Tohidoo von Triss
Kapitel II

"Ruhig, beruhigt euch doch meine Lieben", hörte man Fatoms klare Stimme. "Daran kann im Moment niemand etwas ändern." Aber das half kaum. Überall wurde nervös geschnattert und getuschelt. Dadun hielt es nicht mehr länger aus und rannte die Klippe hinunter. Moff sah, wie er sich durch das aufgeregte Knäuel von allen möglichen Wesen einen Weg bahnte (Biem natürlich hinterher) und schließlich einen freundlichen Knicks vor dem blauen Boten machte. Die beiden kannten sich sehr gut, denn vor langer Zeit war Dadun oft heimlich mit in die Botenschule gegangen, was einem Baumjungen natürlich nicht zustand. Als Fatom dann schließlich seine Botenflügel erhalten hatte und in den Dienst Seiner Königlichen Hoheit getreten war, hatten ihre Wege sich getrennt. Jetzt standen die Freunde sich wieder gegenüber und sprachen sehr leise miteinander. Endlich schaute Dadun zu Moff hinauf, und der traurige Glanz seiner Augen verriet nichts Gutes.
"Der Frühling wird nicht kommen," sagte er schließlich so laut und so deutlich, dass allen mit einem Mal die volle Bedeutung dieser Worte klar wurde. Alle wurden mit einem Schlag still und schauten ihn mit großen Augen an. Man hörte nur noch das müde Kreischen der Möwen.
"Das ist ja furchtbar," brach eine helle, entsetzte Stimme das Schweigen. Sie gehörte einer hübschen kleinen Fjonddame und sprach genau das aus, was alle dachten.
Fatom folgte Daduns Blick und sah geradewegs in Moffs traurige Augen. Er nickte ihm bedeutend zu, löste sich vom Boden und flog zu ihm auf den Rand der Klippe.
"Du bist Moff, nicht wahr?"
"Ja."
"Der König möchte dir etwas Wichtiges sagen," sagte Fatom und versuchte sich von Biem loszureißen, die hinter ihm her auf die Klippe gerannt war, um an seinen Flügeln zu zupfen. "Er bittet dich, gleich mit mir zu kommen."
"Der... König?"
Biem ließ sofort die blauen Flügel los und schaute Moff  entgeistert an.
"Der KÖNIG möchte dich persönlich sprechen? Hast du etwas verbrochen? Hast du etwas aus dem königlichen Schatz gestohlen... und MIR nicht gezeigt? ..."
Weder Moff noch Fatom beachteten sie.
"Komm, wir haben keine Zeit zu verlieren," sagte der blaue Elf, nahm Moff bei der Hand und trug ihn mit sich in die Luft.
"So was... ," murmelte Dadun in Gedanken versunken während Biem losrannte, um allen zu erzählen, dass Moff in etwas sehr geheimnisvolles und ernstes verwickelt war.
Moff war noch nie zuvor geflogen. Berauscht schaute er auf den Wald, der jetzt weit unter ihnen lag und so klein und bedeutungslos schien, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, dass er die Heimat von Millionen kleiner und großer Kreaturen war und zugleich selber lebte und atmete wie jedes einzelne Geschöpf, das in ihm lebte. Er war nur noch ein Teppich aus verworrenem Geäst, in dem kleines Ungeziefer herumkroch. Der Eindruck war umso stärker, da auf keinem Zweig ein Blatt zu sehen war, und alle Farben mit einem grauen Schleier verdeckt waren.
Auf einmal lichtete sich der Wald und gab ein rundes, mit trockenem Gras überwuchertes Gelände frei. Am Rand der merkwürdigen Lichtung stand ein riesiger Baum. Moff hatte noch nie so einen Baum gesehen. Seine Krone ragte hoch über die anderen Baumspitzen hinaus, der dunkelbraune Stamm war ungewöhnlich breit und hatte Hunderte von kleinen, großen, dicken und dünnen Ästen, die in alle Himmelsrichtungen wuchsen. Wenn man ein bisschen länger hinsah, merkte man, dass sich überall in den Ästen etwas bewegte. Sie mussten erst ganz nah an den Baum heran fliegen, damit Moff erkennen konnte, dass es ganz kleine grüne Elfen waren - die königlichen Gehilfen! Er hatte schon oft von diesem Baum und seinen geheimnisvollen Mächten gehört, war jedoch ganz von seinem Anblick bezaubert.
