mussten. Sebrinas Entscheidung, den Ork mitzunehmen, war noch von niemandem in Frage gestellt worden, jedoch gestaltete sich sein Transport immer schwieriger. Er selbst hatte seit seiner Gefangenname vor vier Tagen noch kein Wort gesagt und Seba zweifelte nicht mehr daran, dass er sie wirklich nicht verstand. Ihre Wanderung war bis auf die Nässe bis hier her ereignislos gewesen. Um nicht bemerkt zu werden hatten sie nur noch tagsüber Feuer gemacht und dann nur wenn sie trockenes Holz hatten. Keiner war glücklich und alle in gereizter Stimmung.
Gerade als die Schwestern fragten, ob sie bald eine Pause machen konnten, kam Warn von seinem Auskundschaften zurück und flüsterte Sebrina zu:
"Dort vorne mündet der Bach in nen Fluss... Wir werdn uns für ne Richtung entscheidn müssn. Wär ne Gelegenheit den Ork los zu werdn."
Seba sah ihn kurz an und nickte dann. "Hört mal her!"
Als die anderen anhielten und sich um sie scharten fuhr sie fort. "Warn hat das nächste Tal entdeckt. Dort werden wir entscheiden müssen, ob wir flussauf- oder flussabwärts gehen. Aber vorher sollten wir etwas anderes entscheiden."
Sie sahen Seba fragend an und sie deutete auf den Ork.
"Wir können ihn nicht ewig mitnehmen."
Die anderen murmelten zustimmend und nickten sich zu.
"Also werden wir überlegen was zu tun ist. Mein Vorschlag wäre ihn mit seinem Jagdmesser bewaffnet hier zu lassen und einfach weiter zu ziehen. Wir sind weit genug von dort weg wo wir ihn aufgegriffen haben und unser Vorsprung ist groß genug bis er wieder zu hause ist, dass wir keine Verfolgung zu fürchten brauchen."
Die sechs diskutierten heftig, ob es ratsam sei den Ork am Leben zu lassen oder ihn frei zu lassen, am Ende jedoch setzte sich Sebas Vorschlag durch. Sie banden den Ork an einen Baum, so dass er sich in einiger Zeit selber befreien konnte. Seba schickte die anderen voraus und blieb noch kurz bei ihm.
"Du verstehst mich zwar nicht, aber ich möchte mich trotzdem bei dir entschuldigen, für alles was wir dir angetan haben. Hier hast du dein Messer wieder!" Sie steckte das lange Jagdmesser vor ihm in den Boden, "und da ist noch etwas Proviant, damit du nach hause kommst. Tu mir den Gefallen und verfolge uns nicht, weiß nicht, ob ich meine Begleiter wieder dazu kriege einen von euch am Leben zu lassen, wenn du uns noch mal begegnest. Leb wohl und pass auf dich auf."
Der Ork sah sie an und brummte etwas in seiner kehligen Sprache. Seba nickte ihm noch einmal zu und folgte ihren Freunden zur Mündung des Baches. Dort entschlossen sie sich gemeinsam, um nicht wieder zu weit an die besiedelten Gebiete heran zu kommen, dem Fluss aufwärts zu folgen. Das Tal war nun breiter und bequemer zu gehen, aber auch leichter einzusehen. Pappeln und Erlen standen zusammen mit Weiden am Ufer und bildeten zum Teil dichte Auwälder. Dazwischen stand meterhohes Schilf unterbrochen von Kiesbänken, die weit in den wenig Wasser führenden Fluss hinein ragten. Auf diesen freien Flächen lief es sich bequem, dort waren sie aber auch leicht zu entdecken. Feuer konnten sie hier nur in ganz geschützten Plätzen machen oder auch in der einen oder anderen unbewohnten Höhle der oftmals senkrechten Felswände. Ab und zu, an den Windungen des Flusslaufes, drängten diese bis dicht an den Fluss heran, der an diesen Stellen ausgesprochen tief und nur schwer zu überwinden war. Nahrung und Wild gab es hier so im Überfluss, dass auch Seba mal ein Kaninchen schießen konnte, wenn Warn sie auf seine Jagdausflüge mitnahm. Er trainierte sie während den abendlichen Rasten, wenn die Zwillinge kochten, im Bogenschießen und Messerwerfen, und Karim versuchte ihr die Grundhaltung und Abwehrschläge mit ihrem Rapier beizubringen. Als Ausgleich spielte sie, wenn es dunkel wurde und sie ein geschütztes Plätzchen für ihr Lager gefunden hatten, am Lagerfeuer und sang die alten Balladen, die sich ihre fünf Begleiter wünschten. Warn machte sich während ihrer Wanderung immer wieder Notizen und Skizzen der Gegend und zeichnete abends, wenn er dazu kam, eine grobe Karte der Gegend, durch die sie gekommen waren.
