Tohidoo von Triss
Kapitel IV

Völlig in Gedanken versunken trottete Moff den lehmigen Gang entlang und neben ihm hüpfte Biem, die sich nur ungern von der Urgroßmutter verabschiedet hatte. Auch er wäre viel lieber noch länger geblieben, denn er hatte tausend Fragen an das einzige Familienmitglied, das er kannte. Aber die alte Frau meinte, dass es viel zu früh für weitere Erklärungen sei. Sie sprach von Spionen und Guten Mächten, die noch reifen müssten, und schickte sie schnell fort. Was konnte sie nur damit gemeint haben?
Erst als der Weg zur Seite bog und aus dem Loch vor ihnen Tageslicht in den Gang strömte, erinnerte sich Moff an die Freunde draußen. Er ergriff Biems Hand und rannte los.
"Wir müssen sehen, ob ihnen nichts passiert ist. Diese Ungeheuer waren wieder in der Nähe," keuchte er, während sie unter der Wurzel hervor krochen, die sogleich wieder in die Erde versank.
Zu seiner Erleichterung fand Moff seine Freunde tief schlafend.
"So ein Glück," seufzte er. "Eigentlich müsste man wieder ordentlich mit dir schimpfen. Man darf nicht einfach seinen Wachtposten verlassen und die Schlafenden Ungeheuern zum Fraß zurücklassen, aber..."
"...aber du kannst nicht mit mir schimpfen, weil ich die Urgroßmutter zur Ordnung gerufen habe?" unterbrach Biem hoffnungsvoll. "Ich konnte doch nicht einfach zusehen, wie du von einer Wurzel verschluckt wirst, ohne auch mal einen Blick in dieses komische Loch zu werfen..."
"Lassen wir das," ging er ihr schnell ins Wort. "Jetzt müssen wir überlegen, was weiter zu machen ist. Die Spione sind uns auf den Fersen." Er schaute sich ängstlich um. "Wenn es aber tatsächlich Diener des Bösen sind, vertragen sie wahrscheinlich kein Tageslicht. Vielleicht haben sie deshalb Ghanas und Dadun nicht gefunden..." Einen Moment lang saß er still an die Eiche gelehnt und Biem wagte nicht, seine Gedanken zu unterbrechen. Dann sprang er plötzlich auf und lief wieder zu dem Gebüsch, in dem Ghanas schlief.
"Biem, klettere schnell auf den Baum und weck Dadun, aber leise! Wir müssen sofort los."
Ein paar Minuten später eilten sie schon zwischen den Bäumen in Richtung Norden.
"Was ist überhaupt passiert, als wir geschlafen haben? Warum hast du uns nicht geweckt?" fragte Ghanas aufgeregt.
Biem ließ sich nicht zweimal fragen (obwohl die Frage natürlich gar nicht an sie gewandt war) und schnatterte los.
"Eine riesige Wurzel kam aus der Erde und verschlang Moff ich stürzte ihm sofort zu Hilfe und die Urgroßmutter sagte  dass Moff sein falscher Name ist denn der richtige ist zu gefährlich und er lautet..." In dem Moment landete sie auf der Erde, von Moff angefallen und mit seiner Pfote auf ihrem Mund. Unendlich überrascht starrte sie ihn mit großen Augen an, und dasselbe taten Dadun und Ghanas.
"Verdammt, Biem! Das sind Dinge, die man nicht durch den ganzen Wald ruft," flüsterte Moff.
"Es tut mir schrecklich leid," flüsterte Biem zurück, sobald Moff seine Hand weggenommen hatte. Dann stieg er wieder auf das Pony und erzählte leise seinen immer mehr verblüfften Freunden, was unter der Eiche passiert war.
"Die Ungeheuer müssen irgendwo dicht an uns vorbeigezogen sein," sagte er schließlich. "Sie sind uns auf der Spur. Wir müssen unbedingt versuchen, sie abzuhängen. Höchstwahrscheinlich sind wir ihnen tagsüber überlegen, denn ihre Sinne sind an die Dunkelheit gewöhnt und fürchten die Sonne. Deshalb müssen wir so weit wie möglich vorwärts kommen, solange es hell ist."
"Da hast du wahrscheinlich Recht," nickte Ghanas. "Sie scheinen eindeutig hinter uns her zu sein," fügte er besorgt hinzu.
