Tohidoo von Triss
Kapitel VII

Der Himmel war blau. Strahlend blau. Tao lag auf dem Rücken und rührte sich nicht.
"Ich lebe", dachte er immer wieder. Schließlich richtete er sich auf. Das Meer war jetzt ruhig. Er war patschnass und alles tat ihm weh. Wie er hierher gekommen war, wusste er nicht mehr genau. Das Letzte, woran er sich erinnerte, waren schwarze, wütende Wellen, überall Wasser und... ein kleines Brett, an das er sich klammerte. Er lebte.
Langsam stand er auf. Die Sonne musste längst aufgegangen sein, ihre Strahlen glitzerten auf dem ruhigen Wasser. Tao drehte sich um. Er sah eine kleine Insel. Sie bestand hauptsächlich aus weißem Sand, nur in ihrer Mitte wuchsen niedrige Sträucher und kleine, vom Wind verbogene Bäume. Und ein wenig trockenes Gras. Sie war völlig einsam.
Tao seufzte. "Das ist also mein neues Zuhause." 

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Sie waren alle eingenickt. Nel wachte als erste auf und drängte zum Aufbruch. Es war bereits hell.
Moff stand auf und stieg aus dem Wasser. Er überlegte gerade, womit er sich abtrocknen sollte, als er merkte, dass er überhaupt nicht nass war. Taggar stand neben ihm und betrachtete misstrauisch seine Haut, die ungewöhnlich gut aussah. Nel beobachtete ihn mit einem traurigen Lächeln. Auch sie sah heute deutlich besser aus.
"Es wird dir jetzt eine zeitlang besser gehen."
Der Felstroll blickte auf.
"Seit wann hast du das?" fragte er.
"Seit zwei Jahren."
"Ich auch", erwiderte Taggar. Es war das erste und letzte Mal, dass sie über ihre Krankheit sprachen.
Dadun wachte auf. Sie eilten ins Wasser, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Er war noch etwas blass, konnte aber alleine stehen. Er lächelte seine Freunde an.
"Was guckt ihr denn so?"
Die allgemeine Freude unterbrach Nel, die ihnen plötzlich gebot, still zu sein. Aus dem Wald kamen merkwürdige Geräusche. Schnell erkannten sie, dass aus allen Richtungen Gelächter und heller Gesang durch die Bäume drang. Nel schien das sehr beunruhigend zu finden. Sie deutete ihnen an, ihr zu folgen und führte ihr Pferd aus der Lichtung. Schnell schlichen sie einen schmalen Pfad entlang, der steil aufwärts führte. Trotz der Eile fand Moff Zeit, nun im Tageslicht die herrlichen Pflanzen zu bewundern, die sie umgaben. Die Stimmen waren nun hinter ihnen. Schnell lichtete sich der Wald wieder, und sie langten auf dem Rücken eines mit dichtem Gras bewachsenen Hügels an. Nel ließ Vaeel im Gestrüpp zurück und kroch auf allen Vieren durch das Gras. Die Anderen machten es ihr nach. Als sie am Rand des Hügels angelangt waren, legte Nel sich flach auf die Erde und schaute hinunter.
"Seht", flüsterte sie.
Inmitten saftig grüner Bäume und Büsche schimmerte der Elfenteich. Jetzt war er nicht mehr schwarz sondern tiefblau, umgeben von den leuchtenden Farben der Blumen am Strand. Die Lichtung betraten nun lachend immer mehr weiblicher Elfen. Sie hatten kurze, hauchdünne weiße Kleider an und waren barfuss. In die langen Haare hatten sie Blumen gesteckt.
Die Freunde sahen den bezaubernden Wesen atemlos zu. Ghanas gab ab und zu einen Seufzer von sich.
Und dann begannen die Elfen zu tanzen. Noch nie hatten sie so einen Tanz gesehen. Ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren, so geschwind und leicht waren ihre Bewegungen. Sie wirbelten und wanden sich und um sie herum flog goldenes Haar. Sie tanzten im Teich und am Strand zwischen den Blumen. Ihre zarten Stimmen waren wie Maiglöckchen im Wind.
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Kommt nun alle in den Kreis
Und lasst tausend Farben schimmern
Sie uns wilde Wege weist
Wir erfüllen ihren Willen

Mondenschein und Silberbläue
Helles Licht und Nebelstreif
Halten ihr die ew`ge Treue
Niemals nach ihr böses greif

Die Gedanken sich vereinen
In ein zauberhaftes Lied
Hören wir ihr stilles Weinen
Goldner Tau auf ihrem Lid

