Das Tor zwischen den Welten von Klaus-Peter Behrens
VI. Kapitel: Myrana

Im Gasthaus hatte Geron inzwischen in Windeseile aus seinen Privaträumen eine respektable Unterkunft für die Freunde geschaffen. Er war gerade fertig geworden, als die drei erschienen. Gart vergewisserte sich sogleich, ob der Gastwirt Wort gehalten hatte. Tom und Dean hingegen sahen sich neugierig in der besetzten Gaststube um. Diese war erstaunlich geräumig und vollkommen aus Holz gefertigt. Diverse Tische und Stühle waren gemütlich im Raum verteilt. Ein großer Tresen nahm fast eine ganze Wand ein. Zwei Türen befanden sich rechts und links daneben. Dean nahm an, dass sie zur Küche führten. In der hinteren rechten Ecke befand sich die Treppe zu den Obergeschossen. Mit Erstaunen sahen die Freunde, dass sich der Troll davor postiert hatte. Ansonsten waren ausschließlich Elfen anwesend, die sich in der Bekleidungsform alle ähnelten. Grün war eindeutig die dominierende Farbe. An einem Fenstertisch entdeckte Tom die Elfin, mit der sie sich vor dem Gasthaus gestritten hatten. "Sieh mal", sagte er, "unsere Amazone ist auch da." Dean sah zu der Elfin hinüber, die die Freunde hochmütig übersah. Während Tom verschwand, um nachzusehen, wo Gart geblieben war, ging Dean zu ihr hinüber. Die Elfin sah von ihrem Teller hoch.
"Was willst du?", zischte sie ungnädig. Dean wurde wieder rot.
"Reden", brachte er schluckend hervor.
"Wozu?"
"Wir ... ich meine, ich... also, ich bin Biologe ...und ...du bist eine ... Elfin..." , brach er stockend ab.
"Wäre ich von allein gar nicht drauf gekommen", erwiderte sie schnippisch. Dean holte tief Luft, dann brach es aus ihm heraus.
"Ich habe noch nie in meinem Leben eine Elfin gesehen. Eigentlich dürfte es dich nach allen Erkenntnissen gar nicht geben", schloß er linkisch und starrte sie an. Die Elfin legte ihr Besteck beiseite und sah Dean von unten schräg an, dann sagte sie amüsiert:
"Du kommst wohl von sehr weit her!"
"Das kannst du laut sagen." Dean setzte sich seufzend. Die Elfin hob zwar die Augenbrauen, sagte aber nichts.
"Wie weit?", wollte sie wissen.
"Das würdest du nicht glauben!"
"Weiter als von den südlichen Inseln?" Dean nickte.
"Ich stamme noch nicht einmal von dieser Welt." Seufzend stützte er sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte seinen Kopf in die Hände.
"So etwas gibt es nicht!" Der Tonfall der Elfin war scharf und machte unmißverständlich klar, dass sie sich ungern für dumm verkaufen ließ.
"Doch leider", ertönte Garts Stimme, der zusammen mit Tom und Geron den Raum betreten hatte. Er hatte den Rest der Konversation aufgeschnappt.
"Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten, Zwerg."
"Du..." Gart kochte schon wieder, doch Tom legte ihm schnell eine Hand auf die Schulter.
"Reg´ dich nicht auf. Wir brauchen Informationen und keinen Streit. Vielleicht kann sie uns ja weiterhelfen. Du willst doch sicherlich auch nicht die nächsten Jahre mit uns durch die Gegend ziehen und einen Übergang suchen, oder?" Gart bezweifelte zwar, dass die Elfin eine Hilfe sein würde, trotzdem gab er Tom insgeheim Recht. Sie brauchten wirklich jede Hilfe, die sie kriegen konnten, anderenfalls würde sich diese Angelegenheit wie die sprichwörtliche Suche nach dem verlorenen Goldkorn in den Minenschächten Medaras gestalten. Tom hatte inzwischen das Wort ergriffen und redete auf die Elfin ein. "Laß uns noch mal von vorne anfangen. Wir laden dich auch zum Essen ein, einverstanden?" Die Augen der Elfin blitzten tückisch, und Gart schaute unglücklich drein. Zwerge laden höchst selten jemanden ein. Das widerspricht völlig ihrer Natur.
