Tohidoo von Triss
Prolog

"Ich taufe dich im Namen Gottes, der dich von nun an begleiten und vor allen bösen Mächten schützen wird..."
Der Kaplan näherte das kleine Wesen in seinen Händen dem sprudelnden Quellwasser. In dem Moment zogen schwarze Wolken über den Himmel und ließen die Sonne verschwinden. Ein eiskalter Wind entlockte den Versammelten einen ängstlichen Schrei. Aus den Wolken dröhnten Donner und Blitz, der Wind blies immer stärker, als wollte er das kleine Geschöpf den schützenden Händen des Kaplans entreißen...
Plötzlich klang eine helle Stimme durch die Dunkelheit:
"Weichet!"
Die Wolken verzogen sich ängstlich, und auch der Wind legte sich sofort. Die warmen Strahlen der Sonne erhellten wieder die Lichtung und alle konnten sehen, wie sich einen Augenblick lang eine weiße Gestalt über den Täufling beugte und ihm liebevoll in die kleinen, glänzenden Augen sah...
Der Kaplan nässte das zarte, wuschelige Köpfchen.
"Ich taufe dich auf den Namen Tohidoo..."

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Kapitel I

Als er an diesem Morgen aufwachte, spürte Moff sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Einen Moment lang lag er still und versuchte darauf zu kommen, was es war. Sein Kopf war aber noch voller merkwürdiger Träume, die das Denken unmöglich machten. Er rieb die Augen, streckte seinen haarigen kleinen Körper, setzte sich ins Moos und begann sein Fell zu bürsten.
Und mit einem Mal fiel es ihm ein: Heute war es soweit. Das schönste aller Wesen sollte gerade an diesem Tag zu ihnen in den Wald kommen und alles das mitbringen, worauf sie so lange gewartet hatten – Blätter, Blumen, Vögel, Sonnenstrahlen, warme Nächte. Heute sollte Saloe, die Blumenkönigin, übers Meer kommen. Moff seufzte verträumt und glücklich.
Ein erbärmliches Quietschen riss ihn aus den Gedanken. Die ganze Wurzel, unter der sich seine Höhle befand, zuckte erschrocken zusammen, und etwas rollte mit Schwung durch den Eingang, knallte gegen die hintere Wand und piepste:
"Heute heute heute... der Frühling hast du schon daran gedacht was du ihm schenken wirst? Kim sagt sie mag keinen Schnee meinst du sie hat recht? Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben weißt du ich habe so ein tiefes tiefes Loch gegraben fast bis auf die andere Seite der Welt..."
Immerzu plappernd rollte sich das kleine Geschöpf auseinander, stand auf und schüttelte etwas Gras von seiner schmutzigen Hose. Jetzt sah man, dass es ein kleines Mädchen war, kaum größer als Moff, mit karottenfarbenem Haar, das hinten zu einem langen, glänzenden Pferdeschwanz zusammengebunden war. Ihr Gesicht war rund und über und über mit Sommersprossen bedeckt, mit einer kleinen Stupsnase und großen grünen Augen. Der breite Mund war immerzu in Bewegung.
"...darin war es so kalt wie in einer sehr sehr kalten Speisekammer und da habe ich ihn rein getan damit er nicht schmilzt..."
"Guten Morgen, Biem", antwortete Moff und begann nun auch noch das Moos zu bürsten, das zufrieden raschelte. 
"Das kannst du laut sagen! Noch nie war ein Morgen so gut, wie der, an dem der Frühling wiederkommt. Vielleicht schaut sie sich meinen Schnee wenigstens an, sie hat doch sicherlich nie welchen gesehen..."
Als er fertig war, griff Moff nach einem kleinen Bündel, das er schon vor langer Zeit vorbereitet hatte. Während er unter der Wurzel hervor kroch, hörte er hinter sich Biems piepsige Stimme.
"Oh, gehst du schon? Warte. Warte, warte, warte! Ich komme mit ich will sie auch begrüßen und von meinem Schnee erzählen und von meinem Messer mit dem man alles schneiden kann habe ich dir schon davon erzählt also vor etwa zwei Tagen ja es waren zwei Tage denn Kim war gerade weg um ein paar neue Dinge zu finden sie mag auch neue Dinge genau wie ich..."
Moff seufzte. Morgens war es immer besonders schlimm. In der langen Zeit, in der er Biem kannte, hatte er jedoch gelernt, ihre piepsige Stimme zu überhören. Das tat er auch jetzt.
"Guuuuuuuten Moooooooorgeeen, Mmmmoff", erklang es tief und dumpf von über ihren Köpfen.
"Guten Morgen, Dargaa", begrüßte Moff die Eiche, unter der er von Kindheit an wohnte. "Freust du dich schon auf deine Blätter?"
Auf eine Antwort wartete er jedoch nicht, die hätte zu lange gedauert.
Während sie durch den Wald gingen, und Biem von all den fantastischen Dingen erzählte, die sie besaß, sah Moff sich aufmerksam um. Der Wald sah beunruhigend trostlos aus. Schnee lag hier schon lange nicht mehr, alles, was von ihm übrig geblieben war, waren braune, schlammige Pfützen. Die faden Bäume hatten wahrscheinlich schon längst vergessen, wie ihre Blätter ausgesehen hatten. Ihre Äste hingen grau und lustlos an ihnen herab. Das Gras war ausgetrocknet, die Büsche kahl, die Luft unangenehm feucht und modrig. Aber das war noch nicht das Schlimmste: Es gab keine Farben. Das heißt, es gab sie, aber sie waren blass und leblos, als läge ein unsichtbarer Schleier auf ihnen. Gestern hatte zu alldem noch eine unerträgliche Stille den Wald erfüllt.
"Wenigstens ist das heute anders", dachte Moff. Ein aufgeregtes Knistern lag in der Luft. Alle Pflanzen schienen eifrig zu flüstern und zu seufzen. Überall huschte etwas im Geäst herum, von allen Seiten kamen Waldbewohner, grüßten einander, lachten, tauschten ein paar Höflichkeiten aus oder riefen sich fröhlich etwas zu. Da waren Erdtrolle, Zwerge, Gnimpfe, Feen, Elfen, Humms, Menschen und noch vieles, vieles mehr, und alle hatten sie ein gemeinsames Ziel: Das Meer.
Schließlich tauchte es vor ihnen auf. Moff sah es zum ersten Mal nach vielen Monaten, denn er fand, dass Strandspaziergänge im Winter und Vorfrühling etwas sehr Trauriges und Beunruhigendes an sich hatten. Das Wasser war dunkelgrau und bewegt, gerade so, als wollte es den ganzen Strand verschlingen und in seine Tiefen reißen. Sogar Biem hörte auf zu reden und starrte mit großen Augen auf die donnernden Wellen.
"Komm, wir klettern auf eine Klippe", sagte Moff und zog Biem hinter sich her. Sie setzten sich auf den Klippenrand und blickten erwartungsvoll zum Horizont. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, und da der Himmel wolkenlos war, hätte es eigentlich sonnig und warm sein müssen. Und doch war der Tag grau und kalt, und ein merkwürdiger Nebel lag über dem Wasser.
Der Strand wimmelte von Geschöpfen, die ebenfalls ungeduldig in die Richtung schauten, aus der immer Saloe über das Meer gekommen war...
"Sollte sie nicht schon da sein?" fragte ein besorgte Stimme hinter ihnen.
"Guten Tag, Dadun!" piepste Biem erfreut, als sie Moffs besten Freund, einen Baumjungen, erblickte.
"Meinst du, sie verspätet sich?" fragte Moff, den Blick nicht vom Horizont reißend. "Das tut sie doch sonst nie."
"Ich weiß nicht. Ich habe so ein schlechtes Gefühl."
Dadun setzte sich neben seinen Freund, und gemeinsam starrten sie in die Ferne. Nur Biem hüpfte pausenlos auf und ab. 
"Dadun du weißt ja noch gar nicht was ich für die Blumenkönigin habe - Schnee!!!" Erwartungsvoll schaute sie ihm in die Augen und war sehr enttäuscht, als er, statt ihre fantastische Idee zu loben, nur leise seufzte:
"Irgendwas stimmt nicht..."
Jetzt wurde es auch ihr betrübt zumute, und sie setzte sich, ausnahmsweise schweigend, zu den Beiden.

