Das Tor zwischen den Welten von Klaus-Peter Behrens
V. Kapitel: Elfen und Trolle

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Die Freunde hatten überraschend gut geschlafen und waren voller Tatendrang. Gegen Mittag ließen sie den dichten Wald endgültig hinter sich, doch es sollte Nachmittag werden, bevor sie in der Ferne das Siebenhügeldorf erblickten. Der erste Eindruck war erstaunlich. Häuser, Hütten und sonstige Bauwerke waren rund um die sieben Hügel am Fluß in einem wirren Durcheinander errichtet worden. Das Ganze wirkte, als hätte sich ein Kind mit seinem Baukasten ausgetobt und in gelegentlichem kindlichen Zorn, auch einmal den einen oder anderen Bauklotz wütend in die Gegend geworfen oder darauf getreten. Im Hafen sah es auch nicht besser aus. Ohne erkennbares System lagen dort die unterschiedlichsten Schiffe vor Anker. Tom fiel besonders ein großer, prächtig geschmückter Schoner auf, der sich deutlich von den anderen Schiffen unterschied. Es war eines der wenigen Schiffe, das nicht so aussah, als würde es gleich nach der Hafenausfahrt sinken.
"Gefällt es euch?" Gart war ganz offensichtlich stolz, ihnen die erste Zivilisation außerhalb Medaras präsentieren zu können.
"Dantes Inferno hätte besser gepaßt ", bemerkte Tom. Auch Dean war sicher, dass jeder Bauplaner bei diesem Anblick verzweifelt wäre. Vorsichtig fragte er: "Sehen alle Dörfer bei euch so aus?"
"Oh nein", erwiderte Gart stolz, "das hier ist etwas Besonderes, sozusagen das Aushängeschild der Dörfer Grünlands."
"Ihr solltet lieber ein Warnschild hinhängen: Vorsicht tollwütige Bauherren", sagte Tom sarkastisch.
"Wie soll ich das verstehen?", fragte Gart streng. Er mochte es nicht, wenn jemand sein Lieblingsdorf beleidigte.
"Er meint", beschwichtigte Dean den Zwerg, "dass es ganz toll ist, wie die Leute hier gewütet haben, um das Dorf aufzubauen und dass man das mit einem Schild würdigen sollte."
"Ach so." Gart war besänftigt.
"Werden wir mit diesem Schoner weiterfahren?", fragte Tom, um den Zwerg abzulenken und zeigte auf das prächtig geschmückte Schiff, das ihn immer noch interessierte.
"Nein", der Zwerg runzelte die Stirn, "das dort unten ist ein Handelsschiff für das offene Meer. Derartige Schiffe sieht man nicht oft am Silberfluss. Wir nehmen morgen die Fähre."
"Dann werden wir heute also im Dorf übernachten?", fragte Dean, der inzwischen etwas müde von dem langen Ritt war, hoffnungsvoll.
"Ja, unten gibt es eine gute Herberge. Sie heißt "Zur letzten Einkehr" und wird euch gefallen." Gart lenkte seinen Schnapper den Hügel hinab.
"Zur letzten Einkehr, klingt nach Zwergenküche."
In böser Vorahnung folgte Tom dem Zwerg.
Aus der Nähe wirkte das Dorf erstaunlich groß. Viele Wege, Verzweigungen und eine hohe Verkehrsdichte ließen es eher wie eine lebhafte kleine Stadt erscheinen. Neben Reitern auf Schnappern und den ersten Pferden, die die Freunde seit ihrer Ankunft in dieser Welt sahen, waren viele Karren, mit den unterschiedlichsten Sachen beladen, unterwegs. Dazwischen drängten sich unzählige Fußgänger und spielende Kinder. Da es keine Verkehrsregeln gab, war die Geräuschkulisse beträchtlich. Wer am lautesten schreien konnte, kam weiter. Den Freunden gefiel es.