"Geron!"
Die Elfin sah sich nach dem Gastwirt um, der vorsichtshalber hinter dem Tresen in Deckung gegangen war. Jetzt tauchte sein Kopf wieder auf.
"Ja?"
"Bring uns eine, nein zwei Flaschen von deinem besten Wein und mir noch einmal das Gleiche zum Abendbrot und, eh ich es vergesse, denk auch an meinen Troll. Der kann eine anständige Mahlzeit vertragen."
"Hunger, sehr großer Hunger!", erklang es aus dem Hintergrund, begleitet von einem deutlichen Magenknurren.
"Meine Begleitung zahlt alles."
Grinsend sah sie die Freunde an. Gart stöhnte, er litt Höllenqualen.
"Klar", bestätigte Tom fröhlich. "Gart gibt gerne mal einen aus, stimmt doch, oder?" Aufmunternd schlug er dem Zwerg auf die Schulter. Der murmelte irgendetwas schwer Verständliches, in dem deutlich mehrmals das Wort Axt zu vernehmen war, wurde von den anderen aber völlig ignoriert.
"Also gut, fangen wir noch einmal von vorne an. Ich heiße Myrana."
Dean stellte seine Freunde und sich vor. Dann begann er zum zweiten Mal, über ihre unfreiwillige Ankunft in dieser Welt zu berichten. Die Geschichte schien Myranas Appetit anzuregen, denn sie bestellte, sehr zum Leidwesen von Gart, noch ein paar Mal nach. Schließlich kam Dean zum Ende: "Tja, und nun sitzen wir hier fest und suchen nach einem Weg in unsere Welt."
"Und das soll ich euch glauben?" Myrana war skeptisch.
"Es ist leider wahr", antwortete Gart trübselig. "Und ich bin ihr Fremdenführer."
"Was uns interessiert, ist die Frage, ob sich vielleicht in dem Umfeld der Waldelfen irgendetwas Außergewöhnliches ereignet hat, das unserem Fall entspricht." Hoffnungsvoll sah Dean die Elfin an. Die schaute durchdringend zurück, bevor sie sich zu einer Antwort durchrang.
"Selbst mal angenommen, ich würde euch die ganze Geschichte abkaufen..."
"Das kannst du ruhig", unterbrach Tom sie, der gerade bedauernd die letzte leere Weinflasche begutachtete. Gern hätte er eine neue bestellt, aber ein Blick in Garts finsteres Gesicht ließ in davon lieber Abstand nehmen.
"Also selbst, wenn eure Geschichte stimmen würde...", fing Myrana von vorn an, "...befürchte ich, dass ich euch nicht helfen kann. Bei uns ist nichts Vergleichbares passiert. Zur Zeit haben wir auch andere Dinge im Kopf. Die Vermählung der Tochter des Waldfürsten mit dem Sohn des Protektors des westlichen Archipels steht bevor. Wir sind mit unserem Schiff auf dem Weg dorthin."
"Sag bloß, der große Schoner im Hafen gehört euch?" Toms Interesse war neu erwacht.
"Ja, wieso?" Myrana klang mißtrauisch.
"Ihr könntet uns nicht zufällig mit nach Wehrheim nehmen?", fragte Tom hoffnungsvoll. Der Schoner und die Reisebegleitung waren bestimmt interessanter und sicherer als Garts Zwergenfähre. Irgendwie gelang es ihm nicht, das Bild der Zwerge mit dem von Seemännern in Einklang zu bringen. Wer wußte schon, ob die Zwerge vor Heimweh nicht auf die Idee kommen würden, unterwegs im Kielraum nach Gold zu graben. Da war es schon angenehmer, mit einem Schoner voller hübscher Waldelfinnen nach Wehrheim zu segeln. Myrana unterbrach seine Träumereien jedoch brüsk.
