Nun klopf schon an, drängte Dechesty sich in Akiras
Gedanken. Akira zögerte noch einen Moment, dann klopfte sie an. "Komm
herein", hörte sie Merlins Stimme von drinnen und betrat den Raum.
Merlin saß an seinem Schreibtisch, der vor einem großen
Fenster stand. Rechts und links an den Wänden standen hohe Regale,
die mit Büchern und Pergamentrollen vollgestopft waren.
Auf dem Boden lag ein altmodischer Fransenteppich und an der Decke
hing ein Kronleuchter aus Glas.
Als Akira die Tür hinter sich geschlossen hatte, wies Merlin
sie an, Platz zu nehmen. Akira setzte sich Merlin gegenüber auf den
Stuhl und wartete. Eine ganze Weile saß Merlin einfach da und sah
sie an. Dann seufzte er und schob einen Umschlag über den Tisch in
Akiras Richtung. "Ich möchte, dass du das hier liest", sagte er. Mit
klopfendem Herzen nahm Akira den Umschlag in die Hand und musterte ihn.
Es war der Brief, den sie Merlin heute Mittag gegeben hatte. Sie öffnete
den Umschlag und zog ein Blatt Pergament heraus. Es war eine kurze Nachricht:
Lieber Merlin,
die Lage ist ernst. Die Herrin der Schattengreife hat den Schutzstein
gestohlen. Schon lange habe ich vermutet, dass Esmira irgendetwas vorhat,
ihre Schattengreife, die durchs Land streifen, sind in den letzten Jahren
immer zahlreicher geworden. Nun, jetzt weiß ich es.
Ich bitte sie, helfen sie uns!
König Daros
Akira ließ den Brief sinken und sah Merlin entsetzt an. "Aber
das heißt ja, dass die Welt in Dunkelheit versinken wird", sagte
sie. Merlin nickte. "Wenn nicht schnell etwas unternommen wird", erwiderte
Merlin, "hör zu. Der Schutzstein beschützt die Erde vor dem Bösen.
Dieser Stein befindet sich normalerweise in einer versteckten Höhle,
wo er in die Felswand eingelassen ist, wird er daraus entfernt, versinkt
die Welt, wie du schon sagtest, in Dunkelheit. Es gibt eine Möglichkeit
dies zu verhindern. Jemand müsste den Stein von Esmira zurückholen.
Allerdings weiß niemand, wo ihre Festung steht.
Der König will anscheinend, dass ich derjenige bin, der das
tut. Aber ich fürchte, ich bin zu alt für ein solches Unternehmen...!"
"Kein Problem, Dechesty und ich können das übernehmen",
warf Akira ein.
Hey, ich möchte wenigstens gefragt werden, empörte
sich Dechesty.
Keine Sorge, antwortete Akira, das hätte ich noch
getan.
Aber wahrscheinlich erst, nachdem alles geklärt wäre
und es kein zurück mehr gäbe.
Würdest du denn mitkommen?
Was bleibt mir andres übrig? Irgendwer muss ja auf dich
aufpassen.
Darauf antwortete Akira lieber nicht und wandte sich stattdessen
wieder an Merlin: "Wann sollen wir aufbrechen?" "Ich halte das für
keine gute Idee", meinte Merlin, "aber uns bleibt keine andere Wahl. Keiner
meiner Schüler ist gut genug um es mit Esmira aufzunehmen." "Dechesty
und ich schaffen das schon", meinte Akira schnell und lächelte Merlin
an. Dieser konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: "Also gut", sagte
er, "dann soll es so sein. Du kannst morgen aufbrechen, um Proviant kümmere
ich mich." "Super", rief Akira und stand auf, "kann ich gehen, ich muss
ein paar Sachen zusammen packen." Merlin nickte und sie verließ das
Zimmer.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer summte sie vor sich hin, bis Dechesty
sie unterbrach: Ich hoffe du weißt, auf was du dich da eingelassen
hast. Esmira soll eine der größten Magierinnen sein, also freu
dich nicht zu früh.