Sie kamen gut vorwärts in diesen Tagen und auch das Wetter meinte es gut mit den Wanderern, aber sie begegneten keiner Seele auf ihrem Weg, die sie hätten fragen können. Nicht einmal Orks oder etwas ähnliches kreuzte ihren Marsch. Warn saß abends am Feuer und starrte auf seine Skizze. Er schenkte dem Lied, das Seba für sie sang, kaum Beachtung und murmelte vor sich hin. Als er aufsah weil, irgend etwas seltsam war, starrten ihn die anderen an und er bemerkte jetzt erst, dass Seba schon länger aufgehört hatte zu spielen und es ganz still geworden war bis auf sein Brummen und das Knacken des Feuers.
Karim fragte als erster: "Was ist denn los? Du brummst in einem fort, als ob dich dein Gekritzel bedroht."
Warn nickte bedächtig bevor er sagte: "Bedroht... Ja, das könnt sogar so sein..."
Alle sahen verwirrt auf die Blätter, die vor ihm ausgebreitet lagen. Und er fuhr fort: "Schaut her! Das hier", er fuhr mit dem Finger über die Striche, "das is unser Weg. Hier is Norden und dort sind wir los gezogn. Wir laufn diesm Fluss hier nach und das Tal macht einen weitn Bogen. Warn wir am Anfang noch fast in südlicher Richtung unterwegs, sind wir nach und nach weiter nach rechts abgekommn und befindn uns jetzt fast genau in westlicher Richtung. Wenn ich mich nich sehr täusche befindn wir uns bald weiter westlich als wir gestartet sind. Dies is nicht die Nurn, höchstns ein Nebnfluss, der aus’n Westmarken herab kommt."
Esmond schüttelte ungläubig den Kopf.
"Woher willst du bei all den Kurven, die der Fluss gemacht hat, noch wissen, wo wir uns befinden?"
Warn sah ihn ärgerlich an und motzte: "Ich frag dich doch auch nicht, woher du bei allen Untaten noch die Kraft nimmst an Herina zu glauben..."
Esmond drehte sich um und verschwand beleidigt und Sebrina sah Warn böse an.
"Du hättest ihn nicht zu kränken brauchen, er ist nicht der Einzige, der sich wundert, woher du das alles wissen willst."
"Ich bin nun mal ein Jäger und kenne mich mit Kartographie und auch mit Sternendeutung und Sonnenständen ein bisschen besser aus als ihr. Es ist wie ich sage, wir sind fast so weit westlich wie als wir die Nurnauen betraten."
Karim ergriff wieder das Wort: "Was also schlägst du vor?"
"Ein Quertal findn und versuchn weiter östlich zu gelangn."
