Das
Tor zwischen den Welten
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IX. Kapitel: Der Turm des Meisters |
Der nächste Morgen bot für alle ein schmerzhaftes Erwachen. Sämtliche Knochen und Muskeln machten sich unbarmherzig bemerkbar und verkündeten auf ihre Weise, was sie von der gestrigen Inanspruchnahme hielten. Nur Gart bot das übliche, stoische Bild. Tom fragte sich, ob es wohl irgendetwas gab, was den Zwerg aus der Fassung bringen würde. "Vielleicht eine Nachricht über den Verfall des Goldpreises?", sinnierte er vor sich hin, während er sich mit etwas Flußwasser behelfsmäßig wusch. Die Wunde an der Wange hatte aufgehört zu bluten. Tom betastete sie vorsichtig. Leichter Schorf hatte sich gebildet. Er grinste vor sich hin, während er sich vorstellte, wie er einer hübschen Kommilitonin von ihrer Herkunft berichten würde. Wenig später waren sie endlich wieder unterwegs. Der Troll hatte sich ein behelfsmäßiges Ruderblatt gezimmert und war so in der Lage, einigermaßen den Kurs zu halten. Ein gnädiger Rückenwind blies sogar die Reste des Segels auf, so dass sie trotz der Schlagseite gut vorankamen. Je mehr sie sich allerdings im Laufe des Tages Wehrheim näherten, desto mehr Schiffe begegneten ihnen und um so öfter wurden sie zum Objekt neugieriger Blicke und Zurufe. In der Tat bot die Fähre einen Anblick, als habe eine Horde urzeitlicher Ungetüme mit ihr Football gespielt. Doch das störte die Zwergeneigner nicht. Im Gegenteil, das Erlebnis bot den Stoff, aus dem Zwergenlegenden entstehen. Am frühen Nachmittag schließlich kam ihr Ziel in Sicht. "Das nenne ich ein wehrhaftes Heim", sagte Tom und pfiff beim Anblick der imposanten Burganlage, die auf einem Hügel am Fluß thronte, anerkennend durch die Zähne. Mit ihren mächtigen Türmen und den senkrecht abfallenden Mauern wirkte die Burg in der Tat äußerst wehrhaft. Vor der Burg befand sich der Hafen, in dem eine Vielzahl unterschiedlichster Schiffe vor Anker lagen. Gerade lief ein Schoner aus und nahm Kurs auf das offene Meer. Dean fragte sich, ob es wohl das Elfenschiff war. Aus dieser Entfernung konnte er es leider nicht erkennen. "Gefällt es euch?", fragte Gart stolz. "Phantastisch", rief Tom begeistert. "Und da kommen wir so einfach hinein?" "Sicher, alle kennen mich hier", verkündete der Zwerg selbstgefällig. Mit einem neugierigen Seitenblick auf den staunenden Dean fragte er: "Sehen eure Städte auch so aus?" "Früher einmal", gab Dean zögernd zurück, "heute sind sie ... anders." Er wußte nicht so recht, wie er dem Zwerg eine Stadt wie New York beschreiben sollte, ohne ihm einen Kulturschock zu versetzen. Gart war über die ausweichende Antwort ein wenig enttäuscht. Das Anlegen am Dock riß ihn jedoch aus seinen Gedanken und kurze Zeit später hatten die Freunde endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Nachdem Garts Ladung sicher an Land gebracht und auf einem bereitstehenden Karren verstaut worden war, bedeutete er den ungeduldigen Freunden, auf ihn zu warten, da er das Verhandeln aus Tradition lieber alleine vornehmen wollte. Enttäuscht blieben die Freunde zurück. "Von wegen Zwergentradition. Der alte Knicker hat doch nur Angst, dass wir ihm die Preise verderben könnten", fluchte Tom vor sich hin, während er den Burgeingang neugierig musterte. "Schauen wir uns doch einfach allein hier um", schlug er Dean vor. "Ich glaube kaum, dass wir an denen vorbeikommen würden", antwortete Dean und zeigte auf zwei schwer bewaffnete Soldaten, die am