"Zoran!" Einer der Generäle und der Befehlshaber
während des Beutezugs in Teras Andum rannte bestürzt zu dem alten
Veteranen, der von einem Pfeil durch den schon schwer geschädigten
Brustpanzer hindurch mitten ins Herz getroffen worden war. Zoran hatte
sich auf den schon über und über mit Leichen armseliger Gefallener
gezehrten Boden fallen lassen. Rasch zog der Befehlshaber den Pfeil aus
Zorans Fleisch. Dabei blieb die eiserne Spitze in der blutüberlaufenen
Wunde stecken. Der Veteran lechzte nach Luft. Traurig beugte sich der Befehlshaber
über den Sterbenden.
"Zoran Vieotan, nicht auch noch Ihr. Wir missen
schon die Hälfte unserer Veteranen. Gebt nicht auf! Wir sind so gut
wie fertig. Ihr dürft jetzt einfach nicht aufgeben! Die Gilde braucht
Euch..." Schweigsam drehte er den Kopf Richtung Imogen, die zusammen mit
einigen anderen Dieben einen Andumir überwältigte. "...und Eure
Kinder ebenfalls."
Zoran blinzelte müde auf. Ein sanftes
Lächeln, vielleicht auch ein Schmunzeln wanderte über seine kantigen
harten Gesichtszüge. Dann verformte sich sein Gesichtsausdruck zu
einer ernsten und entschlossenen Miene.
"Passt... auf die... Beiden auf! Bitte! Sie
sind noch so junge und unerfahrene Kinder", presste Zoran über seine
blutverkrusteten Lippen.
"Eure Kinder Vieotan, Eure Kinder." Der Befehlshaber
entnahm dem Faltendurchfurchten vernarbten Gesicht des alten Mannes ein
weiteres Lächeln.
"Meine Kinder." Zorans Stimme klang schwach
und stockend. Trotzdem konnte man unschwer erkennen, welch Stärke
und Vitalität sie einst geborgen haben musste. Die Jugend war schon
längst von ihm gewichen, doch hatte seine kräftige Stimme immer
noch hallend in den Ohren seiner Zuhörer echot, wenn sie gebraucht
worden war. Der Befehlshaber Wai Lonn kniete sich auf den Blut gesprenkelten
Boden hinunter und erfasste die derbe raue Hand des Mannes.
"Ihr habt Taron und seiner Gilde seit Ihr
lebt tatkräftig und loyal gedient. Nie kamt Ihr, um Euch einen Generalsrang
zu erbeten, obwohl Euer Können und Wissen dafür schon seit Jahren
tragfähig gewesen wäre. Ihr wärt es längst wert gewesen,
in die Fußstapfen mächtiger Würdenträger der Gilde
zu treten, doch habt Ihr es nie gewollt und dankbar abgewinkt. Ihr habt
für die Gilde Euer Leben aufs Spiel gesetzt und nun seid Ihr am Zug
es zu opfern. Man kann Euch nur bewundern. Ich werde... ich schwöre
beim Licht der Sonne, dass ich auf Eure Kinder achten werde und sie versorge,
bis sie es nicht mehr notwendig haben." Zoran schloss die Augen.
Einen Moment blieb Wai Lonn neben dem Toten
sitzen. Zur gleichen Zeit fiel der letzte Angreifer der Andumir. Eine ungewohnte
Stille breitete sich auf der zum Schlachtfeld missbrauchten Straße
der Stadt aus. Wai Lonn sah auf zu dem durch Rauch verdeckten Nachthimmel.
Langsam erhob er sich und ließ seinen Blick unberührt über
das Feld der Toten schweifen. Seine Gedanken hingen an Zoran.
Plötzlich wurde er aus seinen Trauergedanken
gerissen. Kämpfer vom Ablenkungsmanöver kamen die Straße
eilends herunter gelaufen.
"Lonn, schnell, die Kanäle!"
"Wieso, was ist los? Wir haben alle hier postiert
gewesene Andumir geschlagen. Das Feuer hat jedweden Lebenshauch aus den
hiesigen Bewohnern der Stadt geblasen. Wovor sollten wir so Hals über
Kopf flüchten?", gab Lonn irritiert zurück, während er die
zerfetzten Kampfmonturen betrachtete. Er fragte sich, wie sie das Ablenkungsmanöver
wohl ausgefochten hatten.