Ach was, so gut ist die auch nicht, meinte Akira.
Da wäre ich mir nicht so sicher.
Musst du immer alles mies machen? Freu dich, das ist unser erster
großer Auftrag oder willst du lieber weiterhin Postbote spielen?
Das ist unsere Chance, endlich mal ein Abenteuer zu erleben.
Stimmt, und wenn du dich nicht zusammenreißt, wird es gleichzeitig
unser letztes sein.
Ach hör schon auf. Darf man sich nicht einmal mehr freuen?
Klar, aber ich würde mit ein bisschen mehr Ernst an die
Sache rangehen.
Du kennst mich doch, wenn es losgeht bin ich immer ernst und
bei der Sache.
Darauf gab Dechesty keine Antwort und wenig später stand Akira
vor ihrer Zimmertür.
Als sie das Zimmer betrat, merkte sie gleich, dass jemand da gewesen
war. Das Bett war gemacht und das Fenster geöffnet worden. Auf dem
Stuhl lag ein leerer Lederbeutel und von draußen drangen die Stimmen
der anderen Schüler und Schülerinnen herein. Akira nahm den Beutel
und legte ihn aufs Bett. Dann nahm sie ihre Rüstung und ihr Schwert
aus dem Schrank und breitete sie ebenfalls auf dem Bett aus. Prüfend
schaute sie sich ihre Sachen an und verließ den Raum. Sie würde
sich einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen aus der Waffenkammer
besorgen, damit sie auch eine Waffe für den Fernkampf dabei hatte.
Als sie das Hauptgebäude verließ kamen ihr zwei Mädchen
entgegen. Das Rechte hatte kurze rote Haare, die wild in alle Richtungen
vom Kopf abstanden, und braune Augen. Es war genauso groß wie Akira
und hatte eine schlanke Figur. Das Linke war etwas kleiner, dafür
stämmiger gebaut als Akira. Es hatte ihre langen blonden Haare, die
im Licht der Lampen, die zur Beleuchtung an der Hauswand hingen, golden
schimmerten, hinten zu einem Zopf gebunden. In ihren blauen Augen blitzte
der Schalk. Beide trugen, genau wie Akira, die Schuluniform.
"Hi, Akira! Wie geht’s?", begrüßten sie Akira und umarmten
sie. Die Beiden, sie hießen Salena und Sarah, waren 15 Jahre alt
und würden im Sommer die Schule verlassen. Sie hatten zusammen eine
schöne Schulzeit hinter sich und waren die besten Freundinnen.
"Mir geht’s prima", sagte Akira. "Was machst du hier? Ich dachte
du wärst am Hof des Königs angestellt", fragte Salena neugierig
und auch Sarah schaute sie erwartungsvoll an. "Ich habe Meister Merlin
einen Brief vom König überbracht", antwortete Akira. "Muss ja
etwas wirklich wichtiges sein", meinte Sarah gespannt, "sonst hätte
er Merlin nicht informiert. Weißt du, um was es geht?" Akira nickte.
"Ich muss noch etwas besorgen, wir treffen uns in meinem Zimmer. Da können
wir reden", sagte sie und setzte sich wieder in Bewegung.
Als sie mit einem Kurzbogen der Elfen und einem Köcher voller
Pfeilen ins Zimmer trat, sahen Salena und Sarah sie überrascht an.
"Was willst du mit dem Bogen? Und wozu hast du deine Rüstung auf dem
Bett liegen", fing Sarah gleich an. "Immer mit der Ruhe, wenn ich euch
gesagt habe, was in dem Brief stand, werdet ihr von allein drauf kommen",
sagte Akira. Sie machte eine kleine Pause bevor sie fortfuhr: "Also, der
Schutzstein ist gestohlen worden! Ihr wisst ja wohl, was das bedeutet!"