Burgtor sorgfältig jede Person, die hinein wollte, kontrollierten. Tom schnaubte verächtlich, gab sich aber geschlagen. Zu ihrem Erstaunen kehrte Gart jedoch schneller zurück, als erwartet. Eine neue Wurfaxt zierte seinen Gürtel. "Also los", forderte er die Freunde gutgelaunt auf, "laßt uns Wehrheim erkunden." Das Passieren des Tores verlief zur Überraschung der Freunde unspektakulär. Die Wachen nickten dem Zwerg nur kurz zu. Offensichtlich war er hier wirklich bekannt. Beeindruckt stellten sie fest, dass sie die Größe der Burganlage erheblich unterschätzt hatten. Diverse kleine Gassen und gleichförmige Häuser bildeten ein nur schwer zu durchschauendes Labyrinth, in denen ein lebhaftes Treiben herrschte. Gart ging voran. Selbstverständlich kannte er alle Herbergen hier und war nun auf dem Weg zu der günstigsten Alternative. Seine Wahl stieß bei den Freunden allerdings auf wenig Gegenliebe. "Das Haus ist ja völlig baufällig", stellte Tom mißbilligend fest. In der Tat machte das Gebäude den Eindruck, als könnte ein wohlplazierter Fußtritt die Stabilität entscheidend beeinträchtigen. "Mittelalter pur", seufzte Dean, der bei aller Liebe für geschichtsträchtige Bauwerke sich doch eine etwas komfortablere Unterkunft gewünscht hätte, eine, bei der man gefahrlos niesen konnte, ohne dass einem gleich das Dach auf den Kopf fiel. Doch Gart ließ sich von den Kommentaren der Freunde nicht beirren. Er übernachtete immer hier, das hatte Tradition. Beleidigt öffnete er die Eingangstür, die laut protestierend in ihren Angeln quietschte. Innen sah es zum Entsetzen der Freunde auch nicht besser aus. Die Räumlichkeiten erinnerten Tom frappant an die Kerker der spanischen Inquisition, wie er sie aus Kinofilmen kannte. Er war felsenfest davon überzeugt, auch den Inhaber dieses fragwürdigen Etablissements in einem solchen Film schon gesehen zu haben. Nachdem die Freunde ihren Protest angesichts Garts sturem Beharren auf seine Tradition aufgegeben und freudlos ihre kargen Zimmer inspiziert hatten, die nach Toms Ansicht noch nicht einmal die Bezeichnung Abstellkammer verdient hätten, trafen sie sich im Aufenthaltsraum, um eine Lagebesprechung abzuhalten. "Und? Wo sollen wir jetzt mit den Erkundigungen anfangen?", fragte Tom ungeduldig. Gart kratzte sich nachdenklich den Bart. Es klang, als würde Sandpapier den erfolglosen Versuch starten, einen Granitblock in Sägespäne zu verwandeln. "Ich denke, wir versuchen es erst einmal bei der Stadtverwaltung. Wenn hier irgendetwas Ungewöhnliches passiert sein sollte, werden wir es dort erfahren." Erwartungsvoll sah er die Freunde an. Die nickten; denn schließlich kannten sie sich hier nicht aus, und der Vorschlag klang vernünftig, auch wenn Tom insgeheim noch Vorbehalte hatte. "Wahrscheinlich ist die Auskunft kostenlos", dachte er zynisch, während sie dem Zwerg nach draußen folgten. Der Weg führte sie mitten in das Zentrum der Burg, wo die Stadtverwaltung untergebracht war. Ein schmuckloses Schild an einer Tür mit dem schlichten Hinweis Information wies ihnen den Weg. Die Auskunft war tatsächlich umsonst und entsprechend fiel sie auch aus. Nachdem Dean dem Mann in dem Informationsbüro ihre Geschichte erzählt und nach Hinweisen auf Vergleichbares gefragt hatte, sah der ihn an, wie ein Schotte, dem man gerade verkündet hatte, dass Nessie in Wahrheit ein Schnürsenkelvertreter aus Japan sei. "Ihr sucht einen Weg in eine andere ... Dimension?", stotterte er verwirrt. Offensichtlich hatte er hier drei