Sie landeten auf einem dünnen Zweig irgendwo sehr weit vom Boden entfernt und... Moff spürte, wie ihn eine unsichtbare Kraft ergriff und in den Stamm hinein sog. Als er wieder klar denken konnte, standen sie in einem kleinen, hölzernen Gang.
"Wir müssen uns beeilen," sagte der Elf ungeduldig und zog ihn mit sich. Sie jagten durch ein unendliches Netz von Gängen, und Moff verlor schnell jegliches Gefühl von Zeit und Ort. Überall herrschte eine unirdische Atmosphäre. Ein nicht erklärbares Licht hüllte die hölzernen Wände in einen grünlich–silbernen Glanz. Ein frischer und zugleich warmer Wind wehte von irgendwoher nach irgendwohin und trug einen süßen, wonnigen Duft mit sich. Ewiges Rauschen und Plätschern verriet, dass überall Unmengen von Wasser flossen.
Und dann, irgendwann, mündete der Gang in einen großen Raum. Eigentlich ahnte Moff nur, dass es ein großer Raum war, denn er wurde sehr geblendet und blieb verwirrt stehen. Langsam gewöhnten seine Augen sich jedoch an das Licht, und er erkannte die Gestalt eines kleinen Jungen vor sich. Zuerst nur die Umrisse, dann das lange blaue Kleid und die kurzen, schwarz–silbernen Haare und endlich das weiße Gesicht mit den großen, türkisen Augen. Er konnte seinen Blick nicht mehr von diesen Augen wenden, aus denen so viel Zauber und Güte sprachen. Sie schienen ihn in ihren Bann gezogen zu haben, in den Bann einer fesselnden und schleierhaften Erinnerung...
"Moff... ," sagte eine helle, junge Stimme, und Leve, der König des Zauberwaldes, streckte ihm seine weißen Hände entgegen. Auf seinem Mund lag ein warmes Lächeln. "Ich habe auf dich gewartet."
Moff reichte ihm seine kleinen Hände und schaute traurig und fragend in die großen Augen.
"Ich kann mich nicht erinnern..."
"Das macht nichts," antwortete der König ruhig. "Jetzt ist nicht die Zeit für derartige Erklärungen. Bald wirst du alles erfahren."
Und plötzlich sah Moff in seinen Augen so viel Trauer und Schmerz, dass er sofort begriff, dass etwas schreckliches passiert sein musste.
"Der Frühling ist nicht gekommen," sagte der König dann, und seine kindliche Stimme war voller Sorge.
"Er verspätet sich vielleicht nur!" rief Moff und kam sich sogleich schrecklich blöd vor. Leve schüttelte den Kopf.
"Er wird nicht kommen, Moff, nicht, solange du uns nicht hilfst."
In seinem Blick konnte Moff lesen, dass diese Augen gar nicht einem kleinen Jungen gehörten, sondern einem reifen und gescheiten Wesen, dem reifsten und gescheitesten Wesen des Waldes.
"Warum... ich?" stammelte er verwundert. Es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass ein so kleines Wesen wie er jemandem bei etwas bedeutendem helfen könnte und erst recht nicht jemandem wie dem König des Waldes oder der Blumenkönigin.
Der König erahnte seine Gedanken und rief zwei kleine Elfenmädchen herbei. Sie flogen zu einem blauen Vorhang, den Moff bis dahin nicht bemerkt hatte, und zogen ihn bei Seite. Ein großer, glitzernder Springbrunnen kam zum Vorschein, mit einer breiten Muschel als Becken. Klares, silbernes Wasser floss rauschend und sprudelnd von oben ins Becken und schimmerte in allen Farben.