"Wie bei uns während der Rushhour", stellte Tom erfreut fest. In einer kleinen Seitenstraße hielten sie schließlich vor einer Schmiede an. Das Gebäude war einstöckig. Im Erdgeschoß befand sich eine große zweiflügelige Tür, die offen stand und den Blick auf das Innere frei gab. Tom erhaschte einen Blick auf ein loderndes Feuer und diverse Ambosse, als ein Zwerg ins Freie trat und Gart herzlich begrüßte. Wie die Freunde erfuhren, stammte der Zwerg namens Drom auch aus Medara und wurde von Gart regelmäßig mit Waren beliefert. Als Freunde weniger Worte kamen die Zwerge auch gleich zum Geschäft.
"Jetzt heißt es Verhandeln", erklärte Gart und zwinkerte den Freunden zu, "und das kann dauern. Laßt eure Schnapper hier und versucht schon einmal, im Gasthaus ein Zimmer zu bekommen. Ihr findet es am Marktplatz."
"Und womit sollen wir bezahlen? Ich glaube, Dollar nehmen die hier nicht." Widerstrebend gab Gart ihnen ein paar Goldmünzen.
"Aber gebt es ja nicht für irgendetwas anderes aus, klar?", ermahnte er sie.
"Wie Kloßbrühe", erwiderte Tom mürrisch und strich resigniert ein opulentes Mahl, das er sich in Gedanken schon bestellt hatte, von seiner Wunschlliste. Die Freunde machten sich also auf den Weg. Gart hatte ihnen geraten, sich einfach von der Menge mitreißen zu lassen, da ohnehin alle zum Markt unterwegs waren. Tatsächlich fanden sie sich so kurze Zeit später auf einem lebhaften Platz wieder. 
"Da hinten ist es." Dean wies auf ein großes zweistöckiges Gebäude auf der anderen Seite des Platzes, an deren Frontseite zwei grüne Fahnen wehten und über deren Eingangstür unübersehbar das Wort Gasthaus und der Name "Zur letzten Einkehr" prangte.
"Na dann wollen wir mal", sagte Tom und stürzte sich in das lebhafte Gewühl. Überall auf dem Platz versuchten Händler, ihre Ware an den Mann oder die Frau zu bringen. Hände griffen ständig nach ihnen, so dass sie all ihre Überredungskunst brauchten, um ohne Neuanschaffungen das andere Ende zu erreichen. Kaum hatten sie das überstanden, erwartete sie eine  Überraschung. Vor der Tür des Gasthauses stand ein etwa 2,10 Meter großes Wesen, das nach Deans Schätzung mindestens zweihundert Kilogramm wog. Die Gesichtszüge waren wie aus Stein gemeißelt. Wulstige Lippen unter einer breiten Nase, kleine stechende Augen und buschige Augenbrauen, eingerahmt von einem wirren Haar- und Bartgestrüpp, ließen zumindest Zweifel an den intellektuellen Fähigkeiten des Wesens aufkommen. Die Keule hingegen, die der Unhold über der Schulter trug, ließ keinen Raum für Fehlinterpretationen. Wer damit in Kontakt kam, brauchte sich über seine Zukunft keine Sorgen mehr zu machen. Bekleidet war die Monstrosität lediglich mit einer Art Fellumhang und weiten Lederhosen. Die riesigen, behaarten Füße steckten in Sandalen. Tom grinste bei dem Anblick des Ungetüms. "Jetzt ist endlich das Geheimnis des Yetis geklärt. Er ist im Himalaja in ein Wurmloch gefallen und hier gelandet. Wäre das nicht ein schönes Thema für deine Doktorarbeit?"
"Mach jetzt bloß keine dummen Sprüche", ermahnte Dean ihn ängstlich.
"Keine Panik, ich bin ja kein Selbstmörder."
Die beiden Freunde näherten sich der Eingangstür, doch eine Hand in Baggerschaufelgröße stoppte ihr Unterfangen.
"Eintritt verboten", grollte der Yeti.