Verrückte vor sich, und einer hatte eine ziemlich große Axt dabei. Das war kein guter Tag - gar kein guter Tag. "Was ist? Haben Sie was mit den Ohren? Das ist doch eine ganz einfache Frage", blaffte Tom den Mann an, der die Freunde mit offenem Mund anstarrte, was nicht unbedingt den intelligentesten Eindruck hinterließ. Eilig schüttelte er den Kopf. "Nein, nein, das ist eine völlig vernünftige Frage", versicherte er den Gefährten leutselig, während er verzweifelt die Tür hinter ihnen ins Auge fasste, die ihm aber auch nicht helfen konnte. Irgendwie mußte er die Verrückten loswerden. "Das Ganze klingt für meinen Geschmack nach Zauberei", versuchte er, die Gefährten, die ihn zweifelnd ansahen, zu überzeugen. "Ihr solltet euch an den Zauberer, Meister Reno vi´Eren, wenden. Er wohnt im alten Nordturm. Der hat Erfahrung. Wenn euch überhaupt einer helfen kann, dann er." Erwartungsvoll sah er die Freunde an, doch die machten keine Anstalten, den Raum zu verlassen. "Wenigstens habe ich es versucht", dachte er verzweifelt. "Zauberer?" Dean sah den Mann an, als habe der ihm soeben vorgeschlagen, einen Pizzabäcker auf der Venus zu besuchen. Emsig nickte der Mann. Gart lenkte ein. "Die Idee ist gar nicht so schlecht. Vielleicht sollten wir es wirklich dort versuchen." "Aber es gibt keine Zauberer", begehrte Dean auf. "Ach komm schon, sei nicht so kleinlich. Es kann doch nicht schaden, diesen Kauz aufzusuchen", redete Tom auf seinen Freund ein. "Zauberer! Wenn ich das schon höre." Dean verdrehte die Augen, während er den Freunden nach draußen folgte. "Das sind doch Ammenmärchen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Art Alchimist, der mit Pflanzen und Töpfen herumhantiert. Ich wüßte nicht, wie der uns weiterhelfen könnte." Gart sah ihn mitleidig von der Seite an, dann sagte er: "Ich würde das an deiner Stelle lieber nicht in Gegenwart von Meister Reno vi´Eren wiederholen. Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber was man so über ihn hört..." Gart hob vielsagend die Augenbrauen. Dean schnaubte verächtlich. "Das ist doch Unsinn. Zauberei gibt es de facto nicht!" "Mag ja sein, dass das bei euch so ist, hier jedenfalls gehört sie zum täglichen Leben", erwiderte der Zwerg mit unerschütterlicher Miene. "Aber Naturgesetz ist Naturgesetz, und das gilt überall, ergo kann es keine Zauberei geben, weder hier noch sonstwo", hielt Dean ihm trotzig entgegen. Gart schaute die beiden an wie zwei Kinder, denen man offenbaren mußte, dass der Weihnachtsmann in Wirklichkeit nur ein unterbezahlter Student war. Dann zuckte er die Achseln und sagte: "Ich schlage vor, ihr macht euch selbst ein Bild von Meister Reno vi´Eren. Es sei denn, ihr habt etwas Besseres vor." Das hatten die Freunde natürlich nicht und so beschlossen sie, den Zauberer am nächsten Morgen aufzusuchen. - 8 - Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollten,
der geplante Besuch bei Meister Reno vi´Eren hatte die Freunde neugierig
gemacht und so waren sie schon früh auf den Beinen. Tom sah in dem
Besuch ein spaßiges Erlebnis, Dean die Herausforderung, den vermeintlichen
Zauberer von der ausschließlichen Existenz der Naturwissenschaften
zu überzeugen. Gart hingegen war während des Frühstücks
auffallend still. Als sie das Gasthaus verließen, bemerkte er nur,
dass er sie zwar zum Nordturm führen, sie aber nicht mit hinein begleiten
werde. Dean schüttelte nur mitleidig den Kopf.
© Klaus-Peter
Behrens
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