"Schau hinein," antwortete der König auf Moffs fragenden Blick.
Moff senkte die Augen und blickte tief in das klare Wasser. Plötzlich wurde es ruhig wie ein Spiegel, aber er sah nicht sich selbst, sondern ein wunderschönes Gesicht mit grünen, traurigen Augen, in denen silberne Tränen glitzerten.
"Das ist sie..." flüsterte er erschrocken. "Warum weint sie?"
"Sie wird festgehalten. Schau..."
Das Gesicht verschwand und Moff sah nun eine weite, hügelige Landschaft. Die Bäume waren völlig ausgedörrt und verschrumpft, die Erde und das Gras kohlschwarz. Ein grauenhafter Nebel hing über dem Boden und hüllte alles in Finsternis und Trauer. Der Himmel war düster und lichtlos, und ein tiefes, schadenfrohes Grollen klang dumpf aus den Höhen. Moff musste schnell den Blick abwenden.
"Was ist das?" fragte er erschrocken.
"Das Böse," antwortete Leve traurig. "Die Schwarze Macht."
"Hält sie die Blumenkönigin gefangen?"
"Ja, und sie ist auf dem Weg hierher."
Das Bild verschwamm wieder, und nun erschien ein riesiger, steiler Felsen aus dunkelgrauem Stein.
"Das ist dein Ziel, Moff. In diesem Berg haben sich die dunkelsten Mächte dieser Welt versammelt und bewachen Saloe."
"Wie sehen sie aus?"
"Sie können alle Gestalten annehmen und in fast alle Kreaturen eindringen. Sie leben von jedem schlechten Gedanken in unserem Kopf und von jeder bösen Tat, die wir vollbringen. Bekämpfen kann man sie nur mit allem, was gut ist."
Der finstere Felsen verschwamm, und das Wasser wurde wieder klar und glänzend.
Moff löste die Augen von der Muschel und traf den aufmerksamen Blick des Königs.
"Du hast einen langen und sehr gefährlichen Weg vor dir. Du selber musst wählen, wen und was du mitnimmst. Aber eines möchte ich dir geben."
Er schloss für einen Augenblick die Hand, und als er sie wieder öffnete, lag in ihr ein kleines Amulett an einer silbernen Kette. Es war rund und schimmerte zauberhaft in allen Farben, genau wie das Wasser im Springbrunnen. Der König hängte es Moff um den kleinen Hals.
"Rodin wird dir helfen, den richtigen Weg zu wählen, und wird dich vor Bösem warnen. Jetzt wird es aber Zeit, dass du dich auf den Weg machst. Draußen wartet eine Elfenbotin auf dich, die bringt dich nach Hause."
Der König sah dem kleinen Wesen noch einmal ernst, jedoch liebevoll in die Augen und flüsterte: "Gott sei mit dir und beschütze dich." Moff überkam wieder eine starke, neblige Erinnerung. Er hätte am liebsten noch tausend Fragen gestellt, warf dem hölzernen Gang einen schnellen Blick zu und wollte sich dem König wieder zuwenden... aber der war schon verschwunden, als wäre er nie wirklich da gewesen. Moff kam sich jetzt ein wenig verloren und hilflos vor. Unsicher trat er einen Schritt nach vorne, um sein Glück im Gängelabyrinth zu versuchen, es wurde ihm ein wenig schwindelig, und er merkte, dass er auf dem Baumzweig im hellen Sonnenlicht stand. Bevor er sich überhaupt wundern konnte, nahm eine grüne Elfin ihn bei der Hand, und der zauberhafte Flug begann wieder.

Als Moff wieder zu Hause war, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er kuschelte sich sogleich ins Moos und flüsterte ihm leise "Gute Nacht" zu. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf...
...Eine alte, runzlige Frau lächelte ihn an. Sie hatte braune, warme Augen und ein liebes Gesicht. "Mutter Natur braucht dich," flüsterte sie immerzu...
 

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Und schon geht es weiter zum 3. Kapitel... :-)

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