Riyonn fasste sich an den Kopf. So viele Namen,
Ereignisse und Informationen waren seinem übernächtigten Gehirn
nicht mehr zumutbar. Erschöpft kniete er auf den morschen Holzboden.
Imogen legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Es geht nicht... ist zu viel.", flüsterte
Riyonn. Warum ich? Warum hier? Warum jetzt? Er ballte die Fäuste.
"Mir ist die Lust danach, auserwählt
zu sein, jedenfalls gehörig vergangen." Imogen seufzte; sie blickte
aus einem der Fenster. "Und jetzt?"
Riyonn verdrängte die Gedanken um Don
Diaven und dessen Meister so gut er konnte und blinzelte müde auf.
"Ich für meinen Teil gehe jedenfalls
noch mal schlafen."
Imogen stimmte ihrem Bruder insgeheim zu,
aber ihre Neugierde war zu groß.
"Meinst du, wir sollten nicht Taron nach der
Sache fragen?", wollte sie wissen.
"Taron? Ich hoffe. wir sprechen vom selben
Mann! Allen Ernstes, von Taron erwartest du Hilfe?"
"Er war dabei!"
"Na und?"
"Nichts na und. Er könnte wissen, was
genau wir nun zu tun haben!"
"Ich weiß, was ich zu tun habe!"
"Ach ja?"
"Ja! Ich haue mich aufs Ohr und penn bis zum
nächsten Morgengrauen durch!"
"Sag, interessiert dich das Ganze denn gar
nicht?"
"Anders als du denkst, und, nein! Es interessiert
mich momentan nicht!"
"Aber es geht dich ebenso viel an!"
"Das Einzige, was mich hier und jetzt anzugehen
hat, ist mein wohl verdienter Schlaf!"
"Du denkst immer nur an dich!"
"Wieso? Ach, lass mich doch zufrieden!"
Plötzlich klopfte es an der der Tür.
Unverzüglich ging Imogen Richtung Eingangstür. Auf ihr Öffnen
hin trat Wai Lonn ins Haus. Ihm sah man die Müdigkeit sehr deutlich
an, schließlich hatte er bisher nicht einmal einen kurzen Schlaf
genossen, wie es Riyonn und Imogen schon getan hatten. Unter seinen dunkelbraunen
Augen zogen sich dunkle Ringe.
"Ich habe euch bei Taron gemeldet."
Riyonn nickte beiläufig.
"Schön, dann können wir ja alle
schlafen gehen!"
"Riyonn!" Imogen begehrte auf.
"Wieso nicht?", wunderte der General sich.
"Weil... weil wir noch etwas zu erledigen
haben."
"Das hat doch Zeit! Dir würde ein bisschen
Schlaf bestimmt auch nicht schaden, Imogen."
Imogen blickte hilflos zu Boden. Männer!
Wai Lonn verabschiedete sich und verließ
das Haus. Riyonn kam auf seine Schwester zu und legte den Arm um sie.
"He, du darfst nicht glauben, dass mir das
vollkommen gleichgültig ist, aber ich weiß, dass der Schlaf
dringender ist, als dieses `Auserwählten-Blabla`. Also reg dich bitte
ab und träum was Schönes." Er lächelte sie über seine
grauen Agen an.
"...meinetwegen. Vielleicht... vielleicht
hast du ja sogar recht...", gab Imogen sich schließlich geschlagen.
Zum Zeichen, dass der Streit beendet war, schloss sie Riyonn in die Arme.
"Schlaf gut!", wünschte sie ihm.
"Meine Wenigkeit wünschen dem Weibe ebenfalls
eine geruhsame Nacht, verzeihen, Tag!", Riyonn knickste höflich vor
Imogen, stahl sich grinsend aus dem Essraum und stakste die knarzende
und ächzende Treppe hinauf.
"Spinner!" Imogen beobachtete ihn nur kopfschüttelnd.
"Was kommt dem überhaupt in den Sinn, mich Weib zu nennen."