"Paß auf, Kumpel..." Tom sprach betont langsam und bemühte sich, gebührenden Abstand zu der mörderischen Pranke zu halten, "...dies hier ist ein Gasthaus. Da haben Gäste immer Zutritt. Siehst du, dort oben steht es: G-a-s-t-h-a-u-s." Demonstrativ zeigte Tom auf das Wirtshausschild, doch dies schien denYeti nicht zu beeindrucken.
"Eintritt verboten", brummte er stoisch.
"Hör mal, wir hatten wirklich einen harten Tag und würden uns jetzt gerne in einem schönen, ruhigen Zimmer ausruhen. Dagegen hast du doch bestimmt nichts, oder?" Tom sah ihn um Verständnis bittend an, doch der Yeti schien ihm entweder nicht zugehört zu haben oder ihm war Toms Wunsch völlig egal. Wie auch immer, die Antwort blieb dieselbe.
"Eintritt verboten!"
Tom wurde allmählich wütend, Dean blaß.
"Jetzt reicht es mir allmählich, du flohverseuchte Yeti-Imitation, wenn du glaubst..."
"Eintritt verboten", unterbrach ihn der Yeti.
"Das gibt es nicht", regte Tom sich auf. "Ich versuche hier eine Konversation mit einem Relikt aus der Steinzeit zu führen, dessen IQ kaum an eine halb vertrocknete Zimmerpflanze heranreicht, und alles was dieses Urviech sagen kann ist..."
"Eintritt verboten", ließ sich der Yeti wieder vernehmen.
Tom raufte sich verzweifelt die Haare, dann sah er seinen Freund an.
"Na los", forderte er ihn auf. "Du bist doch der Biologe. Also, da ist eine primitive Lebensform, die offenkundig Schwierigkeiten hat, sich in der zivilisierten Welt zurechtzufinden. Überzeuge sie davon, dass sie in den Urwald gehört und endlich Platz macht."
Dean sah den Yeti an. Der schaute zurück und schien für wissenschaftliche Vorträge nicht gerade empfänglich zu sein. Dean fragte sich, was Darwin wohl in dieser Situation gemacht hätte. Ihm war alles andere als wohl zumute. "Äähmm...", begann er, wurde aber gleich wieder von dem Yeti unterbrochen.
"Eintritt verboten."
Zur Bekräftigung seiner Aussage, nahm das Monstrum seine Keule von der Schulter und stellte sie vor Dean auf den Boden. Deren Anblick erinnerte ihn an die Mammutbäume in seinem letzten Urlaub in den Redwoods. Allerdings hatten die keine Eisenspitzen gehabt, jedenfalls nicht, so weit er sich erinnern konnte. Einige der Spitzen wiesen auch noch rote Verfärbungen auf. Dean wollte lieber nicht wissen, wo sie herkamen.
"Äähhh, du wirst im Hafen verlangt", sagte er lahm in der Hoffnung, der Yeti würde darauf reinfallen. Stattdessen stürzte er diesen in ein geistiges Desaster. Er war es gewohnt, einen Befehl zur Zeit auszuführen. In diesem Fall war der Befehl eindeutig: "Bewache diese Tür und lasse niemanden hinein". Dass er jetzt auch noch im Hafen verlangt wurde, verwirrte ihn. Er fühlte sich überfordert.
"Ab in den Hafen", half Tom nach. "Das ist das große Becken mit Wasser drin. Kann man gar nicht verfehlen, immer da lang."
Aufmunternd sah er den Yeti an und wies mit der Hand nach links. Ob sich da das Hafenbecken befand oder nicht, war ihm dabei völlig egal, Hauptsache, King Kong gab die Tür frei. Dieser dachte inzwischen intensiv nach und kratzte sich am Kopf. "Gleich fängt er an, aus den Ohren zu rauchen, wetten?" Tom grinste Dean an. Doch der Yeti rauchte nicht, sondern kam zu dem Ergebnis, dass er in diesem schwierigen Fall Hilfe brauchte.
"Wartet!", stieß er hervor, drehte sich um und verschwand. In der Eile vergaß er seine Keule. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie um und hätte Dean beinahe erschlagen.
"Und was jetzt?", fragte der erschrocken.