Sie berieten sich und riefen nach Esmond, der erst antrabe als Warn sich entschuldigte. Nach einiger Zeit einigten sie sich darauf noch einige Zeit weiter dem Tal zu folgen und wenn sich die Richtung nicht ändere ein Seitental zu nehmen. Zwei Tage später war dann klar, dass sich der Fluss immer weiter Richtung Westen erstreckte und sie suchten sich ein größeres Tal, das wieder in südlicher Richtung lag. Der Talboden war nun wesentlich schlechter begehbar und auch das Wetter war wegen ihres Richtungswechsels scheinbar beleidigt und es begann wieder zu regnen. Am ersten Tag war es nur ein leichter Sprühregen, der die Ausrüstung und die Kleider klamm werden ließ und sie mehr ärgerte als wirklich unangenehm zu sein. In dieser Nacht fanden sie keine geeignete Stelle für die Rast und so blieb ihnen nichts anderes übrig als still und ohne Feuer zu frieren. Mitten in der Nacht begann es dann fürchterlich zu regnen und zu stürmen. Sie hörten das Poltern fallender Steine um sich her und auch das Geräusch knickender Bäume. Sie zogen sich im Laufe der Nacht immer weiter den Hang hinauf zurück, weil das Wasser im Tal schnell anstieg. Am Morgen war der kleine Bach ein reißender Wildbach geworden, der nicht mehr zu überqueren war. Sie kletterten mehr als dass sie wanderten am Ufer entlang und waren bald durchweicht und durchgefroren. Das Wasser stieg immer weiter und sie mussten sich gegen Mittag in eine kleine Höhle in der Felswand zurückziehen, eigentlich war es eher ein Überhang. Sie hatten ein wenig eingepacktes Holz, das trocken war und nicht sehr rauchte. An diesem Feuer trockneten sie weiteres Holz und ihre Kleider, während sich die Truppe aufwärmte.
"Wenn sich das jetzt einregnt, müssn wir ne ganze Weile hier bleibn", sagte Warn missmutig und sah nach seinem Bogen und seinen Pfeilen, die nass geworden waren.
Karim, der ihrer aller Stahlwaffen schliff und ölte, sah zu ihm auf, zum Regen am Höhleneingang hinüber und brummend wieder auf seine Arbeit. Esmond streckte seine Glieder und machte Dehnübungen mit seinen alten Sehnen. Lura und Pillipa summten eine Melodie, die Sebrina am Abend zuvor gesungen hatte und bereiteten dabei das Essen zu. Inzwischen waren sie mit ihren Dolchen recht geschickt. Und Sebrina selbst? Sie stand am Rande der Nische, vor ihren Füßen platschten die Regentropfen in den Sand und spritzten Dreck umher. Das Wasser war vom Wildbach zum reißenden Fluss geworden und hörte nicht auf zu steigen und der Himmel machte nicht den Eindruck in nächster Zeit die Flut eindämmen zu wollen.
Sie fragte: "Warn, was meinst du, wann hört es auf?"
Warn sah von seiner Ausrüstung auf und schüttelte den Kopf. Dann murmelte er: "Bei den Wolkn? Keine Ahnung. Da is alles möglich, nur nich, dass’s bald aufhört..."
Sebrina kickte in den nassen Sand, dass es spritzte und fluchte laut, dass die Mädchen ganz verwirrt schauten. Dann zog sie sich ins letzte Eck der Höhle zurück und trocknete nochmals die Tiere gründlich ab, die dort standen.
Den Tag verbrachten sie dösend oder mit dem Steinchenspiel, das Esmond ihnen beibrachte. Sebrina war zu sauer, um ihr Instrument zu spielen, außerdem hatte es durch den Regen gelitten und trocknete vorsichtig an der Höhlenwand. Die Mädchen, die sich zu richtig passablen Köchinnen entwickelten, hatten wildes Korn gesammelt auf dem Weg und mahlten es nun zwischen großen Steinen. Anschließend buken sie mit Kräutern und Salz daraus einfache, kleine Fladen, die sich lange halten würden. Sie schmeckten durch die von Esmond dem Feinschmecker empfohlene Kräutermischung nicht einmal so übel und noch warm am besten. Abends dann war Sebrinas Laune wieder soweit hergestellt, dass sie sich breitschlagen ließ zu spielen. Ihre fünf Begleiter saßen andächtig um das kleine Feuer und Bajas Kopf lag auf Sebrinas Schoß. Später erhob sich Esmond leise, schnappte seine Decke und setzte sich an den Eingang zur Höhle. Die anderen krochen nach und nach in ihre Schlafsäcke oder Decken bis nur noch Sebrina und Baja da saßen. Langsam und leise wickelte die Frau ihr Instrument in die wetterfeste, nun wieder getrocknete, Lederhülle und schloss diese nun sorgfältiger als beim letzten mal. Nun kroch auch sie in ihren gefütterten Sack und schaute erstaunt zu Warn, als Baja sich an sie kuschelte und träge mit dem Schwanz klopfte. Warn lächelte und blinzelte ihr zu, dann zog er die Decke über den Kopf und bewegte sich nicht mehr. Sebrina dachte über ihren Marsch nach, wie eigentlich jede Nacht und kam auch heute zu keinem Ergebnis. Nun, vielleicht schien ja am Morgen die Sonne, und sie konnten weiter ziehen.