Riyonn grinste noch immer. Langsam folgte
Imogen ihm die Treppe in den ersten Stock, von wo aus sie zielstrebig in
ihr Zimmer marschierte und dort, sobald sie auf ihr Bett gefallen war,
einschlief.
* * *
Währenddessen begann Riyonn wieder zu
träumen. Erst erblickte er nochmals Noreel, wie er seine letzten Worte
wiederholte.
Doch dann verschwand der helle Cherubim.
Anstelle Noreels sah er nun ein grässliches Ekel erregendes Monster
in ein blausilbernes Gewand gekleidet, hautlosem Schädel, in dessen
Inneren ein blaues mysteriöses Licht flackerte und je ein Horn links
und rechts. Es starrte ihn finster an und fing an, mit einer geisterhaften
schallenden Stimme zu sprechen.
"Ah, Krone. Du hast Don Diaven schön
zugesetzt. Hoffentlich erholt der Arme sich wieder! Er wird es sich ab
heute zumindest zweimal überlegen, bevor er sich so leichtfertig und
überheblich mit dir anlegt, Krone."
Riyonn wusste nicht, was er von diesem
Wesen halten sollte. Es kannte Don Diaven, soviel stand fest und es war
vermutlich nicht auf seiner Seite.
"Wer und was bist du?"
"Wer ich bin? Ha! Ich hätte dich für
etwas klüger gehalten, Krone. Was für Möglichkeiten bieten
sich dir denn, bei einem genaueren Blick auf mich?", meinte es daraufhin
spöttisch grinsend gefolgt von hohlem Gelächter.
"Ein... ein Dagora?", versuchte sich Riyonn
beim Raten. Doch diese Antwort schlug fehl Das Wesen verzog keine Miene.
"Ein Dämon? Ein Cherubim..."
"Ein, bitte was?"
"Ein Cherubim?", wiederholte sich Riyonn.
Das Wesen verschränkte gereizt seine
knöchernen Arme.
"Beleidige mich nicht in meiner Ehre als
... egal. Du kannst den Meister des Bösen zumindest nicht als einen
Himmelsboten identifizieren, Krone."
Riyonn verstand und blickte das Wesen entsetzt
und mit geweiteten Augen an.
"E-vo-rett.", meinte er beinahe flüsternd.
Der Lich schob ein selbstgefälliges
Grinsen auf.
"Exakt. Du hast es erfasst. Vor dir, niederem
Wesen, steht der schreckliche, grausame, gewaltige, souveräne Herrscher
der Untoten. Gespickt mit der größten existenten schwarzen Magie
Valyars, Krone."
Riyonn, den plötzlich wieder dieselbe
respektlose Schlagfertigkeit überfiel, in Verbindung dieses dunklen
warmen Etwas in sich selbst, wie es beim Gespräch mit Don Diaven der
Fall gewesen war, konnte einen Kommentar zu Evoretts Selbstanpreisung nicht
auslassen.
"Seltsam. Ich hatte mir den sagenhaften
Führer der Lich etwas ausstrahlender, größer und charismatischer
vorgestellt."
In Riyonns Hinterkopf begannen sich Warnschreie
anzutürmen. Sein Kommentar würde bestimmt nicht ohne Folgen bleiben,
versuchte er sich klar zu machen.
"Ha, wenn alle anderen Auserwählten
mit ebenso viel Dummheit gestraft sind, treten ja nur geistliche Kinder
gegen mich an. Dass die Engel uns so wenig zutrauen... oder haben sie nichts
Besseres gefunden? Was auch immer, du bist es scheinbar nicht einmal wert,
dass ich mich überhaupt vorbereite... der nächste wird dich ohnehin
ausschalten, Krone. Anderenfalls, bedauerlich. Ich glaubte, du seiest zu
etwas anderem nütze..."
"Du sprichst in Rätseln! Wenn du mir
irgendetwas erzählen wolltest, das ich wissen sollte, könntest
du das nicht normal sagen?"