"Auf! Beeilt Euch! Setzt Eure Leute in Bewegung!
Die Verstärkung der Andumir ist hinter uns her."
"Ihr habt sie hergelockt?" Lonn konnte den
Unverstand Sotal Nimbuns, des Befehlshabers des Ablenkungsmanövers,
nicht fassen. Dieser schüttelte verzweifelt den Kopf, wobei ihm seine
blonden Haare ins Gesicht fielen.
"Wir konnten es nicht verhindern. Sie fielen
so schnell ein, durchbrachen unsere Truppe und haben uns von den äußeren
Kämpfern abgeschnitten. Wir hatten keine andere Wahl, wir waren zu
wenige und mussten versuchen uns ins Stadtinnere zurückzuziehen. Da
trafen wir auf die anrückende Verstärkung der Andumir und die
ist nun auf dem Weg hierher. Es lag nicht an uns. Irgendetwas muss von
euch zu den Andumir in ihrem Quartier durchgesickert sein. Andernfalls
wäre es natürlich nicht unmöglich, dass sie uns gesehen
haben..."
"Was musstet ihr auch so dicht an den Quartieren
vorbei spazieren? Ihr hättet euch doch vorstellen können, was
geschieht, sobald euch die Andumir entdecken."
"Ja schon. Aber wir hatten den schnellsten
Weg zu euch gewählt und der führte nun einmal unvermeidbar dort
vorbei. Außerdem: wer sagte, dass überhaupt noch Verstärkung
vonseiten der Stadtwachen zu erwarten war?"
Wai Lonn war an seiner Grenze angelangt.
"Falls sie wirklich nur wegen euch kommen,
wisst ihr was uns blüht, wenn sie erfahren, was hier inzwischen geschehen
ist. Die schicken doch alle ihre entbehrlichen Leute hierher, um unseren
wunden Punkt zu treffen. Wir können die gesamte eingetriebene Beute
vergessen, wenn wir uns noch eine Großschlacht mit allen Stadtwachen
liefern sollen."
Nimbun nickte einsichtig mit dem Kopf.
"Selbstverständlich habt Ihr Recht, Lonn.
Aber jetzt können wir nichts anderes mehr tun, als schnellstmöglich
von hier zu verschwinden. Übrigens, sehr viel länger hätte
der Trick sowieso nicht funktioniert. Der rote Hahn ist schon fünfzig
Meter von hier deutlich sichtbar. Die Andumir wären sowieso bald angerückt."
"Vielleicht wären wir dann allerdings
schon von uns aus so weit gewesen, dass wir verduftet wären." Lonn
sog etwas von der rauchigen Nachtluft ein. "Zu den Kanälen, Nimbun.
Zu den Kanälen! Ruft zum Rückzug! Jeder soll soviel er tragen
und schleppen kann nehmen und damit schnellstmöglich zu den Kanälen
rennen. Hoffen wir, dass uns die Zeit nicht davonläuft."
Damit wandte Lonn sich von Nimbun und seinen
Männern ab. Wütend ballte er die Fäuste. Es geschah gar
nicht nach Plan.
* * *
Imogen steckte die Goldmünzen und Silbergroschen
des toten Andumir in ihren Beutel. Bei dem Klimpern des Geldes dachte sie
schon an die gierigen Gesichter der anderen Diebe, die nicht beim Beutezug
dabei waren. Rasch verschloss sie den Beutel mit einem Lederriemen, da
ertönte die Stimme Sotal Nimbuns, der das Ablenkungsmanöver zu
befehligen gehabt hatte. Imogen hatte sich offenbar nicht getäuscht.
Der blondhaarige breitschultrige Mann stand unweit von ihr und gestikulierte
wild mit den Armen, während er immer wieder laut "Zu den Kanälen!"
schrie.
Nimbun, hier?, wunderte sie sich. Dennoch
folgte sie dem Aufruf zum Rückzug. Gleichzeitig spähte sie nach
Zoran und Riyonn - erfolglos. Als sie ihren Blick gerade hastig umherschweifen
ließ, bemerkte sie den Mann vor sich nicht und prallte prompt gegen
ihn.
"Oh... entschuldige ich... General Lonn?"
Imogen trat eilends einen Schritt zurück, bevor sie Lonn ins Gesicht
blickte. "Vergessen wir den Zusammenstoß." Wai Lonn setzte ein sanftes
Lächeln auf und musterte das rotbraunhaarige bildhübsche Mädchen.