Aus dem Meer von reinen Seelen
Schweben sie unendlich weit
In der schwarzen Mächte Höhlen
Zu befreien ihren Geist
 
Von des Mondes hellem Glitzern
Süßer Düfte zartem Schweif
Hin, wo scharfe Messer blitzen
Nach ihr Satans Klaue greift

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Moff beugte sich zu Nels Ohr hinüber.
"Sie singen von der Blumenkönigin, nicht wahr?" flüsterte er.
Sie nickte. Biem schlich an ihr anderes Ohr.
"Warum müssen wir uns verstecken? Sie sind doch auf unserer Seite, oder nicht?"
"Wir dürfen sie jetzt nicht stören", antwortete sie. "Es ist ein Ritual. Die Waldelfen sind auf eine besondere Art mit ihr verbunden. Man könnte sagen, sie sind ihre Kinder."
Sie kroch auf allen Vieren vom Rand des Hügels weg und richtete sich auf.
"Gehen wir lieber."
Sie fanden einen Weg, der nach Westen führte, zwischen schlanken Bäumen und merkwürdigen Sträuchern. Alle fühlten sie neue Kräfte in sich erwachen, sie waren endlich trocken, ausgeruht und auf eine unerklärliche Weise sogar satt, obwohl sie lange nichts mehr gegessen hatten. Dadun ging neben ihnen her, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Er war nur besonders schweigsam, und nur Moff merkte, dass etwas in seinen Augen sich verändert hatte.
Er saß vor Nel auf dem Pferd und dachte nach.
"Warum tun die Elfen das?" fragte er schließlich. "Den Tanz, meine ich."
"Ich weiß es nicht genau. Sie verfügen über sehr geheimnisvolle Zauberkräfte. Durch den Tanz geben sie eine Teil ihrer Kraft an die Königin weiter. Wahrscheinlich lebt sie nur deswegen noch..."
Dann schwiegen sie lange und genossen den Geruch des Sommers. Als es dämmerte, waren sie noch lange nicht müde und beschlossen weiterzugehen. 
Nachts war der Elfenwald fast noch schöner. Der Mond tauchte Bäume und Blumen in ein silbernes Licht. Ein Nachtvogel sang ein trauriges und verträumtes Lied.
Moff fühlte sich wie in einem Traum. Erst als der Mond hinter den Wolken verschwand, fing es an, ihm unbehaglich zu werden. Wieder waren sie nachts im Wald, nur diesmal war es nicht der Zauberwald, ihr Zuhause. Sie waren weit weg, in einem fremden, dunklen Wald. Unbewusst rückten sie etwas zusammen und begannen schneller zu gehen. Das Rauschen der Blätter war plötzlich unangenehm geworden. Es klang, als ob ihnen aus allen Richtungen aufdringliche Stimmen etwas zuflüstern würden.
"Hört ihr das auch?" fragte Ghanas und blieb stehen.
"Ja", sagte Nel düster.
"Was ist das?"
"Ich weiß es nicht."
"Es sind Geister", flüsterte Biem aufgeregt. Sie lauschten eine Weile. Jetzt war nichts zu hören. Plötzlich hörte Moff die fürchterliche Stimme direkt an seinem Ohr vorbeisausen.
"Psssssssssssssssst..."
Er zuckte entsetzt zusammen und sah sich um. Es war nichts zu sehen. Auch Nel musste es gehört haben, denn sie trieb das Pferd an und schrie etwas, was Moff nicht verstehen konnte. Fast wäre er vom Sattel gefallen, griff in die schwarze Mähne und klammerte sich fest. Sie galoppierten ein Stück, hielten an und sahen sich um. Stille. Auf einmal wieder ganz nah:
"Pssssssssssssst..."
"Etwas ist hier!" schrie Nel und drehte Vaeel im Kreis. Wieder war nichts zu sehen.
"Wir müssen hier weg, Nel", rief Moff. Er begann zu zittern.
Sie ritten blindlings in den Wald. Der Hufschlag übertönte die Geisterstimmen, aber Moff spürte deutlich, dass sie noch da waren.
Schwarze Bäume sausten an ihnen vorbei, manchmal schlug ein Zweig ihm ins Gesicht. Er spürte Nels Atem im Nacken, denn sie hatte sich weit vorgebeugt.
Er warf einen Blick auf das Amulett. Es war weiß.
Ganz plötzlich zog Nel die Zügel an. Wieder wäre er fast gestürzt.
"Schau", keuchte sie und deutete nach rechts.