"Gegenfrage: Wer hat dir überhaupt
gestattet mich zu duzen?"
"Niemand?"
"Eben!"
"Wieso redest du mich ständig mit
`Krone` an?"
"Wenn du jemals so weit kommst, wirst du
es sowieso erfahren. Aber ich bezweifle ja schon, dass du deine eigene
Dummheit überlebst, Krone!", spottete Evorett und verschwand.
Um Riyonn war es schwarz. Schweißgebadet schreckte Riyonn von seinem
Traum auf. Er saß aufrecht im Bett und verstand die Welt nicht mehr.
Zuviel an Neuigkeiten auf einmal waren auf ihn eingedrungen. Er war Evorett
begegnet, zwar nur in einem Traum, aber doch sehr reell. Nachdem er sich
wieder einigermaßen beruhigt hatte, legte er sich wieder hin und
schlief schließlich nochmals ein.
* * *
Wai Lonn schleppte sich müde zur Kaserne,
der Ausbildungsstatt der Diebe und Unterkunft aller Lehrer, Lehrlinge und
Befehlsstäbe.
"Heil Euch, General Lonn!", grüßte
ihn Sotal Nimbun, gleichrangig mit Lonn, höflich an der Eingangspforte.
"Man vermutete schon, Ihr kämt niemals wieder. Es ist eine Seltenheit,
dass ihr zu Unpünktlichkeit greift."
Wai Lonn versuchte erfolglos den störenden
Kollegen von sich abzuschütteln.
"Besser einmal verspätet, als die Feinde
zu seinen Mitstreitern zu locken, nicht wahr Nimbun?" Verlegen schnaufte
Sotal Nimbun laut auf.
"Das Wetter soll sich verschlechtern, meint
Crazen Scroll", wechselte er rasch das Thema, von seinem Missgeschick ablenkend.
"Wer hat das behauptet? Crazen? Der meint
doch auch, dass die Sonne scheint, wenn seine Kleider vom Regen völlig
durchweicht sind."
"Fürwahr, bisher hatte unser Wettergenie
nicht viel Glück, was seine Prognosen anbelangt. Vielleicht hat er
beim Bau seiner selbst konstruierten Instrumente auch nur gepfuscht. Er
macht sich eben doch nur als Doppelklingenkämpfer gut, wenn er nicht
gerade, wie so oft, blau ist. Früher war er noch besser drauf... tja,
aber die Zeiten ändern sich eben. Wie auch immer, er deutete heute
in der Taverne warnend auf ein ungeheuerlich gewaltiges Sommergewitter
hin. Außerdem erwähnte er noch was, von einem Hochwasser. Aber
die einzigen Wolkenfetzen, die ab und an auftauchen, würde ich als
kleinen Jahreszeitenirrtum des Wetters bezeichnen, und deshalb fiel Regen
und ähnliches seit mindestens zwei Monden aus. Das ist doch das schöne
am Sommer, die Sonne scheint und man kann in den lauwarmen Nächten
die Taverne aufs Korn nehmen."
Lonn schmerzte der überbeanspruchte und
schlafbedürftige Kopf.
"Elender Säufer. Dass dir das Zeug nicht
zu Kopf steigt ist ein Wunder der Natur. Wir sehen uns, Nimbun. Schönen
Tag auch, ich muss meinen Augen eine Pause gönnen." Nimbun nickte
verständnisvoll.
"Selbstverständlich, Ihr hattet Euren
Schlaf ja noch gar nicht. Ach, bevor ich es vergesse Euch mitzuteilen,
Risa war heute früh schon in der Kaserne und hat sich nach Euch erkundigt."
Sotal Nimbun unterdrückte ein Lachen. "Sie schien sehr besorgt, als
man ihr mitteilte, Ihr seiet noch nicht zurückgekehrt."