"Du hast nicht zufällig deinen Bruder
Riyonn irgendwo gesehen, Kleines?" Verwirrt starrte Imogen in die sie freundlich
anlächelnden schwarzbraunen Augen Lonns.
"Nein, ich halte ja eben selbst nach ihm und
meinem Vater Ausschau. Ich dachte sie seien hier... irgendwo. Ich habe
Riyonn seit der Zündung der Sprengkästen nicht mehr gesehen.
Aber er wird schon hier in der Nähe stecken... und Zoran auch, nicht?"
Wai Lonn öffnete den Mund um etwas zu
sagen, besann sich aber um dazu, ihn wieder zu schließen. Er meinte
einen großen Kloß im Hals stecken zu haben.
"Imogen... ich glaube nicht, dass du Zoran
Vieotan hier finden wirst... zumindest nicht..."
"Was meint Ihr damit? Er ist doch nicht etwa..."
Lonn sah ihr, unfähig ihr zu antworten, in die ebenso rotbraun wie
die Haare, im Mondenschein glänzenden Augen. Imogen drehte ihren Kopf
zur Seite. Als sie wieder nach vorn blickte, konnte sie ihre Trauer nicht
länger verbergen und Tränen schossen ihr in die Augen. Lonn,
eigentlich gerade einmal drei Jahre älter als sie, klopfte ihr ermutigend
auf die Schulter.
"Wer weiß, vielleicht... vielleicht
war es auch einfach an der Zeit für ihn", versuchte er sie zu trösten.
Imogen zog die Augenbrauen herunter.
"Von wegen. Er war ja erst sechzig. Und wenn
Riyonn auch nicht auffindbar ist... nein!" Imogen erstarrte. Ihre Gedanken
rasten wild durcheinander. Was sollte sie nun tun? Von einem Augenblick
auf den nächsten war sie eine Waise geworden. Falls man Riyonn nicht
mehr fände, wäre sie zusätzlich noch geschwisterlos. Wai
Lonn wollte Imogen bei der Hand nehmen und sie mit sich zu den Kanälen
ziehen, doch Imogen entriss sich seinem Griff.
"Er muss hier sein. Ich werde ihn suchen gehen.
Versucht nicht mich aufzuhalten!" Sie lief zu einem Teil der noch brennenden
Häuser. Erst wagte sie nur einen Blick in die in Flammen stehenden
Gebäude, dann fasste sie sich und ging in eines der Häuser hinein.
"Imogen, tu das nicht! Bleib hier! Du wirst
das nicht überleben!" Lonn eilte ihr hinterher. Trotzig sah ihn Imogen
an.
"Schön. Dann kann man eine hübsche
Familienbestattung machen." Damit wandte sie sich wieder dem Haus zu und
lief auf der eingestürzten Seite des Gebäudes auf eine Gasse
hinaus. Unweit von ihr erstreckte sich eine zu einem Haus gehörende
Wiese, von der allerdings nicht mehr als ein Feuermeer zu erkennen war.
Lonn versuchte das Mädchen einzuholen, doch ihm blieb keine Zeit sich
über ihr schnelles Tempo zu wundern, sonst würde er sie aus den
Augen verlieren. Bald erreichte Imogen die Wiese, stieg über einen
eingestürzten und vom Feuer durchfressenen Holztorbogen, der wohl
zur Eingrenzung der Wiese gehört haben musste, und versuchte über
einen gepflasterten Steinweg den direkten Weg über die Wiese zu vermeiden.
Plötzlich versperrte ihr ein brennender Dachbalken, der von dem Dach
des Hauses vor ihr herab gefallen war, den Durchgang. Dort holte Lonn sie
ein.
"Imogen!" Lonn hustete laut auf, da ihm der
Qualm das Atmen erschwerte. Mit der Hand fuhr er sich die ins Gesicht gefallenen
schwarzen Haare aus der Stirn. Imogen starrte suchend in das Flammenmeer
vor sich.
"Du wirst ihn nicht schnell genug finden.
Imogen! Hör mir doch zu! Ich habe Zoran während seinem Tode versprochen,
auf Riyonn und dich aufzupassen." Imogen schaute immer noch starr in das
tobende Feuer.