"Na was wohl? Wir verkaufen seine Keule und machen uns einen schönen Nachmittag. Du kannst Fragen stellen! Was wir machen?" Tom schüttelte den Kopf. "Wir gehen natürlich auch rein, was denn sonst?", sagte er, doch in diesem Moment ging die Tür wieder auf, und der Yeti erschien erneut, diesmal jedoch in Begleitung einer Frau. Diese unterschied sich auffallend von der struppigen Erscheinung des Trolls. Im Gegensatz zu ihm, war sie äußerst attraktiv, auch wenn ihre hellgrünen Haare und spitzen Ohren deutlich darauf hinwiesen, dass sie jedenfalls nicht der menschlichen Spezies angehörte. Der entschlossene Mund ließ vermuten, dass sie es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Energisch kam sie die Stufen herunter und baute sich vor dem verdutzten, gleich großen Dean auf.
"Was fällt dir ein, meinen Troll so durcheinander zu bringen?", fuhr sie ihn an und ihre braunen, schräg stehenden Augen sprühten Funken. Die Hände hatten sie zu Fäusten geballt und in die Hüfte gestemmt, so dass sie in ihrer grünen, enganliegenden Lederkleidung aussah wie die Mata Hari des Waldes. An ihrem Gürtel hing ein kurzes Schwert, das den Eindruck erweckte, öfter in Gebrauch zu sein.
"Ääähh", erwiderte Dean hilflos, der mit seinen Gedanken ganz wo anders war. Irgendwie war das heute nicht sein Tag. Der Anblick der grün gekleideten Amazone hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Er merkte, wie er puterrot wurde, während das attraktive Wesen immer noch auf eine Antwort wartete und ihn unverwandt anstarrte.
"Soll ich jetzt zum Hafen gehen?", fragte der Troll unsicher.
"Gute Idee", sagte Tom fröhlich.
"Du bleibst hier", herrschte die Amazone ihn an. Der Troll zuckte kurz zusammen, blieb aber gehorsam stehen. Tom versuchte die Wogen zu glätten. "Das Ganze war ein Mißverständnis. Er wollte uns einfach nicht hineinlassen und da haben wir uns einen Scherz mit dem Hafen erlaubt. Warum vergessen wir das nicht und trinken etwas zusammen, um uns näher kennenzulernen? Wir sind neu hier." Er wollte charmant lächeln, was ihm allerdings verging, als er den Blick der Amazone auffing.
"Wenn du demnächst nicht alt aussehen willst, solltest du besser auf deine Zunge achten." Tom wollte gerade zu einer entsprechenden Antwort ansetzen, als eine bekannte, ungehaltene Stimme hinter ihm erklang.
"Was ist denn hier los?" Gart trat zwischen die Streitenden.
"Frag diese Kampfamazone", sagte Tom. "Sie hat das Gasthaus zum Sperrgebiet erklärt und den Waldschrat davor aufgepflanzt."
"Eintritt verboten!", ließ sich der Troll vernehmen, der glücklich war, wieder zu wissen, woran er war.
"Was soll das heißen, Eintritt verboten, Elfin?", fragte Gart empört.
"Was soll das schon heißen?", erwiderte diese und verdrehte die Augen. "Die Botschaft ist doch wohl klar und eindeutig. Das Gasthaus ist belegt. Ihr habt keinen Zutritt."
"Bei meiner Axt, ich hatte immer Zutritt zu diesem Haus und lasse mich bestimmt nicht von einer Waldelfin davon abhalten", brüllte der Zwerg wütend. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge angesammelt, die das Spektakel mit Interesse verfolgte. Erste Wetten wurden auf den Ausgang des Streits abgeschlossen.
"Ruhe, bitte Ruhe vor meinem Gasthaus!", rief plötzlich ein fetter, kahlköpfiger Mann, der sich durch die Menge schob. Als er Gart erblickte, stutzte er: "Gart, was machst du denn hier?" Der Zwerg blickte auf.