"Mir ist völlig egal, was diese Frau
tut, nur soll sie sich keine Hoffnungen machen und mich endlich in Ruhe
lassen. Ich weiß, dass ihr hier in der Kaserne es unheimlich lustig
findet, dass sich Risa in mich verguckt hat. Wie interessant, die Zeit
damit totzuschlagen, zu wetten, wie sie mich das nächste Mal wohl
wieder versucht zu umarmen und mir was weiß ich noch aufzuzwingen,
was ihr glücklicherweise noch nie gelungen ist. Nimbun, ich kann mir
nicht vorstellen, was diese Frau an mir findet, und wieso sie das ausgerechnet
an mir tut. Wenn Ihr es als so furchtbar toll empfindet, wie sie mich ständig
terrorisiert, warum meldet Ihr Euch nicht freiwillig als Heiratskandidat?
Ich bin glücklich verliebt und brauche diese abgedrehte Schrulle kein
bisschen. Selbst wenn ich das nicht wäre, diese Frau ist so abartig
bescheuert und dermaßen hässlich, was kümmert es mich,
dass sie die einzige Tochter von Freygos Lei, meinem Zimmermitbewohner
und unserem Sprengstoffexperten ist."
Mit gestresstem Seufzen wandte Wai Lonn sich
der Tür zu seinem und Leis Zimmer zu. Nun neugierig geworden folgte
Sotal Nimbun ihm.
"Ihr seid verliebt? Darf man den Namen dieses
Mädchens erfahren?"
"Nein!", meinte Lonn desinteressiert. "Sonst
erführe die ganze Stadt im Laufe des Tages davon!" Hastig schüttelte
Nimbun den blondbehaarten Kopf.
"Nicht doch, was denkt Ihr. Ist sie hübsch?"
Statt einer Antwort knallte Lonn die Tür vor Nimbuns Nase zu. Aber
Nimbun reichte das nicht als Grund, endlich abzuziehen.
"Das ist nicht fair, Lonn. Ich verrate Euch
doch auch immer alles. Lonn! Lonni? Wai alter Kumpel!"
Total fertig fiel Wai Lonn ins Bett und versuchte
einzuschlafen. Doch Freygos Lei, der am anderen Bett innerhalb des Raums
auf der Bettkante saß, und Lonns Mitbewohner war, ließ Lonn
seine Ruhe nicht.
"Auch schon angekommen? Risa fragte nach Euch.
Sie war sehr in Sorge über Euren Verbleib."
"Hm." Lei knetete seine Unterlippe zwischen
den Fingern.
"Mehr sagt Ihr dazu nicht? Es ist eine Ehre
für einen Mann, wenn sich eine so wunderbare Frau wie Risa um einen
sorgt. Sie hat sich wirklich seit meiner Ankunft verrückt gemacht,
weil Ihr noch nicht da wart. Ich hörte eben, dass Ihr verliebt seid.
Selbstredend habe ich nicht gelauscht, doch Euer und Nimbuns Gespräch
war von derartiger Lautstärke, dass man es durch die Tür schwerlich
überhören konnte. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange
ich schon auf diesen Augenblick gewartet habe. Natürlich hatte ich
erwartet es käme früher dazu, da sie ja so außerordentlich
hübsch und von solcher Grazie ist, aber lieber jetzt erst, als zu
spät, nicht? Risa wird sich unheimlich über diese Nachricht freuen.
Doch trotzdem gestattet bitte, dass ich frage, was gab Euch den letzten
Ruck, dass Ihr gemerkt habt, dass Ihr in Risa verliebt seid?"
Urplötzlich setzte sich Lonn im Bett
auf.
"Ich bin von lauter Idioten umgeben! Durchlöchert
wen anders mit Euren dämlichen Fragen! Ich bin todmüde und sehne
mich nach nichts mehr, als ein bisschen Schlaf. Ist das so schwer zu verstehen?"
"Entschuldigt, Lonn. Ich wollte Euch sicher
nicht beim Schlafen stören. Am besten wird es sein, ich verlasse den
Raum und trinke ein kühles Bier in der Taverne beim alten Wirt Dran,
zur Feier des Tages."