"Dann würdet Ihr Euer Versprechen brechen,
wenn Ihr mir jetzt nicht folgt." Imogen sprang von dem Steinweg herunter,
auf dem sie mit Lonn eben noch gestanden hatte. Der verharrte wie angewurzelt
und völlig perplex vor dem Balken.
"Imogen, verdammt! Was hast du vor? Du wirst
da doch nicht etwa hindurch gehen wollen?" Lonn wies auf das Flammenmeer.
Aber das Mädchen schenkte ihm weder Antwort noch Gestik. Erst blickte
Lonn noch unschlüssig auf das sich vor ihm ausbreitende Meer, das
Imogen immer weiter durchschritt.
"Warte!" Schnell sprang er Imogen hinterher,
die ihn kurz dankbar angrinste.
"Ich habe nicht vor, mein Versprechen zu brechen",
meinte Wai Lonn lächelnd und ergriff Imogens Hand. Sie lässt
mir keine Wahl, stöhnte er in Gedanken, während er dem tapferen
Mädchen auf dem Weg in den Kampf mit den Flammen folgte.
* * *
Behände wich Riyonn dem magischen Flammenstrahl
aus, den Don Diaven in seine Richtung spie. Das Feuer verquoll in der düsteren
Leere hinter dem Dieb. Riyonn wagte es nicht anzugreifen. Noch nicht. Der
Dagora wiegte sich in der Unsicherheit Riyonns. Grinsend schleuderte er
aus seinen Händen Flammen nach dem Dieb. Doch weiterhin gewandt wich
dieser den Attacken aus und ließ den Zauber in der endlosen Weite
der Finsternis verglühen. Don Diaven begann sich zu ärgern.
"Bleib doch endlich einmal stehen, du verlauste
Ratte!" Riyonn sah mit verneinendem Blick zu dem sich wieder in der Dunkelheit
getarnten Wesen auf.
"Würde ich das tun, wäre ich bald
so ein Fossil wie du. Unfähig, mich auf einen gerechten Kampf unter
erwachsenen Männern einzulassen, Diaven", machte Riyonn sich über
den Dagora lustig. Der Dämon schnaubte verächtlich. Kühl
meinte er:
"Fossil, Dieb? Ich bin für dich also
nicht mehr als ein eingerostetes veraltetes Fossil, ich, der Herr und Gebieter
über die ewigen Flammen des Bösen. Deinen fairen Kampf kannst
du haben. Obwohl ich dich nicht als erwachsenen Mann bezeichnen würde.
Es wird mir eine reine Freude sein, dir den Odem aus dem Leib zu prügeln.
Du warst mir seit Anfang unserer Unterredung, seit ich von dir weiß,
ein Dorn im Auge gewesen. Doch dieses Spiel hat sich für dich jetzt
ein für alle Mal ausgespielt, mein junger Freund."
"Dorn der Flammen? Flammendorn! Klingt gut
für jemanden, der den Gebieter der Flammen besiegt hat, nicht?" Don
Diaven lächelte ironisch.
"Deine Frechheit wird dir gleich vergehen!"
Riyonn grinste. Er konnte sich den Zorn des Dämons durch die rot glühenden
Augen, die aufzuflackern schienen, leicht vorstellen. Woher er den Mut
dazu aufbrachte, den Dämon dermaßen zu reizen, konnte Riyonn
sich beim besten willen nicht einmal selbst erklären.
Es war eine der vielen Fragen, die unbeantwortet
bleiben musste, wie auch jene Fragen, woher er kam, wer er selbst war.
Diese Fragen lasteten allerdings schon auf Riyonn, seit er denken konnte.