"Hallo Geron, seit wann ist deine Herberge eine geschlossene Gesellschaft?" In Garts Stimme konnte man Eiswürfel klirren hören. Bedächtig nahm der Zwerg seine Axt aus der Halterung und begann, das Schneideblatt mit einem Stein zu schärfen. Geron schluckte.
"Nun", begann er und wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch von der Glatze, "weißt du, das ist eine komische Sache."
"Du kennst unseren Sinn für Humor?"
Gart sah den Gastwirt fragend an und prüfte den Sitz seiner Wurfaxt.
"Nur zu gut." Der Schweiß floß ihm jetzt in Strömen. In Gedanken zählte er seine Gliedmaßen.
"Hast du etwa Angst vor diesem Zwerg?" Die Elfin sah Geron spöttisch an.
"Er ist ein Zwerg!", wandte dieser ein.
"Und?"
"Und er ist ziemlich humorlos!!"
"Und?"
"Und er hat eine Axt!!!"
"Hmmm." Die Elfin betrachtete Gart, der gerade die Schärfe des Schneideblattes ungerührt an einem Haar ausprobierte. Es wurde sauber in zwei Teile gespalten. 
"Na und, ich habe einen Troll."
"Eintritt verboten", kam es bekräftigend von hinten. Die Menge jubelte, das sah ganz nach einem vergnüglichen Nachmittag aus.
Zur Überraschung aller, fand Dean seine Stimme wieder.
"Mein Gott, wo sind wir denn hier eigentlich?", rief er wütend.
"Im Siebenhügeldorf", warf Geron helfend ein und erntete dafür johlenden Applaus. Dean ignorierte ihn und stellte sich zwischen Gart und die Elfin.
"Ihr führt euch hier auf wie die letzten Wilden. Nur wegen eines Zimmers in diesem Schuppen. Meine Güte, dann übernachten wir eben woanders."
"Du verstehst das nicht. Hier zu übernachten hat Tradition", erwiderte Gart und wog seine Wurfaxt prüfend in der Hand, "und wir Zwerge lieben unsere Traditionen."
"Und wir schätzen unsere Ruhe und Ungestörtheit", gab die Elfin spitz zurück. Wütend starrten sich die beiden Widersacher an.
"Wartet mal, vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die allen gerecht wird", schaltete Geron sich wieder ein. "Wir haben ja noch die Besenkammer, sie ist ziemlich geräumig."
"Besenkammer?", stießen Zwerg und Elfin zugleich aus und sahen den Gastwirt mit einem Blick an, als würden sie seine baldige Verwendung als Schnapperfutter ernsthaft in Erwägung ziehen.
"Ich meine natürlich", sprudelte es eilig aus Geron hervor, der befürchtete, bald eine zweimeterfünzig tiefe und besonders ruhige Bleibe beziehen zu müssen, "ich könnte in der Besenkammer übernachten und Euch meine Privaträume überlassen."
"Deine Privaträume?"
Der Zwerg sah Geron prüfend an. Der nickte so heftig, dass Tom befürchtete, ihm könnte der Kopf abfallen. Dies befürchtete Geron auch, allerdings aus naheliegenderen Gründen. Dean lenkte ein:
"Aber das ist doch eine großartige Idee. Wir nehmen dieses freundliche Angebot gerne an, stimmt doch, Gart, oder?"
Der Zwerg sah nach wie vor völlig unbewegt den schwitzenden Geron an. Schließlich nickte er einmal und steckte seine Axt wieder weg. Geron fiel mindestens das halbe Düsterwaldgebirge vom Herzen.
"Dann ist ja alles in Ordnung. Ich werde sofort die Räumlichkeiten herrichten", brachte er erleichtert hervor.
"Und was ist mit unserer Vereinbarung?", rief die Elfin wütend. "Wir hatten ausgemacht, dass das Gasthaus ausschließlich uns zur Verfügung gestellt wird! Ihr wißt, die Tochter des Waldfürsten legt sehr viel Wert auf ihre Privatsphäre."