"Zur... bitte was?" Wai Lonn seufzte.
Freygos Lei stand auf und ging hinaus. Habe
ich nur das Gefühl, oder sind heute alle dran und drauf mich zu nerven?
fragte Lonn sich am Ende seiner Nerven. Erst die Torwachen, dann Taron,
danach Sotal Nimbun, und zuletzt Freygos Lei mit seiner Tochter Risa. Seit
längerem belästigte ihn diese verrückte Schwerverliebte.
Freygos, als ihr Vater, hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Risa und
Wai Lonn zusammenbekäme. Die anderen Bewohner der Kaserne machten
sich einen Witz daraus, die ständige nervenaufreibende Geschichte
um Lonn und seine Verehrerin zu verfolgen, und schlossen darüber sogar
Wetten ab. Der einzige, der davon nichts mitbekam, war der Vater jenes
Mädchens.
Lei glaubte seine Tochter wunderschön
und unheimlich aufreizend. Mit dieser Meinung stand er allerdings alleine.
Seit der Sprengstoffexperte seine Frau Jira verloren hatte, sagte man ihm
einen Tochterkomplex nach. Ganz stimmte diese Behauptung aber nicht, er
war hauptsächlich an seiner Arbeit am Sprengstoff interessiert, seine
Tochter Risa war zweitrangig. Deshalb hatte man das hitzige Mädchen
des Öfteren schon ihrem Vater Sprengstoff-Fetischist nachrufen hören.
Lonn wusste nicht an wem er sich so sehr schuldig gemacht hatte, dass Risa
ausgerechnet in ihn vernarrt war. Vielleicht würde sich das eines
Tages legen. Aber bis dahin war der bedauernswerte General Risa schutzlos
ausgeliefert, da Lonn sich strikt weigerte, mithilfe von Gewalt in den
eigenen Reihen irgendetwas zu erreichen, selbst wenn es darum ging, sich
Risa zu entziehen.
Bald schlief Lonn über diesen Gedanken
hin ein. Obgleich er auch mit Stiefeln und Rüstung im Bett lag, ruhte
er bequem und entspannt, denn wenn man todmüde ist, geplagt worden
von den Waffen der Feinde und Freunde, kann einem nichts ohne weiteres
die Ruhe nehmen, wenn er nur im Bett liegt.
* * *
Riyonn reckte sich. Nun ausgeschlafen blickte
er blinzelnd aus dem Fenster. Die Abendsonne stand tief am Horizont und
der Himmel dunkelte. Die Baumkronen des Sichelwalds Cios schillerten in
allen erdenklichen Grüntönen im fahlen Licht des aufgehenden
Mondes.
Riyonn war tief in Gedanken über Gerjyho-Zuras
Brief, Noreels Auftrag, seiner Begegnung mit Evorett und Don Diaven vertieft,
als die Tür zu seinem Zimmer aufgestoßen wurde und Imogen hinein
trat.
"Abend, Riyonn."
"Abend. Na, auch ausgeschlafen?" Lächelnd
ging er an Imogen vorbei aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zur Tür.
Imogen betrachtete seine Frisch-aus-dem-Bett-gepurzelt-Frisur.
"Ich wundere mich wieder einmal, wie geschwind
du es schaffst, deine Haare zu bürsten. Oder tun sie das von selbst?"
Riyonn betrachtete seine wild gewachsenen
schwarzen Haare.
"Darauf schaut doch keiner. Es sind die inneren
Werte, die wirklich zählen!"
"Trotzdem wirkt es sehr ungepflegt, wenn man
mit derart zerzausten Zotteln herumläuft, und diese Zotteln dann auch
noch Haare schimpft."
"Außer dich stört das doch keinen."
"Wohin gehst du überhaupt?"