Weit vor ihnen leuchtete etwas zwischen den Bäumen. Nel lenkte das Pferd in diese Richtung und ritt los, jedoch langsamer. Es war ein warmes Licht, wie von einem Lagerfeuer. Und dann blieben sie wieder stehen, denn es war etwas zu hören...
Schweigend bewegten sie sich auf den Lichtfleck zu.
"Es ist Gesang", flüsterte Moff.
Noch ein Stück näher... Nel seufzte verblüfft. Sie konnten jetzt deutlich die Worte hören.
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Hola Hola Hola Ho
Rumpel Dumpel buntes Klo
Heidi Heidi Heidi Hei
Hampel Mampel
Hohles Ei
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Moff drehte sich um. Nel zuckte die Achseln und lächelte leicht.
"Schauen wir mal nach."
"Wo wohl die Anderen sind", murmelte Moff besorgt.
"Erst prüfen wir dieses Licht, dann suchen wir sie."
Sie stiegen ab und schlichen vorsichtig näher. Um ein großes Feuer saßen viele Gestalten und sangen und lachten. Sie hatten helle, piepsige Stimmen, und als sie näher gekommen waren merkten sie, dass sie klein und pummelig waren.
"Gnome", sagte Nel überrascht, lächelte wieder und trat in den Lichtkreis. Für einen Augenblick wurde es still, und alle schwarzen Knopfaugen richteten sich auf die Frau im Umhang. Dann stand einer der Gnome auf und verbeugte sich leicht.
"Sei gegrüßt, holde Dame", piepste er und wandte sich an Moff, der hinter Nel zum Vorschein trat. "Und auch du, eee...edler Herr."
Hinter ihm ließ sich ein unterdrücktes Kichern hören. Moff lächelte. Ihm gefielen die lustigen Wesen.
"Ich bin Nel und das ist mein Freund Moff. Wir haben uns verlaufen, weil etwas merkwürdiges uns verfolgt hat."
Die Gnome begannen aufgeregt zu flüstern, dann sprach ein besonders kleiner mit einer roten Zipfelmütze.
"Habt ihr Stimmen gehört?"
Moff nickte.
"Ach", Rote Mütze machte eine abfällige Handbewegung. "Das waren nur Waldgeister. Setzt euch doch. Wollt ihr was essen?"
Moff spürte plötzlich, wie müde und hungrig er geworden war.
"Wir müssen noch unsere Freunde suchen", sagte er und schauderte bei dem Gedanken an die Geisterstimmen in der Dunkelheit.
Jetzt meldete sich ein runzliger, alter Gnom zu Wort, der etwas abseits an einen bunten, hölzernen Wagen gelehnt saß.
"Waren es vier?"
Moff  nickte.
"Ein Schütze, ein Troll, ein Mensch und ein Wildfang?"
"Ja",  sagte er erfreut. "Hast du sie gesehen?"
"Nein", sagte der Alte nur und schloss die Augen.
"Aber..." Rote Mütze nahm ihn schnell am Arm und zog ihn beiseite, bevor er noch etwas sagen konnte.
"Schscht! Stör ihn jetzt nicht, sonst wird er wirklich böse. Setzt euch lieber. Eure Freunde werden wohl auch bald auftauchen."
Moff hätte sich wirklich am liebsten an das ruhig knisternde Feuer gesetzt, aber sie hatten keine Wahl.
"Wir sehen uns nach ihnen um und kommen dann zurück", sagte er, drehte sich um und stutzte – denn er blickte geradewegs in Biems grinsendes Gesicht.
"Wen willst du denn suchen gehen?" 
Die Lichtung betraten jetzt auch die anderen Drei und Moff atmete erleichtert auf.
"Wie seid ihr denn hergekommen?" 
"Wir sind vor den schrecklichen Stimmen weggerannt die immer psst psssst machten und sind gerannt und gerannt und gerannt und haben das Licht gesehen und nun sind wir hier." Biem holte tief Luft und lächelte breit.
Sie setzten sich alle zu den Gnomen, die sehr erfreut darüber schienen, und wärmten sich am Feuer.
Moff kratzte sich am Kopf. "Ich frage mich nur, wie ihr so schnell hierhin gekommen seid, wo ihr doch zu Fuß wart..." murmelte er.
"Vielleicht seid ihr ja einen Umweg geritten", erwiderte Ghanas, der keine Lust hatte, darüber nachzudenken.
"Ja ja", hörten sie wieder den Alten brummen. "Die Elfengeister wissen, was sie tun."
