Sieben gegen Sieben von Itariss
Kapitel 2: Flammendorn

"Zoran!" Einer der Generäle und der Befehlshaber während des Beutezugs in Teras Andum rannte bestürzt zu dem alten Veteranen, der von einem Pfeil durch den schon schwer geschädigten Brustpanzer hindurch mitten ins Herz getroffen worden war. Zoran hatte sich auf den schon über und über mit Leichen armseliger Gefallener gezehrten Boden fallen lassen. Rasch zog der Befehlshaber den Pfeil aus Zorans Fleisch. Dabei blieb die eiserne Spitze in der blutüberlaufenen Wunde stecken. Der Veteran lechzte nach Luft. Traurig beugte sich der Befehlshaber über den Sterbenden.
"Zoran Vieotan, nicht auch noch Ihr. Wir missen schon die Hälfte unserer Veteranen. Gebt nicht auf! Wir sind so gut wie fertig. Ihr dürft jetzt einfach nicht aufgeben! Die Gilde braucht Euch..." Schweigsam drehte er den Kopf Richtung Imogen, die zusammen mit einigen anderen Dieben einen Andumir überwältigte. "...und Eure Kinder ebenfalls."
Zoran blinzelte müde auf. Ein sanftes Lächeln, vielleicht auch ein Schmunzeln wanderte über seine kantigen harten Gesichtszüge. Dann verformte sich sein Gesichtsausdruck zu einer ernsten und entschlossenen Miene.
"Passt... auf die... Beiden auf! Bitte! Sie sind noch so junge und unerfahrene Kinder", presste Zoran über seine blutverkrusteten Lippen.
"Eure Kinder Vieotan, Eure Kinder." Der Befehlshaber entnahm dem Faltendurchfurchten vernarbten Gesicht des alten Mannes ein weiteres Lächeln.
"Meine Kinder." Zorans Stimme klang schwach und stockend. Trotzdem konnte man unschwer erkennen, welch Stärke und Vitalität sie einst geborgen haben musste. Die Jugend war schon längst von ihm gewichen, doch hatte seine kräftige Stimme immer noch hallend in den Ohren seiner Zuhörer echot, wenn sie gebraucht worden war. Der Befehlshaber Wai Lonn kniete sich auf den Blut gesprenkelten Boden hinunter und erfasste die derbe raue Hand des Mannes.
"Ihr habt Taron und seiner Gilde seit Ihr lebt tatkräftig und loyal gedient. Nie kamt Ihr, um Euch einen Generalsrang zu erbeten, obwohl Euer Können und Wissen dafür schon seit Jahren tragfähig gewesen wäre. Ihr wärt es längst wert gewesen, in die Fußstapfen mächtiger Würdenträger der Gilde zu treten, doch habt Ihr es nie gewollt und dankbar abgewinkt. Ihr habt für die Gilde Euer Leben aufs Spiel gesetzt und nun seid Ihr am Zug es zu opfern. Man kann Euch nur bewundern. Ich werde... ich schwöre beim Licht der Sonne, dass ich auf Eure Kinder achten werde und sie versorge, bis sie es nicht mehr notwendig haben." Zoran schloss die Augen.
Einen Moment blieb Wai Lonn neben dem Toten sitzen. Zur gleichen Zeit fiel der letzte Angreifer der Andumir. Eine ungewohnte Stille breitete sich auf der zum Schlachtfeld missbrauchten Straße der Stadt aus. Wai Lonn sah auf zu dem durch Rauch verdeckten Nachthimmel. Langsam erhob er sich und ließ seinen Blick unberührt über das Feld der Toten schweifen. Seine Gedanken hingen an Zoran.
Plötzlich wurde er aus seinen Trauergedanken gerissen. Kämpfer vom Ablenkungsmanöver kamen die Straße eilends herunter gelaufen.
"Lonn, schnell, die Kanäle!"
"Wieso, was ist los? Wir haben alle hier postiert gewesene Andumir geschlagen. Das Feuer hat jedweden Lebenshauch aus den hiesigen Bewohnern der Stadt geblasen. Wovor sollten wir so Hals über Kopf flüchten?", gab Lonn irritiert zurück, während er die zerfetzten Kampfmonturen betrachtete. Er fragte sich, wie sie das Ablenkungsmanöver wohl ausgefochten hatten.