Weder er noch Imogen waren die leiblichen Kinder Zoran Vieotans. Aus diesem
Grund hatten er und Imogen den Beinamen Katapura - Findling - erhalten,
statt wie Zoran auch Vieotan zu heißen. Doch Imogen war nicht einmal
seine richtige Schwester. Aber er konnte sich genauso wenig wie Imogen
daran erinnern, durch wen er das Licht der Welt erblickt hatte, wie und
warum er bei Zoran gelandet war. All das hatte ihm sein Vater trotz ständigem
Bitten nie erzählt, sofern er es konnte, nur soviel, dass Zoran nicht
sein wahrer Vater und Imogen nicht seine wahre Schwester waren. Es bereitete
Riyonn oft Kummer, so wenig über sich selbst und seine Vergangenheit
zu wissen. Unwissentlich woher sie gekommen waren hatten er und Imogen
eine harte und entbehrungsreiche Kindheit in der Diebesstadt Revol Taron
hinter sich, hungernd und unter schweren Unterweisungen in den Künsten
des Kämpfens mit dem Kampfsäbel, des Bogenschießens und
der Ausbildung aller diebischen Fähigkeiten, hatten sie beim Aufbau
einer von der Außenwelt größtenteils unabhängigen
Stadt geholfen, bis diese in der Lage gewesen war, sich allein durch ständige
Überfälle auf die umliegenden Städte zu versorgen. Die Schmerzen
seines Unwissens und seiner ewigen Unsicherheit hatten Riyonn zu einem
stillen, in sich selbst zurückgezogen lebenden jungen Mann gemacht,
weshalb er sich sein Verhalten gegenüber Don Diaven nur noch schwerer
erklären konnte. Das einzige Wort, an das er sich erinnern konnte,
welches vermutlich von seinen Eltern ausgesprochen worden war, lautete:
"Ziany."
Wahrscheinlich war es ein Name.
Auf einmal fühlte sich Riyonn, als sei
die Zeit durch seine Gedanken gestoppt worden. Jeder Schritt weiter, den
seine Gedanken in die am tiefsten verborgen liegenden Erinnerungen in sich
selbst machte, desto weiter fühlte Riyonn sich weggezogen vom Jetzt.
Alleingang der Gedanken. Ehe die schemenhafte Gestalt des Dämon Don
Diaven aus seinem Blickfeld verschwand, packte ihn eine plötzliche
Angst, er könnte seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle halten,
die ihn dazu trieb, sich am letzten Zipfel des Jetzt festzuklammern, um
sich zurückzuziehen. Langsam verfestigte sich das Bild von Don Diaven
vor seinen Augen wieder. Stockend begann der Dämon eine Bewegung zu
vollführen. Riyonn spürte einen Schatten um sich, der ihn zu
umschlingen und nicht freigeben zu wollen schien. Mit Leibeskräften
riss Riyonn sich aus der kalten Umschlingung.
"Was um alles in der Welt ist das?"
Erschrocken fand Riyonn sich wieder umgeben
vom puren Nichts. Er erblickte weder die Dunkelheit noch den Dämonen.
Das Nichts, in dem er sich befand, zeigte keine Farben, keinen Ausweg.
In Riyonns Kopf schwirrten sämtliche Gedanken umher. Beklemmende Stille
wollte ihn in ihrer Kälte erdrücken. Rechtzeitig, bevor er von
der Kälte erstarren würde, versuchte Riyonn seine Gedanken zu
ordnen.
"Wo bist du, Don Diaven?" Verwirrt und wie
erblindet tastete er um sich. Verzweifelt senkte er den Kopf und starrte
ins Leere. Da öffneten sich vor seinen Augen zwei Tore. Eines rot
und eines schwarz. Unentschlossen, welches er wählen sollte, steuerte
Riyonn unbewusst das schwarze an. Als er hindurch getreten war, begann
er zu fallen. Er fiel und fiel, schließlich verschwamm das bildlose
Nichts wieder vor ihm und Dunkelheit legte sich um ihn. Erstaunt sah er
die ihn, ebenso überrascht wie er selbst war, anstarrenden Augen Don
Diavens.
"Was ist geschehen?", stammelte Riyonn und
rieb sich den schmerzenden Schädel. Don Diaven blieb wie gebannt starr
stehen und blickte unaufhörlich zu Riyonn.
"Meine Meister haben dich unterschätzt,
Dieb. Gewaltig unterschätzt! Oder bin es nur ich, der sich in deiner
unscheinbaren Gestalt so unendlich getäuscht hat?"
Nur froh wieder überhaupt etwas zu sehen,
wenn auch der Anblick dieses Wesens nicht unbedingt zur Freude aufrief,
blickte Riyonn zu Don Diaven, der wie beiläufig eine Bemerkung von
sich gab:
"Aber was sollte mich davor hindern, dich
trotzdem zu töten, Dieb?" Mordlustig funkelten die glühenden
Augen des Dagora durch die Finsternis und widerspiegelten sich in den ebenso
tödlichen Klauen. Ohne Vorwarnung erhob sich Don Diaven in die Luft,
raste im Sturzflug auf Riyonn zu und bohrte seine schwarzen Klauen tief
in Riyonns Fleisch hinein.
"Aaaahhh!"