Karim weckte sie einige Zeit vor Morgengrauen. Sie stand verschlafen auf und taumelte mit ihrem Sack zum Eingang. Kurz, aber nur ganz kurz hielt sie ihren Kopf in den noch immer in Strömen fließenden Regen, um wach zu werden, dann kroch sie am Rande der Höhle wieder in ihren Sack, den Rapier und den kleinen Bogen auf ihrem Schoß. Baja war während der Nacht wieder zu Warn gekrochen und hatte sich quer über seinen Bauch gelegt. Sebrina starrte in die rauschende Dunkelheit und versuchte sich vorzustellen wie hoch der Fluß nun schon reichte. Grübelnd hing sie ihren Gedanken nach, unter anderem dem, dass sie es niemals gehört hätte, wäre ein Fremder oder eine Horde Fremder von hinten an sie heran geschlichen. Ewigkeiten später wie es ihr schien, wandelte sich das Schwarz des Höhleneinganges langsam zu einem trüben Dunkelgrau und zögernd zum helleren Grau einer nassen, kalten und unfreundlichen Dämmerung. Es schien nicht, als wollte das Wetter in nächster Zeit besser werden. Beleidigt und es als persönlichen Angriff betrachtend saß sie da und sparte es sich die anderen zu wecken. Es lief ihnen nichts davon, wenn sie schliefen. Weiter konnten sie eh nicht. Ihr Holzvorrat, der rings um das noch leicht brennende Feuer zum trocknen geschichtet war, würde noch eine ganze Weile reichen und neues nasses zu besorgen war nicht schwer. Außerdem würde bei diesem Wetter kein Wesen den Rauch sehen oder riechen, da er schon wenige Meter vom Höhleneingang aus der Luft gewaschen wurde. Gelangweilt wickelte sie das weiche Lederband am Handgriff ihres Bogens ab und wand es fester wieder herum. Dann erhob sie sich, um die Waffe zu entspannen, damit sie in der Feuchte nicht unnötig litt. Beim probieren der Sehnenspannung hatte sie bemerkt, dass die Zugkraft schon nachgelassen hatte, was aber auch an der feuchten Sehne liegen mochte. Langsam wurde es so hell, dass sie bis zum Fluss hinabsehen konnte. Er war nochmals ein ganzes Stück gestiegen und das andere Ufer war bei diesem Wetter nicht mehr zu erkennen. Braun und dickflüssig wie es schien wälzte er sich in seinem Bett abwärts, bereit alles nieder zu reißen oder fort zu drücken was sich ihm in den Weg stellte. Noch belaubte, grüne Äste und dicke Knüppel wurden durch die sich überschlagenden Walzen immer wieder unter Wasser gezogen auf ihrem Weg an Sebrinas Blickfeld vorbei. Ab und zu trieb ein mächtiger geknickter und zersplitterter Stamm oder ein ganzer Baum mit Wurzel und Laubwerk vorbei.