"Auf! Beeilt Euch! Setzt Eure Leute in Bewegung! Die Verstärkung der Andumir ist hinter uns her."
"Ihr habt sie hergelockt?" Lonn konnte den Unverstand Sotal Nimbuns, des Befehlshabers des Ablenkungsmanövers, nicht fassen. Dieser schüttelte verzweifelt den Kopf, wobei ihm seine blonden Haare ins Gesicht fielen.
"Wir konnten es nicht verhindern. Sie fielen so schnell ein, durchbrachen unsere Truppe und haben uns von den äußeren Kämpfern abgeschnitten. Wir hatten keine andere Wahl, wir waren zu wenige und mussten versuchen uns ins Stadtinnere zurückzuziehen. Da trafen wir auf die anrückende Verstärkung der Andumir und die ist nun auf dem Weg hierher. Es lag nicht an uns. Irgendetwas muss von euch zu den Andumir in ihrem Quartier durchgesickert sein. Andernfalls wäre es natürlich nicht unmöglich, dass sie uns gesehen haben..."
"Was musstet ihr auch so dicht an den Quartieren vorbei spazieren? Ihr hättet euch doch vorstellen können, was geschieht, sobald euch die Andumir entdecken."
"Ja schon. Aber wir hatten den schnellsten Weg zu euch gewählt und der führte nun einmal unvermeidbar dort vorbei. Außerdem: wer sagte, dass überhaupt noch Verstärkung vonseiten der Stadtwachen zu erwarten war?"
Wai Lonn war an seiner Grenze angelangt.
"Falls sie wirklich nur wegen euch kommen, wisst ihr was uns blüht, wenn sie erfahren, was hier inzwischen geschehen ist. Die schicken doch alle ihre entbehrlichen Leute hierher, um unseren wunden Punkt zu treffen. Wir können die gesamte eingetriebene Beute vergessen, wenn wir uns noch eine Großschlacht mit allen Stadtwachen liefern sollen."
Nimbun nickte einsichtig mit dem Kopf.
"Selbstverständlich habt Ihr Recht, Lonn. Aber jetzt können wir nichts anderes mehr tun, als schnellstmöglich von hier zu verschwinden. Übrigens, sehr viel länger hätte der Trick sowieso nicht funktioniert. Der rote Hahn ist schon fünfzig Meter von hier deutlich sichtbar. Die Andumir wären sowieso bald angerückt."
"Vielleicht wären wir dann allerdings schon von uns aus so weit gewesen, dass wir verduftet wären." Lonn sog etwas von der rauchigen Nachtluft ein. "Zu den Kanälen, Nimbun. Zu den Kanälen! Ruft zum Rückzug! Jeder soll soviel er tragen und schleppen kann nehmen und damit schnellstmöglich zu den Kanälen rennen. Hoffen wir, dass uns die Zeit nicht davonläuft."
Damit wandte Lonn sich von Nimbun und seinen Männern ab. Wütend ballte er die Fäuste. Es geschah gar nicht nach Plan.

* * *

Imogen steckte die Goldmünzen und Silbergroschen des toten Andumir in ihren Beutel. Bei dem Klimpern des Geldes dachte sie schon an die gierigen Gesichter der anderen Diebe, die nicht beim Beutezug dabei waren. Rasch verschloss sie den Beutel mit einem Lederriemen, da ertönte die Stimme Sotal Nimbuns, der das Ablenkungsmanöver zu befehligen gehabt hatte. Imogen hatte sich offenbar nicht getäuscht. Der blondhaarige breitschultrige Mann stand unweit von ihr und gestikulierte wild mit den Armen, während er immer wieder laut "Zu den Kanälen!" schrie.
Nimbun, hier?, wunderte sie sich. Dennoch folgte sie dem Aufruf zum Rückzug. Gleichzeitig spähte sie nach Zoran und Riyonn - erfolglos. Als sie ihren Blick gerade hastig umherschweifen ließ, bemerkte sie den Mann vor sich nicht und prallte prompt gegen ihn.
"Oh... entschuldige ich... General Lonn?" Imogen trat eilends einen Schritt zurück, bevor sie Lonn ins Gesicht blickte. "Vergessen wir den Zusammenstoß." Wai Lonn setzte ein sanftes Lächeln auf und musterte das rotbraunhaarige bildhübsche Mädchen.