So saßen sie lange, ohne dass jemand etwas sagte. Sie wurden immer betrübter und fragten sich, was dem Frühling wohl zugestoßen sein mochte.
Am ganzen Strand hatten sich Hunderte von Wesen niedergelassen und warteten immer ungeduldiger. Hier und da tauchten kleine Lagerfeuer auf, an einigen wurde gesungen und getanzt. Manchmal huschte lachend eine Elfe an ihnen vorbei, denn Elfen waren sehr optimistisch und ließen sich nur schwer ihre gute Laune verderben.
Langsam wurde es dunkel. Moff schaute nachdenklich auf sein kleines Bündel. Dann nahm er es und wickelte es auf. Drinnen waren große, glänzende Eicheln, die schönsten, die er finden konnte - sein Geschenk für den Frühling.
"Ich glaube, sie wird nicht böse sein, wenn wir..."
"Och, aber auf keinen Fall," piepste Biem entzückt und nahm ihm das Bündel aus den Händen. "Es ist nicht nett, sich so zu verspäten..." meinte sie noch nachdenklich, während sie eine Eichel nach der anderen in ihren kleinen Mund stopfte. "Oh, Entschuldigung," sagte sie, als Moff ihr das Bündel aus den Händen nahm und mit vorwurfsvollem Blick Dadun reichte. Der holte aus seiner Tasche eine riesengroße Walnuss, und sie aßen.
Plötzlich wurde es laut unter den Wartenden unten am Strand. Moff stand auf und schaute hinunter. Alle hatten sich dicht unter der Klippe versammelt und riefen und murmelten aufgeregt.
In ihrer Mitte stand ein ansehnlicher, hellblauer Elf mit großen blauen Flügeln und silbernen Augen.
"Das ist ja Fatom der Bote des Königs Fatom Fatom Fatom!!!" Biem sprang quietschend von einem Beinchen auf das andere und ihre grünen Augen leuchteten vor Aufregung.
"Tatsächlich," flüsterte Moff verwundert.
 

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Und schon geht es weiter zum 2. Kapitel... :-)

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