Riyonn biss die Zähne vor Schmerz zusammen.
Doch gelang es ihm, den Dolch, den seine Hand immer noch fest umklammert
hielt, voller Wucht in den ungeschützten Unterleib des Dämons
zu rammen. Kreischend wich der Dagora zurück und ließ von Riyonn
ab, während aus seiner Wunde schwarzes Blut heraus quoll. Wütend
spuckte der Blut ins Schwarze unter sich und sprang wieder auf die Beine.
Don Diaven stürzte sich wie ein wildes Tier auf Riyonn und schlug
seine spitzen Zähne mit einem gewaltigen Krachen durch den Brustpanzer
des Diebes. Kurz blieb Riyonn die Luft weg. Wiederholt versuchte er den
Dolch in den Leib des Dämons zu stoßen, doch der Versuch wurde
von Don Diaven mit der Hand abgefangen, der den Dolch aus Riyonns Griff
herausquetschte. Entwaffnet ballte Riyonn seine Fäuste und schlug
sie mit aller Kraft gegen den Brustkorb des Dagora. Dieser taumelte nach
Atem ringend zurück. Die Chance nutzend tastete Riyonn den Boden nach
seinem Dolch ab, doch als er ihn fand, musste er erschreckend feststellen,
dass die Klinge vom Aufprall zerbrochen war.
Plötzlich bekam er von oben einen Schlag
auf den Rücken. Keuchend und schwitzend nach Luft lechzend, packte
er seinen Bogen von der Schulter. Doch schon donnerte eine gewaltige schwarze
Faust in sein Gesicht. Blut spritzte nach allen Seiten. Riyonns Schädel
brummte. Schnell packte er den Bogen mit beiden Händen und presste
ihn an die Kehle des Dämons. Dann holte Riyonn zum Schwung aus und
bohrte den Bogen tief in Don Diavens schwarzes Fleisch. Nachdem der Dieb
den Blutüberströmten Bogen aus Don Diavens Schulter wieder herausgezogen
hatte, klaffte dort eine große, mit schwarzem Blut umrandete Wunde.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem steinerweichenden Schrei schwang
sich der Dämon mit allen zehn Flügeln gleichzeitig schlagend
in die Luft, um Distanz zu Riyonn zu gewinnen. Hastig holte der Dieb Pfeile
aus seinem am Gürtel befestigten Köcher und visierte den fliegenden
Dagora an. Vor Erregung zitterten seine Finger. Doch schon peitschte der
gehörnte Schwanz des Dämons auf ihn hernieder. Gleich darauf
rammte Don Diaven seine Fußkrallen in Riyonns Schulter, dass sie
vor Blut triefte. Nach einem weiteren Schlag mit dem Schwanz nach Riyonn,
wurde der Bogen an einem der Hörner zerschmettert. Ohne lange zu überlegen,
packte Riyonn einen Fuß des Dämons und schleuderte den Dagora
an seinem Bein mit voller Wucht über seinen Kopf hinweg auf den Boden.
Davon völlig entkräftet sank Riyonn in die Knie.
Kaum dass Don Diaven regungslos auf dem Boden
liegen blieb, löste sich mit einem Male der Boden auf. Riyonn fiel.
Da sah er etwas in der Schwärze unter sich glänzen. Mein Kampfsäbel,
schoss es ihm durch den Kopf ehe er nach dem Gegenstand griff. Erleichtert
und auch ermutigt, wieder bewaffnet zu sein, stoppte Riyonn seinen Fall
abrupt mit Gedankenkraft.
"Wie hast du...?" Don Diaven flog in wenig
Abstand zu dem wieder auf festem Boden stehenden Riyonn in der Luft.
"Komm runter, du Feigling! Wenn du dich traust",
hörte sich Riyonn über die Blutverkrusteten Lippen reden. Den
Lyk-tai Kampfsäbel hielt er dabei hinter seinem Rücken versteckt.
Don Diaven blickte fragend zu Riyonn hinunter. Dieser spürte, wie
ihm die Kraft zurück in den Körper floss.
"Komm herunter, dann bekommst du die Antwort,
die dir zusteht!" Der Dieb blickte in die die ihn anstarrenden rot glühenden
Augen des Dämons. Don Diaven sog das über seine Lippen laufende
Blut ein. Wütend schnaubend warf er den Kopf zurück, richtete
ihn dann aber wie ein Stier gesenkt und mit den von seinem Kopf abstehenden
vier langen Hörnern nach vorne Richtung Riyonn.