"Du hast nicht zufällig deinen Bruder Riyonn irgendwo gesehen, Kleines?" Verwirrt starrte Imogen in die sie freundlich anlächelnden schwarzbraunen Augen Lonns.
"Nein, ich halte ja eben selbst nach ihm und meinem Vater Ausschau. Ich dachte sie seien hier... irgendwo. Ich habe Riyonn seit der Zündung der Sprengkästen nicht mehr gesehen. Aber er wird schon hier in der Nähe stecken... und Zoran auch, nicht?"
Wai Lonn öffnete den Mund um etwas zu sagen, besann sich aber um dazu, ihn wieder zu schließen. Er meinte einen großen Kloß im Hals stecken zu haben.
"Imogen... ich glaube nicht, dass du Zoran Vieotan hier finden wirst... zumindest nicht..."
"Was meint Ihr damit? Er ist doch nicht etwa..." Lonn sah ihr, unfähig ihr zu antworten, in die ebenso rotbraun wie die Haare, im Mondenschein glänzenden Augen. Imogen drehte ihren Kopf zur Seite. Als sie wieder nach vorn blickte, konnte sie ihre Trauer nicht länger verbergen und Tränen schossen ihr in die Augen. Lonn, eigentlich gerade einmal drei Jahre älter als sie, klopfte ihr ermutigend auf die Schulter.
"Wer weiß, vielleicht... vielleicht war es auch einfach an der Zeit für ihn", versuchte er sie zu trösten. Imogen zog die Augenbrauen herunter.
"Von wegen. Er war ja erst sechzig. Und wenn Riyonn auch nicht auffindbar ist... nein!" Imogen erstarrte. Ihre Gedanken rasten wild durcheinander. Was sollte sie nun tun? Von einem Augenblick auf den nächsten war sie eine Waise geworden. Falls man Riyonn nicht mehr fände, wäre sie zusätzlich noch geschwisterlos. Wai Lonn wollte Imogen bei der Hand nehmen und sie mit sich zu den Kanälen ziehen, doch Imogen entriss sich seinem Griff.
"Er muss hier sein. Ich werde ihn suchen gehen. Versucht nicht mich aufzuhalten!" Sie lief zu einem Teil der noch brennenden Häuser. Erst wagte sie nur einen Blick in die in Flammen stehenden Gebäude, dann fasste sie sich und ging in eines der Häuser hinein.
"Imogen, tu das nicht! Bleib hier! Du wirst das nicht überleben!" Lonn eilte ihr hinterher. Trotzig sah ihn Imogen an.
"Schön. Dann kann man eine hübsche Familienbestattung machen." Damit wandte sie sich wieder dem Haus zu und lief auf der eingestürzten Seite des Gebäudes auf eine Gasse hinaus. Unweit von ihr erstreckte sich eine zu einem Haus gehörende Wiese, von der allerdings nicht mehr als ein Feuermeer zu erkennen war. Lonn versuchte das Mädchen einzuholen, doch ihm blieb keine Zeit sich über ihr schnelles Tempo zu wundern, sonst würde er sie aus den Augen verlieren. Bald erreichte Imogen die Wiese, stieg über einen eingestürzten und vom Feuer durchfressenen Holztorbogen, der wohl zur Eingrenzung der Wiese gehört haben musste, und versuchte über einen gepflasterten Steinweg den direkten Weg über die Wiese zu vermeiden. Plötzlich versperrte ihr ein brennender Dachbalken, der von dem Dach des Hauses vor ihr herab gefallen war, den Durchgang. Dort holte Lonn sie ein.
"Imogen!" Lonn hustete laut auf, da ihm der Qualm das Atmen erschwerte. Mit der Hand fuhr er sich die ins Gesicht gefallenen schwarzen Haare aus der Stirn. Imogen starrte suchend in das Flammenmeer vor sich.
"Du wirst ihn nicht schnell genug finden. Imogen! Hör mir doch zu! Ich habe Zoran während seinem Tode versprochen, auf Riyonn und dich aufzupassen." Imogen schaute immer noch starr in das tobende Feuer.
"Dann würdet Ihr Euer Versprechen brechen, wenn Ihr mir jetzt nicht folgt." Imogen sprang von dem Steinweg herunter, auf dem sie mit Lonn eben noch gestanden hatte. Der verharrte wie angewurzelt und völlig perplex vor dem Balken.