"Nein, wir sind in offizieller Mission unterwegs. Der Staat der Waldelfen ist der Hauptholzlieferant der Bootswerften des Westarchipels. Die geschäftliche Verbindung soll nun durch die Heirat zwischen der Tochter des Waldfürsten und dem Sohn des Protektors des Westarchipels gefestigt werden. Fremde passen da nicht ins Konzept."
"Klingt nach echter Liebesheirat", stichelte Tom.
"Nein, das ist Politik." Myrana gähnte demonstrativ. "Wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, wir brechen morgen vor Sonnenaufgang auf, und ich muß noch einiges vorbereiten. Eure Geschichte war sehr ... interessant." Dann  stand sie auf, lächelte Dean kurz an und begab sich die Treppe hinauf ins Obergeschoß. Dean sah ihr nach. Gart und Tom beobachteten ihn, dann lachte Tom laut los.
"Was ist so komisch?" Dean war rot geworden.
"Ich glaube, dich hat es erwischt!"
"Unsinn." Deans Gesichtsfarbe wurde noch um einige Nuancen dunkler. "Ich interessiere mich für sie nur aus der Sicht des Biologen."
"Und deine Gesichtsfarbe?"
"Sonnenbrand!"
"Klar." Tom konnte vor Lachen kaum noch sprechen. Gart hingegen war nicht zum Lachen zumute. Der Anblick der Rechnung hatte ihm den Tag endgültig verdorben. Geron war vorsichtshalber wieder in Deckung gegangen. Doch Gart war bekanntlich ein guter Händler und so gelang es ihm, Geron in bewährter Weise davon zu überzeugen, dass die Rechnung im Hinblick auf den Ärger, den sie hatten, auf Kosten des Hauses zu gehen hatte. Nun schaute Geron unglücklich drein. Gart tröstete ihn damit, dass er noch alle seine Gliedmaßen hatte. Dann begaben sie sich zu Bett; denn der nächste Tag versprach anstrengend zu werden.

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- 4 -

Dean war zeitig auf den Beinen. Er hatte gehofft, Myrana noch zu treffen, doch die Elfen waren schon sehr früh aufgebrochen. Etwas enttäuscht nahm er zusammen mit den anderen das Frühstück ein und überhörte geflissentlich Toms Kommentare. Beim anschließenden Abschied fiel es Geron schwer, seine Begeisterung über ihre Abreise nicht allzu deutlich zum Ausdruck zu bringen. Offensichtlich war er heilfroh, sie wieder loszuwerden. Der stoischen Miene des Zwerges war nicht zu entnehmen, ob ihn das belustigte oder verärgerte. Dean hätte auf ersteres getippt, denn der Bart des Zwerges zitterte ein paar Mal verdächtig. Darauf gewettet hätte er allerdings nicht. Dann machten sie sich auf den Weg.
Im Hafen herrschte trotz der frühen Tageszeit schon eine geschäftige Aktivität. Das Klatschen schwerer Taue vermischte sich mit dem Knallen aufblähender Segel und dem Quietschen alter Lastkrähne, die sich mit Fracht der unterschiedlichsten Art abmühten. Matrosen jeder Gattung schrien durcheinander und sorgten für eine quirlige Atmosphäre. Neugierig hielt Tom nach der Zwergenfähre Ausschau. Er konnte sich die Zwerge immer noch nicht als versierte Segler vorstellen.
Unten am Pier wurden sie schon erwartet. Gart hatte ihnen die Zwerge zwar vorgestellt, aber die Freunde vermochten sie nicht auseinander zu halten. Für sie sah ein Zwerg aus wie der andere. Zu ihrem Glück trug Gart als einziger ein Kettenhemd, so dass wenigstens er unschwer, von den nur in leichtes Tuch gekleideten Zwergen zu unterscheiden war. Diese teilten ihnen freudestrahlend mit, dass ihre Sachen fachgerecht verstaut wären und sie aufbrechen könnten. Neugierig folgten sie ihnen an das Ende des Piers. Dort warteten bereits die restlichen Reisenden, mehrere Zwerge, ein paar Männer und ein junges Paar. Eine Fähre konnten die Freunde jedoch weit und breit nicht ausmachen. Im Wasser dümpelte lediglich eine Art schwimmender Ponton mit einem starren Segel und einem niedrigen Decksaufbau sowie einer kleinen Heckkajüte. Beunruhigt stellten sie fest, dass der Ponton mit diversen Kisten beladen war, die eine frappante Ähnlichkeit mit Garts Reisegepäck aufwiesen. Der Umstand, dass die Zwerge ein langes Brett zu dem Ponton hinüberlegten und einladende Handbewegungen machten, ließ Schlimmes erahnen.