Moff fand ihn irgendwie unheimlich, deswegen ließ er das Thema bleiben und erzählte den Gnomen stattdessen, wie sie in den Elfenwald gelangt waren.
"Oooo", rief eine kleine Gnomin entzückt. "Ihr kommt aus dem Zauberwald? Das ist doch da, wo die Bäume sprechen können und alle möglichen Wesen in Frieden miteinander leben, nicht wahr? Und wo es so viele komische Geschöpfe gibt, weil sich die Rassen immerzu mischen?"
"In Frieden?" Dadun sah von der Kartoffel auf, die er gerade schälte. "Wie meinst du das?"
"Na, es gibt keine Kriege und so", murmelte die Kleine mit vollem Mund.
"Naja, manchmal gibt es schon Streit..." erwiderte er nachdenklich. Ghanas bewegte sich unruhig.
"Du meinst, woanders kämpfen die Rassen miteinander?"
"Überall", sagte sie und nickte eifrig. "Aber ihr seid ja wirklich große Glückspilze", meinte Rote Mütze. "Das in den Felsgängen war wohl Kroak. Ihr habt ihn geweckt und lebt noch. Das ist großes Glück."
"Ein Felsengeist?" brummte Taggar.
"Ja, ja, genau, aber der schrecklichste von allen. Man kann sich nicht rühren vor Schreck, wenn man ihn nur ansieht", erzählte der Gnom fröhlich.
Moff schauderte bei der Erinnerung an ihr Felsabenteuer. "Gesehen haben wir ihn Gott sei Dank nicht. Wir sind aber auch so genug erschrocken."
"Was macht ihr eigentlich hier?" fragte Nel, als alle eine Weile schwiegen und an ihren Kartoffeln herumkauten.
"Oooo, tut mir leid," rief Rote Mütze und sprang auf. "Wir haben uns ja gar nicht vorgestellt! Ich bin Kuku, und das sind meine Freunde Papu, Dadu, Pudu, Dupu, Lolo, Humo,..."
Es folgte eine lange Reihe derartiger Namen, während die kleinen pummeligen Wesen nacheinander aufstanden und sich lachend verbeugten. Es schien ihnen großen Spaß zu machen.
"Wir sind nach Andrien unterwegs, um unsere Sachen zu verkaufen."
Die Freunde blickten Kuku verständnislos an. Als er nur grinsend zurückschaute, fragte Ghanas:
"Eure Sachen? Wieso wollt ihr sie verkaufen?"
Er sah sich um und merkte jetzt, dass um die Lichtung, im Schatten der Bäume, ein paar kleine, voll bepackte Wagen standen, neben denen ein paar Ponys angebunden waren.
"Wir verkaufen immer Sachen", antwortete Kuku nur und stimmte ein Lied an.
Nel beugte sich zu Ghanas hinüber und flüsterte:
"Sie sind wohl Händler - vielleicht auch Diebe. Passt auf euer Zeug auf." Er nickte.
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Der Schnuddelputz
kriecht pudelwutz
ins Nudelfutz
mit Triedelfitz
und Schnaddeldatz.
Die Friedelkratz
macht Krabbeldatz
und hat ein kniede
Schnuddelfratz.
Friedelie, firedela!
Friedelie, friedela!
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"Kuku! Hej Kuku!" Biem zog ihn stark am Arm, damit er aufhörte zu singen und sich ihr zuwandte.
"Warum haben eure Lieder keinen Sinn?"
Der Gnom machte große Augen.
"Sinn? Wozu?"
"Na, was bedeutet das denn, was ihr da singt?"
"Bedeuten? Warum sollte es etwas bedeuten? Lieder sind doch zum singen da, nicht zum bedeuten."
Biem runzelte die Brauen und saß einen Moment lang still da. Dann stimmte sie mit ein.
Sie bekamen wunderbare Wolldecken von den Gnomen, denn obwohl im Elfenwald alles blühte, als wäre es Sommer, waren die Nächte doch ziemlich kalt. Sie legten sich alle dicht beieinander, nahe ans Feuer. Bald hörte man nur das Knistern der Flammen und das leise Rauschen der Blätter. Nach den Erlebnissen dieses Abends fühlten sie sich jetzt ruhig und behaglich. Sie schienen hier erstmal sicher zu sein. Bald glitten alle in einen tiefen Schlaf.
 
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Und schon geht es weiter zum 8. Kapitel... :-)

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