"Imogen, verdammt! Was hast du vor? Du wirst da doch nicht etwa hindurch gehen wollen?" Lonn wies auf das Flammenmeer. Aber das Mädchen schenkte ihm weder Antwort noch Gestik. Erst blickte Lonn noch unschlüssig auf das sich vor ihm ausbreitende Meer, das Imogen immer weiter durchschritt.
"Warte!" Schnell sprang er Imogen hinterher, die ihn kurz dankbar angrinste.
"Ich habe nicht vor, mein Versprechen zu brechen", meinte Wai Lonn lächelnd und ergriff Imogens Hand. Sie lässt mir keine Wahl, stöhnte er in Gedanken, während er dem tapferen Mädchen auf dem Weg in den Kampf mit den Flammen folgte.

* * *

Behände wich Riyonn dem magischen Flammenstrahl aus, den Don Diaven in seine Richtung spie. Das Feuer verquoll in der düsteren Leere hinter dem Dieb. Riyonn wagte es nicht anzugreifen. Noch nicht. Der Dagora wiegte sich in der Unsicherheit Riyonns. Grinsend schleuderte er aus seinen Händen Flammen nach dem Dieb. Doch weiterhin gewandt wich dieser den Attacken aus und ließ den Zauber in der endlosen Weite der Finsternis verglühen. Don Diaven begann sich zu ärgern.
"Bleib doch endlich einmal stehen, du verlauste Ratte!" Riyonn sah mit verneinendem Blick zu dem sich wieder in der Dunkelheit getarnten Wesen auf.
"Würde ich das tun, wäre ich bald so ein Fossil wie du. Unfähig, mich auf einen gerechten Kampf unter erwachsenen Männern einzulassen, Diaven", machte Riyonn sich über den Dagora lustig. Der Dämon schnaubte verächtlich. Kühl meinte er:
"Fossil, Dieb? Ich bin für dich also nicht mehr als ein eingerostetes veraltetes Fossil, ich, der Herr und Gebieter über die ewigen Flammen des Bösen. Deinen fairen Kampf kannst du haben. Obwohl ich dich nicht als erwachsenen Mann bezeichnen würde. Es wird mir eine reine Freude sein, dir den Odem aus dem Leib zu prügeln. Du warst mir seit Anfang unserer Unterredung, seit ich von dir weiß, ein Dorn im Auge gewesen. Doch dieses Spiel hat sich für dich jetzt ein für alle Mal ausgespielt, mein junger Freund."
"Dorn der Flammen? Flammendorn! Klingt gut für jemanden, der den Gebieter der Flammen besiegt hat, nicht?" Don Diaven lächelte ironisch.
"Deine Frechheit wird dir gleich vergehen!" Riyonn grinste. Er konnte sich den Zorn des Dämons durch die rot glühenden Augen, die aufzuflackern schienen, leicht vorstellen. Woher er den Mut dazu aufbrachte, den Dämon dermaßen zu reizen, konnte Riyonn sich beim besten willen nicht einmal selbst erklären.
Es war eine der vielen Fragen, die unbeantwortet bleiben musste, wie auch jene Fragen, woher er kam, wer er selbst war. Diese Fragen lasteten allerdings schon auf Riyonn, seit er denken konnte. Weder er noch Imogen waren die leiblichen Kinder Zoran Vieotans. Aus diesem Grund hatten er und Imogen den Beinamen Katapura - Findling - erhalten, statt wie Zoran auch Vieotan zu heißen. Doch Imogen war nicht einmal seine richtige Schwester. Aber er konnte sich genauso wenig wie Imogen daran erinnern, durch wen er das Licht der Welt erblickt hatte, wie und warum er bei Zoran gelandet war. All das hatte ihm sein Vater trotz ständigem Bitten nie erzählt, sofern er es konnte, nur soviel, dass Zoran nicht sein wahrer Vater und Imogen nicht seine wahre Schwester waren. Es bereitete Riyonn oft Kummer, so wenig über sich selbst und seine Vergangenheit zu wissen. Unwissentlich woher sie gekommen waren hatten er und Imogen eine harte und entbehrungsreiche Kindheit in der Diebesstadt Revol Taron hinter sich, hungernd und unter schweren Unterweisungen in den Künsten des Kämpfens mit dem Kampfsäbel, des Bogenschießens und der Ausbildung aller diebischen Fähigkeiten, hatten sie beim Aufbau einer von der Außenwelt größtenteils unabhängigen Stadt geholfen, bis diese in der Lage gewesen war, sich allein durch ständige Überfälle auf die umliegenden Städte zu versorgen. Die Schmerzen seines Unwissens und seiner ewigen Unsicherheit hatten Riyonn zu einem stillen, in sich selbst zurückgezogen lebenden jungen Mann gemacht, weshalb er sich sein Verhalten gegenüber Don Diaven nur noch schwerer erklären konnte. Das einzige Wort, an das er sich erinnern konnte, welches vermutlich von seinen Eltern ausgesprochen worden war, lautete: "Ziany."