"Bitte an Bord zu gehen."
"Das ist doch wohl nicht Euer Ernst?"  Tom war entsetzt.
"Wieso, ist die Planke zu unsicher?" Besorgt wurde das Brett gemustert.
"Die Planke! Dieser schwimmende Mülleimer ist mir zu unsicher. Wo habt ihr den denn her? Mit der Laubsäge aus Sperrholzkisten zusammengebaut?"
"Genau, und aus alten Fässern", bestätigte einer der Zwerge.
Während es Tom die Sprache verschlug, wurde Dean schon einmal prophylaktisch seekrank. Das übertraf selbst seine schlimmsten Erwartungen.
"Gibt es nicht irgendetwas schwimmtauglicheres?", fragte er stöhnend.
"Gibt es", bestätigte Gart, "nur nicht zu diesem Preis."
Tom ächzte. "Was nützt dir der günstige Preis, wenn das Teil bereits an der Hafenausfahrt sinkt?"
Die Fährzwerge waren beleidigt.
"Unsere Fähre sinkt nicht. Zwerge bauen für die Ewigkeit."
"Das habe ich befürchtet."
"Und außerdem hat es Tradition, hiermit zu reisen", fügte Gart hinzu.
"Tradition? Worin? Im Sinken?", fragte Dean, während er fassungslos zusah, wie die anderen Passagiere seelenruhig über die Planke auf die "Fähre" stiegen. Sie lag gefährlich schief im Wasser. 
Tom sah die drei Zwerge skeptisch an. "Ihr habt das Ding nicht zufällig auf den Namen Titanic getauft?", wollte er wissen.
"Nein, haben wir nicht, wäre aber ein schöner Name, wieso?"
"Vergeßt es, ist nicht wichtig." Verzweifelt betrachtete Tom das schwimmende Etwas. So hatte er sich den Segeltörn nicht vorgestellt.
"Ich will durch", erklang plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihm.
"Bitte sehr, Selbstmörder zuerst." Spöttisch drehte er sich um und starrte verblüfft auf einen pelzigen Umhang. Sein Blick wanderte nach oben, und was er sah, gefiel ihm gar nicht. "Nicht schon wieder ein Troll."
"Das ist unser Steuermann", ließ sich einer der Zwerge stolz vernehmen.
"Und unser Be- und Entlader", fügte ein anderer hinzu.
"Und gelegentlich schmeißt er meckernde Passagiere über Bord", ergänzte der letzte im Bunde mit einem frechen Seitenblick auf Tom. Der Troll schob sich an den überraschten Freunden vorbei und ging mit bemerkenswerter Sicherheit an Bord. Ein Blick auf das lange Ruderblatt, das vom hinteren Decksaufbau in das trübe Wasser ragte, ließ die Freunde erahnen, wieso die Zwerge ausgerechnet einen Troll zum Steuermann erkoren hatten. Um das Ruderblatt zu bewegen, würden wahrscheinlich sogar Zwergenmuskeln nicht ausreichen.
"Was ist jetzt?", fuhr Gart die Freunde ungehalten an. "Reißt euch endlich zusammen, wir wollen los."
Ohne zu zögern ging er an Bord.
"Na ja, was soll’s", sagte Tom resigniert. "Wenigstens war das Frühstück gut, und ich sterbe nicht hungrig."
"Sprich nicht vom Essen." Deans Gesichtsfarbe wies eine interessante Grünschattierung auf, als er Tom folgte.
