Das Tor zwischen den Welten von Klaus-Peter Behrens
XIII. Kapitel: Die schwarze Insel
.
- 1 -

Tatsächlich tauchte im Laufe des dritten Tages eine Nebelbank am Horizont auf.
"Das Nebelmeer", sagte Meister Reno vi´Eren in Erinnerung an seine damalige Reise ehrfürchtig. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich es jemals wiedersehen würde und offen gestanden, ich hatte auch kein Verlangen danach."
"Wo kommt der Nebel bloß her?", wollte Tom wissen.
"Sehe ich aus wie ein Wetterprophet? Ist doch auch egal. Hauptsache wir sind hier und finden diese verfluchte Insel", gab Gart grimmig zurück.
Alle suchten nun den Horizont ab, aber eine Insel war nirgends zu entdecken. Sie beschlossen daher, es zunächst immer entlang der Nebelbank in Richtung Westen zu versuchen. Gegen Abend tauchte am Horizont endlich der Umriß einer bizarren Insel auf. Soweit sie durch das Fernglas erkennen konnten, erhoben sich in der Mitte der Insel Berge, die zum Meer hin steil abfielen. Selbst auf diese Entfernung wirkte die Insel alles andere als anheimelnd. "Vielleicht ist das die Insel des Dr. Moreau?", überlegte Dean.
"Dann wird sich Wirdnix dort ja heimisch fühlen", erwiderte Tom bissig.
Es war unschwer nachzuvollziehen, wieso man der Insel solche Schreckensmärchen andichtete. Auch die Bezeichnung "Schwarze Insel" machte Sinn. Selbst auf diese Entfernung konnte man erkennen, dass die Felsen der Insel tief schwarz schimmerten. Möglicherweise war sie vulkanischen Ursprungs. Auch Wirdnix betrachtete die Insel durch das Fernglas.
"Ich will doch mal stark hoffen, dass das die falsche Insel ist", stöhnte er beim Anblick der schwarzen, unheilvollen Erhebung.
"Tut mir leid, aber sie ist es", sagte Meister Reno vi´Eren bestimmt. "Ich habe zwar nie einen Fuß auf diese Insel gesetzt, aber ich erkenne sie wieder. Diese Form ist unverwechselbar."
Wirdnix Entschluß stand fest. "Ich kündige", ertönte es aus dem Niedergang, in den er sich eilig auf der Suche nach der Kiste zurückgezogen hatte. Meister Reno vi´Eren beachtete ihn nicht weiter. Derartige Ausbrüche war er gewohnt. Er wußte, dass bei Wirdnix letztlich doch die Neugier siegen würde. So war es jedenfalls bisher immer gewesen.
"Wie gehen wir vor?", fragte Myrana, die mit grimmiger Miene ihr Ziel musterte.
"Wir warten hier ab, bis es dunkel wird", antwortete Gart. "Dann werden wir hinüber segeln und uns diese Insel näher ansehen. Sollte mich nicht wundern, wenn wir dort den Rest deiner Hochzeitsgesellschaft wiederfinden werden."