Wahrscheinlich war es ein Name.
Auf einmal fühlte sich Riyonn, als sei die Zeit durch seine Gedanken gestoppt worden. Jeder Schritt weiter, den seine Gedanken in die am tiefsten verborgen liegenden Erinnerungen in sich selbst machte, desto weiter fühlte Riyonn sich weggezogen vom Jetzt. Alleingang der Gedanken. Ehe die schemenhafte Gestalt des Dämon Don Diaven aus seinem Blickfeld verschwand, packte ihn eine plötzliche Angst, er könnte seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle halten, die ihn dazu trieb, sich am letzten Zipfel des Jetzt festzuklammern, um sich zurückzuziehen. Langsam verfestigte sich das Bild von Don Diaven vor seinen Augen wieder. Stockend begann der Dämon eine Bewegung zu vollführen. Riyonn spürte einen Schatten um sich, der ihn zu umschlingen und nicht freigeben zu wollen schien. Mit Leibeskräften riss Riyonn sich aus der kalten Umschlingung.
"Was um alles in der Welt ist das?"
Erschrocken fand Riyonn sich wieder umgeben vom puren Nichts. Er erblickte weder die Dunkelheit noch den Dämonen. Das Nichts, in dem er sich befand, zeigte keine Farben, keinen Ausweg. In Riyonns Kopf schwirrten sämtliche Gedanken umher. Beklemmende Stille wollte ihn in ihrer Kälte erdrücken. Rechtzeitig, bevor er von der Kälte erstarren würde, versuchte Riyonn seine Gedanken zu ordnen.
"Wo bist du, Don Diaven?" Verwirrt und wie erblindet tastete er um sich. Verzweifelt senkte er den Kopf und starrte ins Leere. Da öffneten sich vor seinen Augen zwei Tore. Eines rot und eines schwarz. Unentschlossen, welches er wählen sollte, steuerte Riyonn unbewusst das schwarze an. Als er hindurch getreten war, begann er zu fallen. Er fiel und fiel, schließlich verschwamm das bildlose Nichts wieder vor ihm und Dunkelheit legte sich um ihn. Erstaunt sah er die ihn, ebenso überrascht wie er selbst war, anstarrenden Augen Don Diavens.
"Was ist geschehen?", stammelte Riyonn und rieb sich den schmerzenden Schädel. Don Diaven blieb wie gebannt starr stehen und blickte unaufhörlich zu Riyonn.
"Meine Meister haben dich unterschätzt, Dieb. Gewaltig unterschätzt! Oder bin es nur ich, der sich in deiner unscheinbaren Gestalt so unendlich getäuscht hat?"
Nur froh wieder überhaupt etwas zu sehen, wenn auch der Anblick dieses Wesens nicht unbedingt zur Freude aufrief, blickte Riyonn zu Don Diaven, der wie beiläufig eine Bemerkung von sich gab:
"Aber was sollte mich davor hindern, dich trotzdem zu töten, Dieb?" Mordlustig funkelten die glühenden Augen des Dagora durch die Finsternis und widerspiegelten sich in den ebenso tödlichen Klauen. Ohne Vorwarnung erhob sich Don Diaven in die Luft, raste im Sturzflug auf Riyonn zu und bohrte seine schwarzen Klauen tief in Riyonns Fleisch hinein.
"Aaaahhh!"