Nach einiger Zeit wachten ihre Freunde einer nach dem anderen auf und blickten in den grauen Tag hinein. Esmond drehte sich nur grunzend um und schlief sofort weiter, während Warn und Karim aufstanden. Warn setzte sich neben Sebrina, und Karim begann das Feuer zu schüren und eine Kanne Membar aufzusetzen. Sebrina nahm sich das Zaumzeug für das Packtier und die Ponys vor und versuchte es auszubessern und lose Nähte zu flicken. Die Zwillinge saßen unter ihren Decken und stopften ihre Kleider so gut sie konnten und sofern es beim Zustand der Kleidung überhaupt möglich war. Es war klar, auf einem Staatsempfang konnten sie sich alle nicht blicken lassen. Warn begann sich möglichst wasserdicht einzupacken. Zuletzt rammte er sich seinen breiten Schlapphut auf den Kopf packte seinen Bogen und stapfte in den Regen. Niemand beneidete den Jäger darum, den Braten besorgen zu dürfen. Selbst Baja zögerte einen Moment als sie die ersten Tropfen auf die Schnauze bekam, als Warns Gestalt aber im Regen und Dunst verschwand trabte sie ihm doch hinterher.
Karim, der nun neben Sebrina getreten war, sah den beiden nach und schüttelte den Kopf. "Scheißwetter zum Jagen... Heut bin ich froh, dass ich nur’n Soldat bin und nicht’n Jäger!"
Seba nickte. "Hast recht. Ich hab’n schlechtes Gewissen, vielleicht hätt ich ihn begleiten sollen?"
Karim schüttelte den Kopf und erwiderte: "Hätt er gesagt, glaub mir. Bleib du mal im Trockenen. Spiel uns lieber noch was!"
Sebrina packte ihre Harfe aus und prüfte den Klang. Die Feuchte war noch immer im Holz und einen Bardenwettbewerb hätte sie damit nicht gewinnen können, aber es reichte für das anwesende Publikum, das zur Zeit recht anspruchslos war. Sie klemmte sich die Harfe zwischen die Knie und griff in die Saiten. Die anderen beschäftigten sich weiter mit ihrer Ausrüstung und auch Esmond streichelte liebevoll seine Axt solange er sie schärfte und überprüfte dann den Zustand seiner Heilkräuter und der Heilelixiere, die er unterwegs gebraut hatte. Zufrieden schlug er alles zusammen wieder in die Tücher und wickelte es zu einer gut gepolsterten Rolle zusammen, die er wieder in einer der Packtaschen verstaute. Pillipa saß noch immer in ihrem Deckenhaufen und betrachtete sich erbost einen ihrer Schuhe.
Karim grinste und flüsterte Sebrina zu: "Darauf hab ich schon länger gewartet. Die beiden haben hübsche, aber nicht sehr haltbare Schuhe aus dünnem Leder..."
Er wurde unterbrochen von Pillipas Gezeter, als sie den Schuh wütend zu Boden warf und schimpfte. Betroffen besah sich nun ihre Schwester ihre eigenen Schuhe und ihre Augen wurden erst groß, dann langsam feucht. Sie begann nun ihrerseits weinend zu schimpfen. Sebrina besah sich den weggeworfenen Schuh und schüttelte besorgt den Kopf. Das feine Leder war zerrissen und die Sohle hatte sich in der Nässe scheinbar aufgelöst. Der eine Schuh war nicht einmal als dünne lederne Socke mehr zu gebrauchen. Lura schluchzte: "Was sollen wir denn bloß tun? Hier kann man doch nirgends neue Schuhe bekommen..."
Esmond sah grinsend auf und meinte: "Na dann müsst ihr euch abwechselnd tragen und die untere bekommt die beiden ganzen Schuhe."
Karim lachte und hieb in die gleiche Kerbe: "Tja, oder ihr hüpft auf einem Bein bis die Schuhe ganz abfallen, und dann müsst ihr auf den Händen laufen."
Sebrina fand es nicht halb so lustig wie es die Männer offenbar fanden. Was sollte denn mit den Mädchen geschehen? Sie konnten doch nicht barfuß durch die Wildnis wandern. Sie knurrte die beiden an: "Das ist nicht witzig, die Mädchen holen sich den Tod, wenn sie keine Schuhe haben, und ihr lacht sie noch aus."