Während die Freunde an Bord ihres Schiffes das weitere Vorgehen besprachen, plagten den Piratenkapitän, Jim Eddings, Sorgen ganz anderer Art. Er war erst seit kurzem Pirat und hatte daher noch Schwierigkeiten, sich in dieser Rolle zurechtzufinden. Mit seinen dreißig Jahren konnte er zwar auf eine beträchtliche Anzahl von Gaunereien zurückblicken, doch die Piraterie war selbst für ihn Neuland. Seufzend erinnerte er sich an den Tag, an dem er auf der Suche nach einem geeigneten Beuteversteck die Höhle in den Rocky Mountains entdeckt hatte und dabei auf das Portal in diese Welt gestoßen war. Anders als Dean und Tom hatte es Jim aber nicht zu den Zwergen, sondern geradewegs auf eine Pirateninsel verschlagen. Dort war er zwar dank seiner Schußwaffe bereits nach kurzer Zeit zum Piratenkapitän aufgestiegen, doch die Begeisterung über die schnelle Karriere wich schnell der ernüchternden Erkenntnis, dass das Leben als Pirat nicht unbedingt gleichzusetzen war mit einem Leben im Luxus. Im Gegenteil, als Luxus wurde hier schon verstanden, wenn man lang genug am Leben blieb, um die nächste Mahlzeit einzunehmen - wenn es dann überhaupt etwas zu essen gab. Und genau da lag das Problem. Die bisherigen Überfälle auf einige Fischerboote und ein kleineres Handelsschiff waren kaum geeignet gewesen, Reichtümer anzuhäufen, geschweige denn, seine habgierige Mannschaft zufriedenzustellen. Mit Unbehagen dachte Jim an ihre letzte Kaperfahrt zurück. Die Mannschaft hatte kurz vor der offenen Meuterei gestanden. Nur der Umstand, dass in diesem Moment ein Elfenschiff am Horizont aufgetaucht war, hatte Jim davor bewahrt, eine interessante Reise zum Meeresgrund anzutreten. Doch leider hatten sich auch an Bord dieses geenterten Schiffes kaum Wertgegenstände befunden. Also hatte Jim improvisiert und behauptet, dass die Elfen ihr Gewicht in Gold wert wären. Das hatte die Mannschaft zwar verblüfft, da aber Nachdenken nicht zu den Stärken eines Piraten gehört, hatten sie die wertvollen Elfen einfach mitgenommen. Der Kapitän würde schon wissen, was er tat, anderenfalls... 
Nun befanden sich die Gefangenen in den Kellerräumen seines Schlupfwinkels, einer Festung, die in einem so beklagenswerten Zustand war, dass sogar Denkmalschützer sich geweigert hätten, hier noch ein gutes Wort einzulegen, und Jim wußte beim besten Willen nicht, wie er aus dieser Situation Kapital schlagen sollte. Es war ja nicht so, dass er den Hörer abheben und exorbitante Lösegeldforderungen stellen konnte. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Elfen weigerten, ihm zu sagen, wer sie waren. Es war zum Verrücktwerden. Wenn er nicht in die Fußstapfen von Cousteau treten wollte, mußte ihm jetzt dringend etwas einfallen. Er beschloß, die Gefangenen später noch einmal aufzusuchen.

- 2 -

In der Nacht war das Wetter umgeschlagen. Dunkle Wolken und heftige Regenschauer sorgten dafür, dass die Gefährten kaum etwas erkennen konnten und in ihrer Kleidung froren. Das war zwar lästig, andererseits hatten sie sich so unbemerkt ihrem Ziel nähern können. Wie eine düstere Festung, halb verborgen von den Regenschleiern, ragte die Insel nun vor ihnen auf. Gischtende Wellen brachen sich an den steilen Klippen, die nahezu lotrecht in den verhangenen Himmel aufstiegen. Die Insel bot aus der Nähe in der Tat einen unheimlichen Anblick, so dass die Gefährten gut verstehen konnten, wie sie zu ihrem Ruf gelangt war. Es blieb nur zu hoffen, dass die abweisende Optik lediglich die Phantasie der einheimischen Fischer beflügelt hatte. Zwar glaubten weder Tom noch Dean an Dämonen, auf der anderen Seite mußten sich aber beide eingestehen, dass ein Dämon sich auf dieser Insel sicherlich heimisch fühlen würde. Da sie nun aber nicht mehr zurück konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sie unbemerkt auf die Insel gelangen konnten. Über das Problem, wie sie dann die Elben befreien sollten, wagten sie derzeit noch nicht nachzudenken.
Der einzige Zugang, den sie bisher hatten entdecken können, war ein natürliches Hafenbecken, in dem zwei Schiffe geschützt vor den anbrandenden Wellen des Ozeans vor Anker lagen. Anscheinend hatten sie tatsächlich den Schlupfwinkel der Piraten entdeckt. Das war gut. Weniger gut war der Umstand, dass sich der Rest der Insel Gästen gegenüber wenig einladend bot. Die steilen, vom Meer umspülten Klippen ließen keine Zweifel daran, wie ein Versuch, dort an Land zu gehen, enden würde. Ernüchtert mußte Dean sich eingestehen, dass sie sich auf ein Himmelfahrtskommando eingelassen hatten.