"Ich schaue mal bei Taron vorbei..." Damit
drehte er ihr den Rücken zu und verließ das Haus. Draußen
atmete er tief die abendliche laue Luft ein. Der Wind kräuselte seine
ungekämmten Haare. Bald schon würde die Sonne hinter dem Horizont
verschwinden. Riyonn liebte die Abenddämmerung. Selten am Tag war
so wenig los in der Stadt als abends, wenn die Frauen ihre Kinder zu Bett
brachten und die Männer meist in die Taverne von Dran verschwanden,
um meist nicht nur einen zu heben, oder wie jetzt im Sommer in ihren Sesseln
bequem gemacht hatten, und die Nacht dösend empfingen.
Riyonn war da anders; der Abend, die Nacht
– Dunkelheit weckte seit jeher sein Interesse. Sie schienen ihn zu beleben,
vermittelten ein Gefühl von Freiheit. Sie hatten ihm Stille geschenkt
- Stille, wie er sie bei der ständig redefreudigen Imogen und seinem
ewig zurechtweisenden Vater Zoran nie genießen hatte können.
Diese wenigen Momente des Tages hatte Riyonn oft mit Nachdenken verbracht.
Nicht selten hingen die Gedanken, die ihm dabei kamen, mit seiner Identität
zusammen. Niemand wusste wer er und Imogen wirklich waren. Imogen beschäftigte
das weniger, sie lebte fröhlich und ungezwungen im Jetzt. Doch Riyonn
war anders. Er grübelte viel über vergangenes und bevorstehendes.
"Lonn?" Wai Lonn schreckte von seinem Bett
hoch. Jemand war an der Tür.
"Was ist los?" Mürrisch stand er auf
und öffnete.
"Hey, General! Ich wollte Euch bitten mir
ein Gespräch mit Taron zu besorgen." Riyonn konnte sich sein Grinsen
nicht verkneifen, als er die vollkommen zerzauste und verschlafene Gestalt
seines Generals erblickte.
"Hat das nicht bis morgen Zeit? Außerdem,
wieso willst du mit Taron reden?"
"Ich zitiere: Dabei hat er Zoran versprochen
auf uns aufzupassen und für uns zu sorgen. Gruß von Imogen.
Ich würde gewissermaßen Selbstmord begehen, wenn ich mich selbst
zu Taron vorlade, oder etwa nicht?"
Lonn fasste sich an den Kopf und ließ
seine schwarzen Haare durch die Finger gleiten, grummelte irgendetwas Unverständliches
von: Man sollte niemandem ein Versprechen geben, solange es Leute gibt,
die das ausnützen...
"Na schön. Warte einen Augenblick." Wai
Lonn streifte mit einem Hornkamm kurz durch die verstrubbelten Haare und
band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.
"Würde dir auch einmal gut tun, diese
Art von Körperpflege", meinte Lonn spöttisch als er Riyonns Zottel
musterte. Dieser jedoch zuckte nur mit den Schultern. Wai Lonn schloss
leise die Türe hinter sich, damit Lei nicht davon aufwachte, der sich
bereits am frühen Abend schon zu Bett gelegt hatte.
Gemütlich und langsam spazierten Wai
Lonn und Riyonn Katapura den Steinweg der Hauptstraße entlang zum
Hause Tarons.
"Was willst du von Taron eigentlich?", unterbrach
Lonn das Schweigen.
"Dies und jenes. Ich habe es mir eigentlich
so genau noch nicht überlegt. Ich dachte daran, ihm einige Fragen
zu stellen." Riyonn schaute gen Himmel. Die rote Abendsonne war schon fast
hinter den Gipfeln des Kmihon-Gebirges verschwunden. Die Dämmerung
warf ein oranges Licht auf die Ziegeldächer der Fachwerkhäuser.
Letzte Vögel verstummten, Nachtschwärmer beendeten ihren Tagschlaf.
"Ich bezweifle, dass Taron es begrüßt,
zu so später Stunde noch besucht zu werden.", überlegte Lonn
laut.