Sie kamen jetzt sehr schnell voran. Das kleine Pony trabte mit Moff und dem Gepäck auf dem Rücken, nebenher lief Ghanas, hinten Dadun, sich immer wieder um sich schauend. Biem rannte schweigend neben Dadun, und obwohl das Tempo der 'Großen' für ihre kleinen Beinchen doppelt so anstrengend war, lehnte sie es immer wieder ab, mit Moff zu tauschen.
"Ich...bin über...haupt...nicht müde..." keuchte sie und Moff zuckte lächelnd die Schultern.
Sehr bald fing die Umgebung an, sich zu verändern. Der Wald lichtete sich immer mehr und bald waren sie an seinem Rand angelangt. Vor ihnen erstreckte sich eine hügelige, mit grau-grünem Gras bewachsene Landschaft, auf der nur ab und zu ein einsamer Baum oder Strauch vor sich hin träumte. Rechts in der Ferne glitzerte das Meer. Die Sonne stand schon ziemlich hoch am nebeligen Himmel.
"Na wunderbar!" seufzte Ghanas. "So sehr ich vorher aus dem Wald hinaus wollte, so sehr wünschte ich jetzt, er würde nie enden. Hier kann man uns meilenweit sehen."
"Hier ist es aber auch sehr hell," gab Dadun zu bedenken. "Auch wenn die Ungeheuer genau wissen werden, wo wir sind, glaube ich nicht, dass sie uns einholen werden... solange es Tag ist," fügte er hinzu.
"Also nichts wie los. Je weiter wir kommen, bevor es dämmert, desto besser," sagte Moff und sprang vom Pony ab. "Biem, keine Wiederrede!" sprach er und wies auf das Pony. Das kleine Mädchen krabbelte gehorsam auf den breiten Rücken und setzte das Tier in Trab. Die Anderen bemühten sich mit ihm Schritt zu halten. Für Moff war das besonders anstrengend, und bald war er so atemlos, dass er sich protestlos von Ghanas auf den Rücken nehmen ließ.
Nach einigen Stunden sehr intensiven Marsches kamen sie an einen besonders steilen Hügel. Erschöpft machten sie sich daran, ihn zu besteigen und merkten zu ihrer Verwunderung, dass sie sehr leicht vorankamen, fast als gingen sie auf gerader Ebene. Schnell kamen sie oben an und blieben überrascht stehen. Sie befanden sich sehr hoch, viel höher als sie gedacht hätten, und konnten vom Rücken des Hügels weit über die Ebene blicken. Die grünen Hügel gingen hier in graue, hohe Felsen über, die im Osten steil ins Meer fielen. Hier und da konnte man dunkelgrüne Sträucher erblicken, die stur aus den steinernen Wänden wucherten, und manchmal wuchs auf einer Klippe ein niedriger, verkrüppelter Baum. Direkt am Meer entlang führte ein schmaler, sandiger Weg, der weiter nördlich nach links abbog und zwischen den dunklen Klippen verschwand. Ansonsten sah man nichts als graue Felsen bis zum Horizont.
Rechts von ihnen lag groß und dunkelgrün das Meer, auf dem ab und zu ein glitzernder Sonnenstrahl tanzte, dem es gelungen war, durch den geheimnisvollen Schleier, der die Sonne umhüllte, zu dringen.
"Was ist das nur?" murmelte Dadun besorgt.
"Wolken. Das sind Wolken," piepste Biem und konnte gar nicht verstehen, warum ihr Freund so besorgt war.
"Wir müssen den sandigen Weg nehmen, wir haben gar keine andere Wahl."
Biem schrie entzückt auf, sprang vom Pony und rannte den Hügel hinunter in Richtung Strand, stolperte jedoch und rollte fröhlich quietschend über das Gras geradewegs ins Wasser.
Dadun nickte anerkennend, nahm Moffs Hand und zog ihn mit sich den steilen Hügel hinunter. Wenige Augenblicke später rollten auch sie ins Wasser.
Ghanas schüttelte den Kopf.
"Komm," sagte er dann zum Pony: "Wir dürfen diese Spinner nicht zu lange alleine lassen", und er führte das Tier vorsichtig zum Strand hinunter.