"Den Tod?" Die Zwillinge starrten Sebrina an und begannen gleichzeitig zu weinen. Sebrina schüttelte verzweifelt den Kopf.
Esmond grinste noch immer und lästerte weiter: "Tja, vielleicht kümmern sich die Damen in nächster Zeit etwas frühzeitiger um ihre Ausrüstung..."
Karim fuhr fort: "Ja, sonst fällt euch bald die Kleidung vom Leib!"
Seba fauchte: "Das ist ungerecht, sie haben sich um ihre Ausrüstung gekümmert und ihre Kleider sind in besserem Zustand als eure."
Warn trat zur Höhle herein und sah sich die seltsame Szene an. Karim kicherte und sagte: "Sie haben irgendwie ihre Prioritäten falsch gesetzt und nun sind sie die best angezogenen barfußigen Abenteurer der gesamten Nurnauen."
Die Mädchen weinten nur noch mehr und schluchzten zum Herzerweichen. Seba war kurz davor die beiden Männer anzubrüllen als diese ihr zublinzelten und beide ein Paar selbst gefertigte Schuhe aus ihren Rucksäcken zauberten.
Karim flüsterte ihr zu: "Wir haben schon vor ner ganzen Weile gemerkt, dass ihre Schuhe nicht mehr lange halten. Warn hat uns das Leder gemacht und wir, ich und Esmond, haben die Schuhe genäht. Immer während unseren Wachestunden... Sie sind nicht schön, aber sie werden ihren Zweck erfüllen. Wir wollten die Mädchen doch bloß n’bisschen aufziehen."
Sebrina starrte die beiden ungläubig an und schüttelte dann nur den Kopf, während sie sagte: "Und anstatt den beiden zu sagen, dass ihre Schuhe aus dem Leim gehen, habt ihr einfach welche gemacht, nur um sie zu ärgern?"
"Ach was ärgern, das war doch nur ne Zugabe. Uns war doch klar, dass sie ohne Schuhe nicht weiter kommen konnten. An Esmond ist ein Schuhmacher verloren gegangen."
Der Genannte grinste und erklärte: "Mein Onkel war Schuster, bei ihm war ich oft zu Besuch und hab ihm zugeschaut. Das sind aber meine ersten selbst gemachten."
Die Zwillinge hatten vor lauter Weinen überhaupt nichts von alledem mitbekommen, sie saßen noch immer da und starrten ihre zerschlissenen Schuhchen an. Sebrina beobachtete wie die beiden Männer die Schuhe mit kleinen Eingewickelten Küchlein und Früchten füllten, die sie zusammengespart hatten, und wie sie sich freuten, wie die Kinder auf die Gesichter der Mädchen. Trotz ihres anfänglichen Ärgers musste sie über die beiden Älteren lachen. Jetzt wo es soweit war und sie nicht mehr mit ihren Unverschämtheiten kommen konnten, schienen sie sich nicht zu trauen und einer den anderen vor zu schieben. Sebrina sah lachend zu Warn und der schüttelte nur ungläubig den Kopf. Er trat vor, nahm den verdutzten Männern die vier Stiefelchen aus den Händen und kniete sich zu den Mädchen hin.
"Pillipa. Lura. Jetzt hört mal auf zu weinen. Die beidn habn euch doch nur veräpplt. Schaut mal! Sie habn sogar schon versucht euch neue Schuhe zu machn, weil sie bemerkt habn, dass eure alten nicht mehr lang lebn."
Die Mädchen sahen ihn mit roten Augen aus tränenfeuchten Gesichtern an, dann starrten sie auf die Schuhe.
"Seht, sie haben sogar extra für euch ein paar Kuchen aufgehoben und kleine Äpfel gesammelt!"
Noch immer starrten sie die Schuhe an und rührten  sich nicht.
"Wollt ihr die Schuhe nicht auslehrn und sie probiern?"