"Er wird müssen. Schließlich seid
Ihr einer seiner Generäle", entgegnete ihm Riyonn selbstsicher. Der
General gab ein Gähnen von sich.
"Zumindest kann ich immer noch dich für
schuldig erklären, falls er wütend wird."
"Das würdet Ihr nicht tun!", meinte Riyonn
überzeugt.
"...möglich."
Sie erreichten das große aus groben
Steinbrocken zusammengesetzte Gebäude Tarons. Zielstrebig ging Riyonn
zu der schweren eisenbeschlagenen Eichentüre und klopfte an. Bald
vernahmen sie Schritte aus dem Inneren des Hauses. Ein Guckloch wurde aufgeschoben.
"Wer begehrt Einlass?", hörten sie die
heisere und entkräftete Stimme Juizul Arms, der alte Nachtwächter
Tarons. Lonn trat an Riyonn vorbei vor das Guckloch.
"Ich, General Lonn. Ich erbitte mir mit Taron
sprechen zu dürfen, Arm."
"Zum letzten Mal, Herr General, Ihr dürft
und sollt mich Juizul nennen. Meinen Beinamen weiß ich selber doch
auch." Mit fröhlichem Kichern schob der Alte den Riegel der Türe
zurück und öffnete sie.
"Ah, der Junge von Herr Zoran Vieotan, möge
er in Frieden ruhen und selig sein." Riyonn zwang sich ein höfliches
Lächeln ab. Er konnte es beim besten Willen nicht leiden, Junge genannt
zu werden. Mit seinen knapp sechzehneinhalb Jahren sah er sich mehr als
erwachsenen Mann.
"Heil Euch, Herr Arm!", grüßte
er zurück.
"Juizul, mein Lieber, Juizul!" Der Alte zeigte
bei einem breiten Grinsen alle seine schwarzen abgestumpften Zähne.
Lonn packte Riyonn am Arm und zerrte ihn ins Haus hinein, vorbei an Juizul.
"Komm schon!"
In der großen düsteren, mit Marmorplatten
ausgelegten Eingangshalle standen zu beiden Seiten zwei riesige Steinsäulen.
Ein großer weinroter Vorhang grenzte den Eingangsbereich von Tarons
Wohnstatt ab. Im Dunkel des Raums sah Riyonn ein Paar orange Augen auf
sie zukommen.
"Was führt meinen General des Nachts
zu mir?", erschall plötzlich die Stimme Tarons.
"Vieotans Kleiner verlangt nach einem Gespräch
mit Euch. Dafür bat er mich um Vorsprache." Neugierig auf Tarons Reaktion
blickten Lonn und Riyonn zu dem Mutanten.
"Er soll verschwinden!" Der Zorn in Tarons
Stimme war deutlich herauszuhören.
"Wartet, Taron! Sagt Euch der Name Noreel
etwas?", wagte Riyonn sich zu einer Frage.
"Nein!" Taron starrte Riyonn finster in die
grauen Augen.
"Es ist besser wir gehen, Riyonn.", versuchte
Lonn Riyonn zur Umkehr zu bewegen.
"Aber Ihr könnt mich nicht einfach hinausschicken!
Das ist unfair. Ihr seid ein Feigling, ja, nur ein Feigling drückt
sich auf solche Weise vor etwas." Hilflos sah Riyonn zu Lonn.
"Im Grunde hat er nicht ganz Unrecht Taron,
er..."
"Seid Ihr sein Vormund, Lonn? Nein, seid Ihr
nicht, also seid Ihr nicht befugt für ihn vorzusprechen.", begehrte
Taron auf. Lonn zögerte kurz, dann meinte er:
"Zoran hat mir seine Kinder anvertraut. Rein
theoretisch bin ich also sein Vormund." Lonn konnte sich nicht erklären,
weshalb er plötzlich so für den Quälgeist Riyonn einsprang.
Wahrscheinlich war es ein Akt seiner nicht immer steuerbaren Warmherzigkeit.