Riyonn biss die Zähne vor Schmerz zusammen. Doch gelang es ihm, den Dolch, den seine Hand immer noch fest umklammert hielt, voller Wucht in den ungeschützten Unterleib des Dämons zu rammen. Kreischend wich der Dagora zurück und ließ von Riyonn ab, während aus seiner Wunde schwarzes Blut heraus quoll. Wütend spuckte der Blut ins Schwarze unter sich und sprang wieder auf die Beine. Don Diaven stürzte sich wie ein wildes Tier auf Riyonn und schlug seine spitzen Zähne mit einem gewaltigen Krachen durch den Brustpanzer des Diebes. Kurz blieb Riyonn die Luft weg. Wiederholt versuchte er den Dolch in den Leib des Dämons zu stoßen, doch der Versuch wurde von Don Diaven mit der Hand abgefangen, der den Dolch aus Riyonns Griff herausquetschte. Entwaffnet ballte Riyonn seine Fäuste und schlug sie mit aller Kraft gegen den Brustkorb des Dagora. Dieser taumelte nach Atem ringend zurück. Die Chance nutzend tastete Riyonn den Boden nach seinem Dolch ab, doch als er ihn fand, musste er erschreckend feststellen, dass die Klinge vom Aufprall zerbrochen war.
Plötzlich bekam er von oben einen Schlag auf den Rücken. Keuchend und schwitzend nach Luft lechzend, packte er seinen Bogen von der Schulter. Doch schon donnerte eine gewaltige schwarze Faust in sein Gesicht. Blut spritzte nach allen Seiten. Riyonns Schädel brummte. Schnell packte er den Bogen mit beiden Händen und presste ihn an die Kehle des Dämons. Dann holte Riyonn zum Schwung aus und bohrte den Bogen tief in Don Diavens schwarzes Fleisch. Nachdem der Dieb den Blutüberströmten Bogen aus Don Diavens Schulter wieder herausgezogen hatte, klaffte dort eine große, mit schwarzem Blut umrandete Wunde. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem steinerweichenden Schrei schwang sich der Dämon mit allen zehn Flügeln gleichzeitig schlagend in die Luft, um Distanz zu Riyonn zu gewinnen. Hastig holte der Dieb Pfeile aus seinem am Gürtel befestigten Köcher und visierte den fliegenden Dagora an. Vor Erregung zitterten seine Finger. Doch schon peitschte der gehörnte Schwanz des Dämons auf ihn hernieder. Gleich darauf rammte Don Diaven seine Fußkrallen in Riyonns Schulter, dass sie vor Blut triefte. Nach einem weiteren Schlag mit dem Schwanz nach Riyonn, wurde der Bogen an einem der Hörner zerschmettert. Ohne lange zu überlegen, packte Riyonn einen Fuß des Dämons und schleuderte den Dagora an seinem Bein mit voller Wucht über seinen Kopf hinweg auf den Boden. Davon völlig entkräftet sank Riyonn in die Knie.
Kaum dass Don Diaven regungslos auf dem Boden liegen blieb, löste sich mit einem Male der Boden auf. Riyonn fiel. Da sah er etwas in der Schwärze unter sich glänzen. Mein Kampfsäbel, schoss es ihm durch den Kopf ehe er nach dem Gegenstand griff. Erleichtert und auch ermutigt, wieder bewaffnet zu sein, stoppte Riyonn seinen Fall abrupt mit Gedankenkraft.
"Wie hast du...?" Don Diaven flog in wenig Abstand zu dem wieder auf festem Boden stehenden Riyonn in der Luft.
"Komm runter, du Feigling! Wenn du dich traust", hörte sich Riyonn über die Blutverkrusteten Lippen reden. Den Lyk-tai Kampfsäbel hielt er dabei hinter seinem Rücken versteckt. Don Diaven blickte fragend zu Riyonn hinunter. Dieser spürte, wie ihm die Kraft zurück in den Körper floss.
"Komm herunter, dann bekommst du die Antwort, die dir zusteht!" Der Dieb blickte in die die ihn anstarrenden rot glühenden Augen des Dämons. Don Diaven sog das über seine Lippen laufende Blut ein. Wütend schnaubend warf er den Kopf zurück, richtete ihn dann aber wie ein Stier gesenkt und mit den von seinem Kopf abstehenden vier langen Hörnern nach vorne Richtung Riyonn.