"Don Diaven, Dagora und Gebieter über
das Feuer, ist ein Schwächling und ein Feigling, werde ich auf den
Straßen der Städte von ganz Valyar verkünden und die Leute
werden meinen Worten Glauben schenken, wenn ich ihnen deine Hörner
vorlege", rief Riyonn belustigt.
Infolge dessen setzte der Dämon zum Sturzflug
an. Ehe er Riyonn erreichte, zog dieser den Lyk-tai hinter seinem Rücken
hervor und schleuderte ihn, wie einen Bumerang, nach Don Diaven. Dieselbe
Wirkung erzielte der Wurf auch. Als sich der Säbel durch alle fünf
rechten Flügel des Dagora geschnitten hatte, machte er einen kleinen
Bogen und flog zurück. Erschrocken wich Riyonn ihm aus und fing ihn
etwas unsicher aber fest am Griff. Indessen krachte Don Diaven steuerlos
auf den Boden. Knochen splitterten und zerbarsten unter dem mächtigen
Aufprall des Dagora. Grinsend postierte Riyonn sich vor dem leblos liegen
bleibenden schwarzen Körper. Welch erstaunliches Wesen, lenkte sich
ihm ein Gedanke ein, als er den Dämonen musterte. Herr der Flammen,
hatte Don Diaven sich genannt. Flammendorn, hatte Riyonn sich genannt.
Nicht erst jetzt dachte der Dieb an den Zusammenhang mit der brennenden
Stadt. Tief im Inneren spürte er das seltsame Gefühl, dass der
Kampf zwischen Flammendorn und dem Herrn der Flammen erst begonnen hatte.
Tatsächlich bemerkte der Dieb den gleichmäßig gebliebenen
Herzschlag und das unaufhörliche Heben und Senken der Brust des Dagoras.
Schon erhob Riyonn den Kampfsäbel, um ihn in das schwarze Herz des
Dämons zu stoßen, da öffneten sich die roten Augen Don
Diavens. Ein grelles Licht strahlte plötzlich auf und nahm dem Dieb
die Sicht. Erschrocken wich Riyonn ein zwei Schritte zurück und ließ
den Lyk-tai fallen.
Er war wieder im Nichts, doch dieses Mal fühlte
er sich gewaltsam zu dem roten Tor hingezogen.
* * *
Das Feuer völlig unbeachtend kämpfte
sich Imogen durch das Flammenmeer vorwärts. Wai Lonn folgte ihr Schritt
auf Tritt.
Auf einmal blieb Imogen stehen und richtete
ihren Blick auf einen jungen Mann, der nur wenige Meter vor ihr im Feuer
stand und dem Feuer total resistierte. Er hatte schulterlange schwarze
Haare, die mit gelben Federn und Lederbändchen geschmückt waren,
braune glatte Haut und war in eine revolanische Rüstung gekleidet.
Die Kapuze des braunen Mantels, den er außerdem trug, hing ihm zur
Hälfte ins Gesicht hinein und versperrte Imogen dorthin die Sicht.
Doch alle anderen Kennzeichen reichten aus, um den Mann zu identifizieren.
"Riyonn!", stieß Imogen mit einem Freudenschrei
aus, aber dieser rührte sich nicht. Verwundert legte Imogen den Kopf
schief. Was er wohl hatte? Wai Lonn beobachtete Riyonn, der stumm und wie
erstarrt dastand, mit besorgtem Gesicht.
"Riyonn, so sag doch etwas!" Imogen schlug
die Kapuze aus Riyonns Gesicht. Sie erschrak. Sein ganzes Gesicht war blutüberlaufen
und verkrustet, an manchen Stellen prangten tiefe Ritze. An den Schultern,
sowie an der Brust war der Mantel entweder vom Blut aufgeweicht, oder es
war bereits eingetrocknet. Mit einem Funken der Wut in den rotbraunen Augen
umarmte sie den starren Körper ihres Bruders.
"Wer hat das getan, Riyonn? Waren das die
Andumir? Warum antwortest du mir nicht?" Tränen strömten über
ihre erhitzten Wangen. Mitfühlend legte Lonn seinen Arm auf ihre Schulter.
"Er lebt doch noch, oder?" Imogen sah zu Wai
Lonn, der mit den Achseln zuckte. O bitte, mach, dass er noch lebt!