"So seid Ihr denn als Vormund von Imogen und
Riyonn Katapura bestimmt, was aber nichts an der Sache ändern muss."
Taron winkte Juizul Arm herbei. "Schreib auf, was ich eben gesagt habe."
"Jawohl, Meister!" Juizul knickste vor Taron
und langte nach einem Stück Papier und einer Feder in seinem Beutel.
Hastig kritzelte er Tarons Worte darauf.
"Erledigt, mein Herr!" Doch Taron kümmerte
sich des Weiteren nicht um seinen Angestellten.
"Ich werde dir auf deine vorher gestellte
Frage eine Antwort gewähren. Könntest du sie nochmals wiederholen?"
Sein Glück gar nicht fassend blickte
Riyonn zu Taron.
"Kennt Ihr Noreel?"
"Ja! Und nun hattest du deine eine Frage,
Katapura. Juizul?"
"Ja, Meister?"
"Die Herren möchten hinaus. Geleite sie
bitte zur Tür."
Riyonn war verwirrt.
"Das war alles? Ein einfaches Ja?"
"Du hättest deine Frage anders formulieren
müssen, Kleiner. Auf die Frage, die du gestellt hast, waren Nein oder
Ja die einzig möglichen korrekten Antworten. Gute Nacht!" Taron grinste.
Folgsam schob Juizul die Besucher zur Tür hinaus.
"Er hat mich reingelegt! Er hat genau gewusst,
was ich hören wollte und absichtlich anders geantwortet. Dieser miese
verlauste...!", erregte sich Riyonn. Ohne zu überlegen zog er seinen
Lyk-tai und drängte sich an Juizul vorbei wieder ins Haus.
"Halt!", Lonn ergriff Riyonn am Kragen und
zog ihn zurück. "Zügle dein Temperament!"
In Riyonns Augen schien ein roter Funke entzündet
zu sein. Etwas Warmes und finsteres schoss durch Riyonns Adern. Das schwarze
"Ding" in ihm kämpfte gegen seinen Käfig an.
Juizul schloss und verriegelte eilig die Tür.
Als Lonn Riyonn losließ, trommelte der wutentbrannt gegen die Eichentür.
"Lasst mich rein! He, ihr Feiglinge! Schlappschwänze!
Rattenbrut!"
"Riyonn!" Lonn zerrte ihn von der Tür
fort. "Beruhige dich. Du benimmst dich ja schon fast so schlimm wie Risa."
"Risa?" Riyonn blickte verwirrt zu dem General
und ließ von der Tür endgültig ab. Der Drang des Stroms
erstarb. Lonn seufzte.
"Risa Lei, die Tochter von Freygos Lei, unserem
Sprenger. Er ist mein Zimmermitbewohner, musst du wissen."
Riyonn hatte sich schnell wieder beruhigt.
"Man sagt, sie wäre Eure Verehrerin."
"Man sagt viel, wenn der Tag lang ist.
Besonders Leute wie Sotal Nimbun, oder Crazen Scroll... und wie die Trottel
sonst noch alle heißen. Sei’s drum. Als dein Vormund finde ich, könntest
du mich eigentlich mit Wai anreden, und das formelle Ihr statt dem Du vergessen
wir auch."
Riyonn nickte einverstanden.
"Na schön, Wai. Dann wünsche ich
dir noch einen erholsamen Schlaf – bis morgen."
Wai lächelte.
"Gute Nacht."
Dann trennten sich ihre Wege, Lonn ging Richtung
Kaserne und Riyonn trat den Heimweg zu Zorans Haus an. Wai Lonn, der sich
die Nacht hindurch wenigstens Ansatzweise ein bisschen Erholung gönnen
wollte, und Riyonn, der nachdachte. Zu viel nachdachte. Nachdachte über
all die Dinge, die ihm seit dem Vortag durch den Kopf schwirrten und nach
Antworten schrieen.
© Itariss
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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