"Don Diaven, Dagora und Gebieter über das Feuer, ist ein Schwächling und ein Feigling, werde ich auf den Straßen der Städte von ganz Valyar verkünden und die Leute werden meinen Worten Glauben schenken, wenn ich ihnen deine Hörner vorlege", rief Riyonn belustigt.
Infolge dessen setzte der Dämon zum Sturzflug an. Ehe er Riyonn erreichte, zog dieser den Lyk-tai hinter seinem Rücken hervor und schleuderte ihn, wie einen Bumerang, nach Don Diaven. Dieselbe Wirkung erzielte der Wurf auch. Als sich der Säbel durch alle fünf rechten Flügel des Dagora geschnitten hatte, machte er einen kleinen Bogen und flog zurück. Erschrocken wich Riyonn ihm aus und fing ihn etwas unsicher aber fest am Griff. Indessen krachte Don Diaven steuerlos auf den Boden. Knochen splitterten und zerbarsten unter dem mächtigen Aufprall des Dagora. Grinsend postierte Riyonn sich vor dem leblos liegen bleibenden schwarzen Körper. Welch erstaunliches Wesen, lenkte sich ihm ein Gedanke ein, als er den Dämonen musterte. Herr der Flammen, hatte Don Diaven sich genannt. Flammendorn, hatte Riyonn sich genannt. Nicht erst jetzt dachte der Dieb an den Zusammenhang mit der brennenden Stadt. Tief im Inneren spürte er das seltsame Gefühl, dass der Kampf zwischen Flammendorn und dem Herrn der Flammen erst begonnen hatte. Tatsächlich bemerkte der Dieb den gleichmäßig gebliebenen Herzschlag und das unaufhörliche Heben und Senken der Brust des Dagoras. Schon erhob Riyonn den Kampfsäbel, um ihn in das schwarze Herz des Dämons zu stoßen, da öffneten sich die roten Augen Don Diavens. Ein grelles Licht strahlte plötzlich auf und nahm dem Dieb die Sicht. Erschrocken wich Riyonn ein zwei Schritte zurück und ließ den Lyk-tai fallen.
Er war wieder im Nichts, doch dieses Mal fühlte er sich gewaltsam zu dem roten Tor hingezogen.

* * *

Das Feuer völlig unbeachtend kämpfte sich Imogen durch das Flammenmeer vorwärts. Wai Lonn folgte ihr Schritt auf Tritt.
Auf einmal blieb Imogen stehen und richtete ihren Blick auf einen jungen Mann, der nur wenige Meter vor ihr im Feuer stand und dem Feuer total resistierte. Er hatte schulterlange schwarze Haare, die mit gelben Federn und Lederbändchen geschmückt waren, braune glatte Haut und war in eine revolanische Rüstung gekleidet. Die Kapuze des braunen Mantels, den er außerdem trug, hing ihm zur Hälfte ins Gesicht hinein und versperrte Imogen dorthin die Sicht. Doch alle anderen Kennzeichen reichten aus, um den Mann zu identifizieren.
"Riyonn!", stieß Imogen mit einem Freudenschrei aus, aber dieser rührte sich nicht. Verwundert legte Imogen den Kopf schief. Was er wohl hatte? Wai Lonn beobachtete Riyonn, der stumm und wie erstarrt dastand, mit besorgtem Gesicht.
"Riyonn, so sag doch etwas!" Imogen schlug die Kapuze aus Riyonns Gesicht. Sie erschrak. Sein ganzes Gesicht war blutüberlaufen und verkrustet, an manchen Stellen prangten tiefe Ritze. An den Schultern, sowie an der Brust war der Mantel entweder vom Blut aufgeweicht, oder es war bereits eingetrocknet. Mit einem Funken der Wut in den rotbraunen Augen umarmte sie den starren Körper ihres Bruders.
"Wer hat das getan, Riyonn? Waren das die Andumir? Warum antwortest du mir nicht?" Tränen strömten über ihre erhitzten Wangen. Mitfühlend legte Lonn seinen Arm auf ihre Schulter.
"Er lebt doch noch, oder?" Imogen sah zu Wai Lonn, der mit den Achseln zuckte. O bitte, mach, dass er noch lebt! Imogen ließ Riyonn los und spürte die warmen Tränen. Sie fühlte sich wie in einem Trauma.