"Ich weiß ja, dass du in die grünhaarige Amazone verliebt bist", neckte Tom ihn, "du brauchst aber vor Sehnsucht nicht gleich ihre Farbe anzunehmen." Dean ersparte sich die Antwort. Alles was er sich jetzt wünschte, war eine solide Reling, um sich noch einmal ausgiebig mit seinem Frühstück zu beschäftigen. Die hatte die "Fähre" tatsächlich. Sie war ungefähr brusthoch und wies eine erstaunliche Anzahl von Löchern auf, neben denen sich jeweils schmale Sitzbänke befanden.
"Wie wollen die mit dem Segel bloß vorwärtskommen?", wunderte sich Tom, während er die Takelage betrachtete. Soweit er erkennen konnte, handelte es sich um eine relativ simple, starre Konstruktion, die das Kreuzen vor dem Wind nahezu unmöglich machte.
"Mit Rückenwind", erläuterte Gart, der es sich auf einer Bank bequem gemacht hatte.
"Und ohne Rückenwind?"
Der Zwerg sah Tom an, als hätte der ihn nach dem Grund zum Atmen gefragt. "Wird gerudert", kam prompt die Antwort. Wie auf das Stichwort, erschien der Troll mit einer Ladung Ruder unter dem Arm und begann, diese durch die Löcher der Reling zu schieben und dort zu arretieren. Es hätte Tom nicht verwundert, wenn er auch noch eine Trommel zutage gefördert hätte, um den Rudertakt anzugeben. Tatsächlich brüllte der Troll, kaum dass er mit seiner Beschäftigung fertig war, auch gleich im besten Galeerentonfall los: "Alle Mann an die Ruder, wir legen ab."
Wütend fuhr Tom Gart an: "Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich in diesem Mülleimer bis nach Wehrheim rudere?"
Gart betrachtete eine Weile seelenruhig den Fluß, bevor er antwortete:
"Es steht dir natürlich frei, jederzeit auszusteigen und zu schwimmen. Ueberboard wird dir dabei gerne zur Hand gehen."
Der Troll nickte glücklich: "Ja, ja, ich helfe gerne."
Baggerschaufelhände streckten sich Tom entgegen.
"Äähh, auf der anderen Seite soll Rudern ja ungemein gut für die Gesundheit sein", antwortete dieser hastig angesichts des Muskelberges, der sich auf ihn zuschob und nahm schnell auf einer der Bänke Platz.
"Schwimmen auch", erwiderte der Troll unglücklich, der sich seines Vergnügens beraubt sah.
"Schon gut", beschwichtigte ihn Gart, "ich glaube, er hat seine Begeisterung für das Rudern entdeckt. Du kannst ihn ja ab und zu ein wenig aufmuntern, falls seine Motivation nachlassen sollte." Der Troll brummte zustimmend.
"Und was ist mit dem da?", fragte er und zeigte auf Dean, der wie ein nasser Sack über der Reling hing. Gewisse Geräusche verkündeten, dass er sich intensiv mit seinem Mageninhalt beschäftigte.
"Der ist verliebt."
"Oohh, das ist was anderes."
"Hmmm, schlimme Sache." Gart schüttelte mitleidig den Kopf.
Während der Troll grinsend davon stapfte, um noch einmal alles zu überprüfen, nahmen die restlichen Reisenden schon einmal allein oder zu zweit an einem Ruder Platz. Die Reise konnte losgehen. Unter den markerschütternden Ruderkommandos des Trolls legten sie schließlich ab. Da die Passagiere jedoch über keinerlei Erfahrung im Rudern verfügten, kreuzte die Fähre trotz der lautstarken Anweisungen des Trolls im Zick Zack durch den Hafen, wobei sie eine Spur der Verwüstung hinterließ. Doch zu Toms Verwunderung schien das, außer den Eignern zweier versenkter Ruderboote, die es gerade noch geschafft hatten, über Bord zu springen, niemanden zu interessieren. Offenkundig war man Derartiges von den Zwergen gewöhnt. Als die Fähre wider Erwarten schließlich doch noch die Mitte des Flusses erreichte, ohne vorher untergegangen zu sein, atmeten alle sichtlich auf. Zur allgemeinen Erleichterung setzte nach kurzer Zeit sogar noch ein kräftiger Rückenwind ein, der die Reisenden zumindest vorerst von ihrem Sklaventum an den Rudern befreite und dem Troll das Steuern der Fähre erleichterte. Toms Laune besserte sich sofort wieder. "Ich hoffe, das bleibt jetzt so, bis wir in Wehrheim ankommen", sagte er, während er seine Glieder in der warmen Sonne streckte. Gart schwieg. Tom sah ihn mißtrauisch an.