Mechanisch griffen sie nach den Stiefeln und kippten den Inhalt vorsichtig auf ihre Decken und als sie überprüft hatten, ob wirklich nichts mehr drin war, schlüpften sie hinein. Sehr zur Verwunderung von Sebrina passten sie tatsächlich. Sie saßen nicht sehr gut und waren auch nicht besonders schön, aber sie würden als Schuhe ausreichen. Die Mädchen sprangen auf und umarmten die beiden großen Männer. Sie weinten schon wieder was vor allem Esmond sehr verwirrte. Sebrina konnte ihn aber beruhigen, das sei ganz normal bei Mädchen.
Karim strahlte breit und verkündete: "Das ist, weil ihr uns immer so gut bekocht habt und... und... und einfach so halt!" stammelte er herum, dann wurde er rot und verdrückte sich zu den Tieren.
Sebrina wunderte sich doch sehr über ihren Hauptmann, war er doch so dagegen gewesen, dass die Zwillinge mitkamen. Nun, sie selbst ja auch, aber das spielte ja keine Rolle. Sie beobachtete wie Warn die alten Stiefel aufsammelte, sie kurz ansah und dann in einer seiner Satteltaschen verstaute. Als er ihren Blick bemerkte, sagte er grinsend: "Leder wächst nicht auf Bäumen und das kann man vielleicht noch mal brauchen."
Sebrina seufzte und betrachtete, etwas außen vor, ihre Fünf wie sie miteinander feierten, dann starrte sie wieder auf den braunen Fluss. Es war etwas klarer geworden und man konnte durch den noch immer dichten Regen nun auch die andere Seite des Tales erkennen. Sie erstarrte und rief leise: "Warn!"
Der fragte über die Schulter: "Was gibt’s n’?"
"Komm mal bitte!"
Warn seufzte tief als er sich erhob und hertrottete. "Was is n’ los, hast du Wasser gesehn?"
Sie blitzte ihn an. "Ha, ha! Sehr komisch. Findest du das da am anderen Ufer auch so lustig?"
Sie deutete auf das, was sie entdeckt hatte.
Warn erstarrte und zischte: "Verdammt, s’war auch zu lang ruhig. Sieht nach Orks aus. Mindestens zehn. Bloß gut, dass die da drübn sind. Der Fluss is nich passierbar im Moment."
Am anderen Ufer zog eine Gruppe bewaffneter Orks entlang. Scheinbar waren sie von diesen nicht bemerkt worden, aber Warn und Sebrina zogen sich doch weiter ins Innere der Höhle zurück.

Am nächsten Morgen schien es erst etwas aufzuklaren, aber als sie dann losgewandert waren, hatte es wieder zu schütten begonnen. Sie waren alle durchnässt und nur froh, dass es wenigstens nicht sehr kalt war.
Immer weiter folgten sie dem Bachlauf, und immer schmaler wurde das Tal und der Bach. Nach zwei Tagen hatte es etwas aufgeklart, und die Sicht war etwas besser geworden. Jedoch hatten sie dadurch nur erkannt, dass ihr Bachlauf in einiger Entfernung beendet war. Sie erreichten bald den Ursprung ihres Wasserlaufes und somit das Ende des Tales. Es war allen klar, dass sie versuchen mussten über den Sattel zu gelangen und zu hoffen auf der anderen Seite auf ein Tal zu stoßen, das in ihre Richtung weiter führte. Mühsam kämpften sie sich die Hänge hinauf, die zwar nicht sehr steil, dafür aber nass und glitschig waren. Immer wieder gab der Boden unter ihnen nach und eine kleine Geröll- oder Erdlawine rutschte davon. Je näher sie dem erhofften Pass kamen, desto deutlicher konnten sie die Schneefelder erkennen. Hatten sie anfangs gehofft sich zwischen diesen hindurch mogeln zu können, so mussten sie nun erkennen, dass sie mitten durch sie hindurch mussten. Zumindest mussten sie nicht über die Nordflanke steigen, dort wäre es wahrscheinlich unmöglich gewesen durch das tiefe Weiß zu kommen. Noch eine letzte Übernachtung, bevor sie den Kamm in Angriff nehmen wollten. Alles war klamm und feucht. Keinem wollte es so recht gelingen einen erholsamen Schlaf zu finden, zumal ihr Rastplatz aus einem großen, überhängenden Felsen bestand, der vor dem rauen Wind kaum etwas bot, was die Bezeichnung Schutz verdiente.