Die Sonne machte sich zwar bereits zum Untergehen bereit und schien nicht mehr besonders stark, es wehte jedoch ein warmer, westlicher Wind, und so waren die drei "Spinner" bald wieder trocken.
Der Weg am Strand entlang war besonders angenehm. Das Rauschen der Wellen wirkte beruhigend und ließ sie die grausigen Ereignisse der Nacht schnell vergessen. Die untergehende Sonne warf ihre letzten, wärmenden Strahlen zum Strand bevor sie hinter den Felsen verschwand. Es roch nach Salz und Meertang.
Biem wurde ganz still und seufzte glücklich vor sich hin, während sie immer schönere Muscheln fand und sie in ihre Taschen tat. Plötzlich blieb sie stehen und wisperte aufgeregt: "Hört ihr, hört ihr?" Die Anderen hielten ebenfalls an und lauschten in die Dämmerung hinein.
Zuerst hörten sie nur das ruhige Rauschen des Meeres und das Plätschern der Wellen, die den Strand streichelten. Doch schon bald konnten sie etwas anderes heraushören, ein leises Summen, das immer lauter zu werden schien, bis sie deutlich eine wunderschöne Melodie wahrnahmen. So etwas hatten sie noch nie gehört. Sie war ergreifend und doch zart, klang wie tausend Stimmen und doch wie nur eine. Sie verfloss sich ganz mit dem Rauschen und Plätschern, war ein Teil von ihm.
"Die Algen singen..." flüsterte Biem.
Sie standen da wie verzaubert. Die süße Melodie durchdrang sie und ließ sie die ganze Welt vergessen. Es gab nur noch Wasser, Schaum und wunderschöne Muscheln...
Und plötzlich schloss sich dem Gesang noch eine Stimme an. Sie war zart wie ein Windhauch und verfloss sich mit dem Lied der Algen, ließ es noch zauberhafter, noch unirdischer klingen. Atemlos schauten sie auf Biem, die jetzt zum Meer gewandt stand, die Augen geschlossen, denn aus ihrem Mund kamen die schönsten Töne, die sie je gehört hatten, und bildeten mit dem Gesang der Algen ein wahrhaft vollendetes Lied.
Keiner wusste, wie lange sie so dastanden, in den Bann der traumhaften Musik gezogen, jedenfalls war es schon dunkel, als Biem verstummte und ihre Freunde wieder auf den Boden der Realität zurückholte.
"Sie singen immer, wenn die Sonne untergegangen ist, um den Mond zu begrüßen."
"Ach du lieber Himmel!" rief Ghanas und schaute erschrocken um sich. Moff schüttelte den Kopf, als wollte er einen Traum vertreiben.
"Das war das Zauberhafteste was ich je gehört habe... aber jetzt sind wir wirklich in Gefahr..."
Ghanas nickte heftig. "Die Spione des Bösen sind sicher schon aufgebrochen um uns zu suchen, und wir stehen mitten auf dem Strand, als würden wir genau auf sie warten."
Hastig liefen sie weiter den Strand entlang. Der Zauber war dahin, jetzt fühlten sie Angst und Unbehagen. Sie hielten sich möglichst nahe an den Klippen. Als nach einiger Zeit der Strand in einen sandigen Weg überging und nach links abbog, hatten sie noch immer nichts Beunruhigendes bemerkt. Bis Moff zufällig auf Rodin schaute.
"Er ist orange!" flüsterte er erschrocken. "Sie können nicht sehr weit sein."
"Lasst uns schnell ein Versteck finden," schlug Dadun vor, aber Ghanas schüttelte den Kopf.
"In der Dunkelheit und auf die Schnelle finden wir sowieso nichts Geeignetes. Außerdem sollten wir uns ihnen besser stellen, als uns zu verkriechen."
"Dann lasst uns anhalten und uns ein wenig ausruhen," schnaufte Moff. "Sonst werde ich euch zumindest nicht behilflich sein können."
Sie fanden ein paar flache Felsblöcke unweit der rechten Felswand, die sich zum Sitzen eignen konnten. Erleichtert ließ Moff sich nieder und streckte die Beine von sich. Sofort spürte er auch, wie ihm die Augen zufielen, doch bei dem Gedanken an das bevorstehende Zusammentreffen überkam ihn eine solche Aufregung und Angst, dass sie den Schlaf sofort vertrieb. Er hatte ein sehr schlechtes Gefühl, und Rodin bekräftigte es, indem er immer dunkler wurde.