* * *

Riyonn versuchte sich mit Leibeskräften dem Sog entgegenzusetzen, doch sein Widerstand war zwecklos. Verzweifelt schrie er auf. Er war zu sehr geschwächt, nach seinem Kampf mit Don Diaven. In dem Sog sah sich Riyonn wieder an den Sternen vorbeiziehen und gelangte so schließlich in die Gegenwart zurück. Er schloss die Augen.

* * *

Als er seine grauen Augen öffnete, sah er Imogen und Wai Lonn, seinen Befehlshaber, vor sich, wie sie ihn besorgt und irritiert betrachteten.
"Ist was? Ihr schaut als sei ich gestorben." Imogen fuhr überrascht auf.
"Riyonn!"
"Wer sollte ich sonst sein?" Während Riyonn das sagte, fühlte er eine zu Hitze ansteigende Wärme an seinen Beinen. Das Feuer, schoss es ihm durch den Kopf. Wai Lonn unterbrach das kurze Schweigen.
"Mir wird es hier, und das nicht erst allmählich, zu heiß. Ich schlage vor, ihr unterhaltet euch weiter, wenn wir die Stadt verlassen haben. Seht!" Lonn richtete seinen Zeigefinger an den Horizont. "Das Morgenrot kündigt uns den neuen Tag an. Wir sollten aufbrechen, bevor es den Andumir in den Sinn kommt hier zu löschen und uns dabei entdecken."
Riyonn schloss sich ihm nickend an. Imogens Blick haftete immer noch ungläubig an Riyonn.
"Wie hast du das überlebt? Du bist doch nicht eben erst ins Feuer gestiegen. Als Lonn und ich dich fanden, sah es so aus, als könnte dir das Feuer nichts anhaben."
"Nein, als ich vom Feuer eingeschlossen worden bin, war der Raubzug noch in vollem Gange."
Lonn drehte sich erstaunt zu Riyonn um. "Das kann nicht sein. Seitdem sind schon Stunden vergangen. Solange hält es kein Mensch im Feuer aus, ohne zu verbrennen."
Imogen stimmte ihm zu.
Bald hatten die drei sich aus dem fußhohen Flammenmeer gekämpft. Glücklicherweise trafen sie nicht auf Andumir bis sie schließlich an den Kanälen angelangten. Als sie endlich außerhalb der Stadt am anderen Ende der Abwasserkanäle im Freien standen, tauchte die Sonne bereits den ganzen Himmel in ein blutiges Rot.
"Selbst der Himmel weiß, wie viel Blut letzte Nacht geflossen ist", meinte Riyonn gedankenversunken und hielt seine Hand über die Augen, um sie vor dem gleißenden Licht der aufgehenden Sonne zu schützen. Da sie alle drei erschöpft und müde waren, stolperten sie mehr, als dass sie gingen, querfeldein Richtung Wald, Hügel aufwärts – der Stadt den Rücken kehrend. Bevor sie in den Schatten des dunklen Mischwalds traten, warfen Imogen, Riyonn und Wai Lonn der Stadt noch einen Blick zu. Riyonn hatte Recht, als er mir versuchte klar zu machen, wie viele Tote so ein Überfall fordert, dachte Imogen, während ihre rotbraunen Augen über das Leichenfeld vor den Westtoren schweifte. Lonn, stattdessen, setzte ein siegestrunkenes Lächeln auf. Als einziger nur an seinen seltsamen Kampf mit Don Diaven denkend, starrte Riyonn unsicher und mit einem unwohlen Gefühl auf die fern aufsteigenden Rauchwolken, die die Stadt umschleiherten. Er wusste nicht, was er von diesem Wesen halten sollte, das sich erst versucht hatte, als sein Freund auszugeben, ihn danach aber versucht hatte zu töten. Auserwählte? Lich? Dämonen? In was für einer Welt bin ich gelandet? Bin ich immer noch in derselben? Oder ist das, was ich in den letzten Stunden erlebt habe, gar nicht von dieser Welt gewesen, sondern von einem anderen... Ort... irgendwo in der Finsternis bei den Sternen? Vielleicht...
 

© Itariss
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Zu Valyar und der übrigen Welt, in der diese Geschichte spielt,
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Und schon geht es weiter zum 3. Kapitel: Die Fronten

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