So machten sie sich durchgefroren und bar jeder guten Laune am Morgen auf den Weg, die letzte Hürde zu nehmen. Die Sicht wurde zusehends schlechter, je höher sie kamen. Nebelfetzen und Wolken wurden ihnen von einem strammen Nordwind um die Ohren gefetzt. Finger und Zehen waren steif und kalt. Ihre Stiefel innen so nass wie außen. Keiner ließ auch nur einen Ton hören auf dem gesamten Aufstieg. Plötzlich gegen Mittag wurde der Nebel über ihnen heller und nur wenige Höhenmeter später durchbrachen sie die Wolkendecke und stiegen hinein in einen strahlenden Sonnentag im Gebirge. Schneefelder blinkten und blendeten von den hohen Gipfeln und Graten um sie her. Schroffe Massive erhoben sich im Süden und überragten alles Land. Die Wanderer verharrten ehrfürchtig vor diesen steinernen Giganten, die aus der dichten Wolkenschicht unter ihnen ragten. Sebrina schaute zu dem Mädchen, die mit offenen Mündern dastanden und staunten. Als sie eine spitze Bemerkung machen wollte, bemerkte sie erst, dass auch ihr Mund offen stand. Noch etwa eine halbe Stunde steiler Aufstieg lag vor ihnen, dann standen sie auf dem höchsten Punkt des Passes und sahen hinüber auf die andere Seite. Ein breiter Kessel öffnete sich dort und fiel sanft nach Osten hin ab. Zahlreiche Bäche und Rinnsale rannen und plätscherten dem Hauptarm zu. Von den steilen Wänden im Norden und Süden rauschten Wasserfälle herab und sorgten für reichlich Dunst in der hier klaren Luft. Die Wolken blieben offenbar an den Bergen hinter ihnen hängen. Die Sonne ließ die vielen Wasserfälle glitzern und leuchtete auf den nassen Felsen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, das sich den Wandrern bot. Kurzentschlossen machten sie hier auf dem Sattel Rast und genossen die Aussicht, bevor sie sich dann vorsichtig an den Abstieg wagten.
Die nächsten Tage waren sonnig und warm und die Wanderung ging mit guter Laune flott voran. Der Bach wurde zum Fluss, jedoch bog er immer weiter nach norden ab und floss schließlich direkt dort hin. Die Freunde berieten und beschlossen, eines der nächsten Seitentäler nach Osten zu nehmen, auch auf die Gefahr hin, wieder über die Berge zu müssen.
Schließlich stießen sie auf einen Fluss, der nahezu ebenso breit war wie der, dem sie gerade folgten. Der Zusammenfluss war spektakulär. Ihr seitheriger Wasserlauf war tief grün, derjenige, der nun von rechts hereinmündete, war blaugrau und milchig. Das Wasser traf mit Wucht aufeinender und bildete große Wirbel, die teils grün und teils milchig waren. Von ihrem erhöhten Standort aus konnten sie erkennen, dass sich große Teile des Wassers noch auf einer sehr lange Strecke nicht vermischten, sondern grün und milchig nebeneinander her flossen. Das Wasser des neuen Flusses war wesentlich kälter als das des ihren, trotzdem beschlossen sie dort hinauf zu wandern. An der Mündung rasteten sie noch einmal, dann am nächsten Morgen begannen sie diesen neuren Abschnitt ihrer Wanderung. Es gab hier mehr Wild und viele Rastmöglichkeiten, jedoch wurde das Wetter wieder schlechter und somit auch die Stimmung. So vergingen mehrere eher ereignislose Tage.
 

© Knuddeldrache
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