Schweigend versuchten sie noch, etwas zu essen, viel kriegten sie jedoch nicht runter. Nur Biem schien völlig gelassen und schnatterte leise:
"Ooooch, das ist ja prima, dass wir die mit den Flügeln wiedersehen werden besonders nett sind die ja nicht und sie wollten mich glaube ich aufessen aber ich sehe sie mir gerne noch mal an vielleicht könnten wir auch ein klein bisschen plaudern..."
So verging eine unruhige halbe Stunde, bis ein eisiger Wind sie plötzlich frösteln ließ. Sie erkannten diese Kälte sofort.
"Das ist kein Wind," flüsterte Dadun. "Es ist der Atem des Grauens, der Hauch des Todes."
"Vergiss nur nicht zu schießen, bevor der Tod dich anhaucht," erwiderte Ghanas bissig, doch seine Stimme zitterte. Dadun antwortete nicht. Diesmal würde er schießen, sobald eines dieser Biester vor ihm auftauchte, er musste schießen, denn ihr Leben hing davon ab. Wenigstens war er sich jetzt sicher, dass er auf Dämone zielte.
Er stand auf und spannte den Bogen. Auch Ghanas und Moff standen kampfbereit im Schatten der Felsen. Nur Biem saß noch da und knabberte an einer Möhre.
"Hör lieber auf zu essen und hol eine deiner tödlichen Waffen heraus," zischte Ghanas. Biem kramte lange in ihrer Tasche, bis sie endlich eine kleine Steinschleuder in der Hand hielt und zufrieden aufseufzte.  Ghanas schüttelte nur ratlos den Kopf.
Der eisige Wind war inzwischen stärker geworden und biss in Gesichter und Hände. Und dann hörte Moff wieder das Fauchen... nur kam es diesmal von oben!
Voller Grauen hob er den Kopf und sah einen tiefen Schatten den Himmel bedecken, der schnell immer größer wurde, bis man auch das Schlagen der schwarzen Flügeln vernehmen konnte.
Zwei dunkle Augen glitzerten auf und jagten auf sie zu. Plötzlich zischte etwas neben Moffs Ohr durch die Luft, gleich darauf heulte das Ungeheuer erbärmlich auf und krachte neben Moff auf die Erde.
Biem lachte entzückt auf. "Ich hab sein Auge getroffen mittenrein und mit so einem spitzen Stein!"
Zum zweiten Mal an diesem Tag fielen drei verblüffte Blicke auf das kleine Mädchen.
Sie hatten jedoch nicht viel Zeit zur Freude, denn jetzt kamen aus der Höhe die nächsten fauchenden Biester auf sie zugeflogen. Diesmal waren es jedoch nicht zwei, sondern fünf oder sechs. Dadun gab einen Pfeil nach dem anderen ab, traf fast bei jedem Schuss (die Entfernung war klein und das Ziel groß), aber nur eine Kreatur stürzte ab.
"Die Augen! Ihr müsst die Augen treffen," schrie Biem voller Begeisterung, während sie einen Stein nach dem anderen abfeuerte. Die Schwarzen Boten, die im ersten Augenblick vor den Steinen und Pfeilen zurückgewichen waren, stürzten jetzt zischend auf sie herab. Ghanas schlug wie wild mit dem Schwert um sich, Moff stach mit seinem Messer.
"Ich habe keine Pfeile mehr!" hörte Moff Daduns verzweifelte Stimme und im selben Augenblick sah er weitere Schatten am Himmel erscheinen. Ihm wurde klar, dass sie es nicht schaffen würden, wenn nicht sofort ein Wunder geschah.
Ghanas begann lautlos ein Gebet zu sprechen.
Dann hörten sie Daduns Schrei. Bevor er sein Messer hatte hervorholen können, hatten sich drei Ungeheuer gleichzeitig auf ihn gestürzt.
An einigen Stellen gleichzeitig durchfuhr ihn ein eisiger, stechender Schmerz. Er fiel rücklings auf die Erde, sah über sich noch ein Paar silberner Augen in einem glänzenden Gesicht... eines der Monster? Aber er hatte keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Das Gesicht schwand dahin, und er verlor die Besinnung.
 
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Und schon geht es weiter zum 5. Kapitel... :-)

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