Die entsetzten Gesichtsausdrücke ihrer Freundinnen waren Antwort genug.
"Der König möchte, dass Merlin ihn zurückholt, aber Merlin
sagt, er sei zu alt dafür", sagte Akira, "also hab ich mich bereit
erklärt den Stein zurückzuholen..." "Du", unterbrach Salena,
"weißt du auch, auf was du dich da eingelassen hast? Du könntest
bei dem Unternehmen sterben!" "Jetzt wiederhol nicht das, was Dechesty
mir auch schon gesagt hat", fuhr Akira sie wütend an, "ich weiß
genau, auf was ich mich da eingelassen habe, klar? Außerdem irgendwer
muss es ja tun!" "Ist ja gut, Salena hat es nicht so gemeint", versuchte
Sarah zu beschwichtigen. "Tut mir Leid, Akira. Ich hab nur Angst um dich",
entschuldigte sich Salena. "Schon gut, ich kriege auch ein mulmiges Gefühl
im Magen, wenn ich daran denke Esmira zu suchen und in ihre Festung einzudringen",
meinte Akira und die Beiden lächelten sich versöhnlich an. Da
meldete Sarah sich wieder zu Wort: "Weißt du schon, wo du anfangen
willst zu suchen? Ich meine bis jetzt weiß doch niemand wo die Herrin
der Schattengreife sich aufhält, oder?" "Stimmt", antwortete Akira,
"ich werde wohl als erstes die Elfen fragen. Wenn die keine Vermutung haben,
dann muss ich mir etwas einfallen lassen." "Aber die Elfen sind erstens
am anderen Ende des Königreiches und zweiten Fremden gegenüber
misstrauisch", sagte Sarah, "und wo du doch keine ganze Elfe bist..." "Da
hab ich auch schon drüber nachgedacht", meinte Akira achselzuckend,
"aber ich kann doch auch nichts dafür, dass meine Mutter eine Wolfsfrau
war."
Wolfsfrauen, so nannte man die Weiblichen Wolfsmenschen.
Das waren Menschen, die sich vor fünftausend Jahren mit Wölfen
gepaart hatten. Daraus entstand eine Menschenrasse, die die Eigenschaften
eines Wolfes hatte und sich, wenn nötig, in einen Wolf verwandeln
konnten.
Akira, die ja nur zur Hälfte ein Wolfsmensch war, konnte dies
allerdings nicht. Dafür waren ihre Sinne schärfer als bei einem
normalen Menschen oder Elf, auch die scharfen Eckzähne hatte sie von
ihrer Mutter geerbt.
"Die Elfen werden dir schon zuhören", meinte Salena, doch es
klang nicht überzeugend, "Du schaffst das schon." "Und wenn sie es
nicht schafft?", fragte Sarah, "wenn sie von Esmira getötet wird?"
Salena sah Sarah erschreckt an: "Hör zu, Akira schafft das. Sie ist
die beste Drachenreiterin, die es gibt, wenn einer es schafft, dann sie",
sagte Salena beschwörend. Akira lächelte schwach: "Danke, dass
du an mich glaubst", sagte sie, "ich weiß, dass ich nicht scheitern
werde. Außerdem bin ich ja nicht allein, schließlich kommt
Dechesty auch mit. Und jetzt lasst uns von was anderem reden, sonst lass
ich mich von euch noch überzeugen, dass ich es wirklich nicht schaffe!"
Die Mädchen quatschten noch eine Weile über die Sachen,
die sie zusammen erlebt hatten und wie es ihnen in letzter Zeit so ergangen
war, dann gingen Salena und Sarah auf ihre Zimmer. Akira zog sich ein weißes
Nachthemd an und legte sich ins Bett. Sie wünschte Dechesty eine gute
Nacht und war kurz darauf auch schon eingeschlafen.
© Dragonmaid
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