Imogen ließ Riyonn los und spürte die warmen Tränen. Sie
fühlte sich wie in einem Trauma.
* * *
Riyonn versuchte sich mit Leibeskräften
dem Sog entgegenzusetzen, doch sein Widerstand war zwecklos. Verzweifelt
schrie er auf. Er war zu sehr geschwächt, nach seinem Kampf mit Don
Diaven. In dem Sog sah sich Riyonn wieder an den Sternen vorbeiziehen und
gelangte so schließlich in die Gegenwart zurück. Er schloss
die Augen.
* * *
Als er seine grauen Augen öffnete, sah
er Imogen und Wai Lonn, seinen Befehlshaber, vor sich, wie sie ihn besorgt
und irritiert betrachteten.
"Ist was? Ihr schaut als sei ich gestorben."
Imogen fuhr überrascht auf.
"Riyonn!"
"Wer sollte ich sonst sein?" Während
Riyonn das sagte, fühlte er eine zu Hitze ansteigende Wärme an
seinen Beinen. Das Feuer, schoss es ihm durch den Kopf. Wai Lonn
unterbrach das kurze Schweigen.
"Mir wird es hier, und das nicht erst allmählich,
zu heiß. Ich schlage vor, ihr unterhaltet euch weiter, wenn wir die
Stadt verlassen haben. Seht!" Lonn richtete seinen Zeigefinger an den Horizont.
"Das Morgenrot kündigt uns den neuen Tag an. Wir sollten aufbrechen,
bevor es den Andumir in den Sinn kommt hier zu löschen und uns dabei
entdecken."
Riyonn schloss sich ihm nickend an. Imogens
Blick haftete immer noch ungläubig an Riyonn.
"Wie hast du das überlebt? Du bist doch
nicht eben erst ins Feuer gestiegen. Als Lonn und ich dich fanden, sah
es so aus, als könnte dir das Feuer nichts anhaben."
"Nein, als ich vom Feuer eingeschlossen worden
bin, war der Raubzug noch in vollem Gange."
Lonn drehte sich erstaunt zu Riyonn um. "Das
kann nicht sein. Seitdem sind schon Stunden vergangen. Solange hält
es kein Mensch im Feuer aus, ohne zu verbrennen."
Imogen stimmte ihm zu.
Bald hatten die drei sich aus dem fußhohen
Flammenmeer gekämpft. Glücklicherweise trafen sie nicht auf Andumir
bis sie schließlich an den Kanälen angelangten. Als sie endlich
außerhalb der Stadt am anderen Ende der Abwasserkanäle im Freien
standen, tauchte die Sonne bereits den ganzen Himmel in ein blutiges Rot.
"Selbst der Himmel weiß, wie viel Blut
letzte Nacht geflossen ist", meinte Riyonn gedankenversunken und hielt
seine Hand über die Augen, um sie vor dem gleißenden Licht der
aufgehenden Sonne zu schützen. Da sie alle drei erschöpft und
müde waren, stolperten sie mehr, als dass sie gingen, querfeldein
Richtung Wald, Hügel aufwärts – der Stadt den Rücken kehrend.
Bevor sie in den Schatten des dunklen Mischwalds traten, warfen Imogen,
Riyonn und Wai Lonn der Stadt noch einen Blick zu. Riyonn hatte Recht,
als er mir versuchte klar zu machen, wie viele Tote so ein Überfall
fordert, dachte Imogen, während ihre rotbraunen Augen über
das Leichenfeld vor den Westtoren schweifte. Lonn, stattdessen, setzte
ein siegestrunkenes Lächeln auf. Als einziger nur an seinen seltsamen
Kampf mit Don Diaven denkend, starrte Riyonn unsicher und mit einem unwohlen
Gefühl auf die fern aufsteigenden Rauchwolken, die die Stadt umschleiherten.
Er wusste nicht, was er von diesem Wesen halten sollte, das sich erst versucht
hatte, als sein Freund auszugeben, ihn danach aber versucht hatte zu töten.
Auserwählte?
Lich? Dämonen? In was für einer Welt bin ich gelandet? Bin ich
immer noch in derselben? Oder ist das, was ich in den letzten Stunden erlebt
habe, gar nicht von dieser Welt gewesen, sondern von einem anderen... Ort...
irgendwo in der Finsternis bei den Sternen? Vielleicht...
© Itariss
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