"Sollte ich irgendetwas wissen?", fragte er im lauernden Tonfall.
Gart blickte ihn mit unschuldigem Blick an: "Wieso?"
Einer der Bootseigner kam vorbei. "Fährt er das erste Mal nach Wehrheim?" Gart nickte in der Hoffnung, der andere würde es dabei bewenden lassen, doch der verfügte über die Sensibilität einer Axt und sprach unbekümmert weiter: "Dann weiß er ja noch gar nicht, was ihn erwartet."
Gart schüttelte zähneknirschend den Kopf. Tom wurde es zuviel.
"Vielleicht könnte einer mich mal aufklären, was für Katastrophen noch anstehen?", fuhr er Gart wütend an. Der zuckte die Schultern, dann erklärte er im möglichst gleichgültigen Tonfall:
"Nichts besonderes, nur die Sumpfmenschen."
"Sumpfmenschen?" Tom schaute skeptisch.
"Was ist an denen so furchtbar?"
"Nun, sie glauben, der Fluß gehöre auf der Länge des Sumpflandes zu ihrem Territorium, was natürlich Unsinn ist. Der Fluss gehört allen."
"Komm zur Sache", knurrte Tom ungehalten. Dean hatte inzwischen die Fischfütterung eingestellt und hörte ebenfalls interessiert zu.
"Na ja", erklärte Gart zerknirscht, "sie haben am Schlund eine Mautstelle errichtet und verlangen Geld für die Weiterfahrt."
"Und, wo ist das Problem?"
Gart sah Tom aufgebracht an.
"Du wirst nie wie ein Zwerg denken. Wir haben noch nie für die Benutzung des Flusses bezahlt und wir werden auch in Zukunft nicht dafür bezahlen, das hat Tradition." Tom vergrub sein Gesicht in seinen Händen und stöhnte.
"Eure Traditionen bringen mich noch zur Verzweiflung!"
"Und was passiert, wenn ihr nicht bezahlt?", schaltete sich Dean ein.
"Nun", Gart grinste, "bisher gab es jedesmal einen zünftigen Kampf."
"Großartig", rief Tom sarkastisch und schlug dem Zwerg auf die Schulter. "Du bist genau die richtige Hilfe, um an Informationen zu gelangen. Vielleicht hätten diese Menschen uns wertvolle Hinweise geben können. Aber leider werden wir sie nicht befragen können, weil wir zu sehr damit beschäftigt sein werden, ihnen wegen ein wenig Kleingeld die Schädel einzuschlagen." Dean wandte sich bei diesen Worten schleunigst wieder der Reling zu. Die Vorstellung vom Schädeleinschlagen vertrug sich zur Zeit nicht mit dem Zustand seines Magens. Gart hingegen war beleidigt.
"Die Sumpfmenschen würden euch genauso wenig nützen, wie eure Waldelfin. Im übrigen, stellst du dir das schlimmer vor, als es ist. Bisher hat es noch nie Tote gegeben."
Für Gart war die Angelegenheit damit erledigt. Tom und Dean sahen die Sache zwar anders, wußten jedoch, dass es nichts brachte, sich mit dem Zwerg zu streiten. So fügten sie sich einstweilen in das Unvermeidliche und warteten mit gemischten Gefühlen darauf, was sie am Schlund erwarten würde.
 

© Klaus-Peter Behrens
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Und schon geht's weiter zum 7. Kapitel: "Der Schlund"

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