"Die drei sind meine privaten Gäste und kommen Euch damit nicht in die Quere", sagte Geron, der nun wieder Hoffnung verspürte, den nächsten Sonnenaufgang doch noch zu erleben, energisch. "Damit verstoße ich nicht gegen die Abmachung."
"Wenn das so ist, sind wir das letzte Mal hier abgestiegen."
Wütend drehte sich die Elfin um und verschwand im Gasthaus. Der Troll folgte ihr. Die Menge murrte enttäuscht. Dabei hatte der Nachmittag doch so vielversprechend begonnen.
Gart sah die Freunde streng an.
"Euch kann man wirklich keinen Augenblick alleine lassen, ohne dass ihr in Schwierigkeiten geratet."
"Also wirklich, das...", erwiderte Tom, wurde aber von dem Zwerg mit einer unwirschen Handbewegung unterbrochen.
"Verschont mich mit Ausreden und helft mir lieber, die Schnapper und die Ladung unterzubringen, bevor es dunkel wird." Damit drehte er sich um und ging auf die Schnapper zu, die ein Stück abseits des Marktplatzes standen.
"Erstaunlich, dass sich keiner an der Ladung zu schaffen gemacht hat", bemerkte Dean, während sie dem Zwerg folgten. Tom sah ihn verständnislos an.
"Wundert dich das wirklich? Nicht jeder endet gern als Zwischenmahlzeit."
Gart saß inzwischen schon wieder auf seinem Schnapper, und die Freunde beeilten sich, es ihm gleich zu tun. Dann folgten sie dem Zwerg, der rücksichtslos durch die Menge ritt, bis sie die andere Seite erreichten und die Straße zum Hafen hinunter nahmen. Hier roch es stark nach Fisch und überall herrschte emsige Betriebsamkeit. Schiffe wurden be- oder entladen, Waren an- oder abtransportiert. Wären die Schiffe nicht so altertümlich gewesen, hätten die Freunde durchaus das Gefühl gehabt, in einem Hafen ihrer Heimat zu sein. Tom gefiel das, Dean hingegen bemerkte schon beim Anblick der leicht schwankenden Schiffe erste Reaktionen seines Magens. Mit Entsetzen dachte er an Morgen. 
Gart hielt vor einem großen Schuppen an, vor dem einige Zwerge mit dem Beladen eines Karrens beschäftigt waren. Als sie Gart bemerkten, unterbrachen sie ihre Arbeit und begrüßten ihn herzlich. 
"Das sind die Betreiber der Fähre", stellte Gart die Zwerge vor. "Hier können wir auch die Schnapper zurücklassen. Das mache ich immer so, das..."
"...hat Tradition", führte Tom den Satz seufzend zu Ende.
"Respekt, du denkst wie ein Zwerg", sagte einer der Arbeiter bewundernd.
"Das schafft er in hundert Jahren nicht", murrte Gart und wandte sich dem schon um einige Waren erleichterten Packschnapper zu. Drom schien ein guter Kunde zu sein. "Alles was hier drauf ist, muß mit nach Wehrheim. Verstaut das bitte für mich."
"Geht klar, Gart", kam es zurück. Nachdem das geklärt war, verabschiedeten sich die Gefährten wieder, und Tom und Dean sahen mit gemischten Gefühlen ihren Schnappern nach. Immerhin hatten sie ihnen treue Dienste geleistet, insbesondere bei dem Kampf gegen die Golems.
"Los komm schon", forderte Tom seinen Freund auf. "Du kannst Ihnen ja eine Postkarte schreiben." Dean folgte enttäuscht. Jetzt war die Gelegenheit, sich mit den Tieren wissenschaftlich zu beschäftigen, endgültig dahin. Eine Katastrophe für jeden ambitionierten Biologen.
"Na ja, wer weiß, was ich hier noch alles zu sehen bekomme", tröstete Dean sich selbst und dachte dabei an eine andere Lebensform mit auffällig spitzen Ohren.
 
© Klaus-Peter Behrens
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und schon geht's weiter zum 6. Kapitel: "Myrana"

.
www.drachental.de