"Ohne mich!" Wirdnix, der neben Dean stand und fröstelnd die unheimliche Insel betrachtete, konnte sich noch lebhaft an die Schilderungen des Fischers erinnern. Dämonen sollten hier hausen. Entschieden schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. "Das ist doch der reine Selbstmord", schimpfte er.
"Keine Sorge, wir passen schon auf dich auf", versuchte Dean ihn zu beruhigen.
"Du darfst sogar als Späher vorneweg gehen", versprach Tom. Für ihn war das Ganze ein aufregendes Abenteuer und so machte er sich einen Spaß daraus, den armen Wirdnix aufzuziehen.
"Hört auf, sein Zähneklappern verrät uns sonst noch", befahl Myrana, die bewaffnet an Deck erschien. Lässig stützte sie sich auf die Reling und musterte ihr abweisendes Ziel. Ihr Langbogen war frisch eingeölt und schimmerte satt. An der Seite trug sie ein kurzes Schwert, ein Köcher mit Pfeilen hing ihr quer über den Rücken und im Gürtel steckten zwei Wurfmesser. Gart nickte anerkennend, während er seine Axt im Schutz einer Segelplane putzte.
"Schöne Waffen! Du verstehst es, dich anzuziehen."
"Danke." Myrana wandte den Kopf und betrachtete den Zwerg kritisch.
"Stellt das etwa deine ganze Bewaffnung dar?"
Gart schmunzelte. "Bisher hat sich noch keiner beschwert", erwiderte er und ließ die Axt demonstrativ durch die Luft sausen. Trotz des trommelnden Regens, war das Pfeifen der scharfen Klinge deutlich zu vernehmen. Das überzeugte selbst Myrana. Offenkundig gab es außer Baumbatz noch einen weiteren brauchbaren Kampfgefährten an Bord. Dagegen ließ die Ausrüstung der übrigen Gefährten nicht darauf schließen, dass sie allzuviel vom Kämpfen verstanden.
"Sieht nicht gerade oft benutzt aus", stellte die Elfin mit einem fachmännischen Blick auf Toms Bewaffnung fest.
"Da mach dir mal keine Sorgen, so gut wie du bin ich allemal und Dean braucht ohnehin keine Waffen. Er ist der Mann mit dem Köpfchen. Abgesehen davon ist dein Kollege auch nicht gerade spektakulär bewaffnet", erwiderte Tom gelassen und wies auf Baumbatz, der hingebungsvoll an seiner selbst zusammengebastelten Riesenkeule herumschnitzte. Er konnte es gar nicht abwarten, ihre Widerstandsfähigkeit an einigen Piratenköpfen zu testen.
"Darf ich sie ausprobieren?", fragte er Myrana mit einem Seitenblick auf Tom, worauf der erbleichte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich der Kontakt mit diesem Stück Holz, das frappant an einen zweckentfremdeten Schiffsmast erinnerte, auf seine Gesundheit auswirken würde. Doch zu seinem Glück hielt Myrana den Troll zurück.
"Oder hättest du lieber doch eine Vorführung?", fragte sie Tom spöttisch. Der verkniff sich eine Antwort. Myrana wandte sich nun Dean zu.
"Also, was hast du ausgeknobelt?", fragte sie neugierig, worauf dieser wieder einmal puterrot wurde. Er hoffte nur, dass das keiner mitbekam. Stockend erklärte er ihr den Plan.
"Am besten gehen wir in kleiner Besetzung vor. So fallen wir am wenigsten auf und haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Trotzdem muß alles völlig unauffällig vonstatten gehen. Wenn wir deine Freunde befreit haben, werden wir versuchen, eins der Schiffe zu kapern. Wahrscheinlich sind nur ein paar Mann an Bord, so dass wir keinen ernsthaften Widerstand zu erwarten haben."
Myrana nickte zustimmend. Auch Gart war einverstanden.
"Ein guter Plan, ich bin dabei", verkündete er. "Dann wären wir also zu fünft, du, Tom, Myrana, Baumbatz und ich."
"Zu siebt", korrigierte Meister Reno vi´Eren, der gerade die steile Treppe von der Brücke hinunter kletterte. "Wirdnix und ich werden auch mitkommen. Etwas Magie im Kampf hat noch nie geschadet."
Wirdnix wurde blaß.
"Aber Meister, ich könnte mich doch an Bord nützlich machen."
"Keine Widerrede, wie Tom schon einmal sagte, alle für einen, einer für alle.  Du kommst mit, oder glaubst du etwa, dass ich mein Zauberbuch selbst schleppe?"
Wirdnix hätte ihm gerne mitgeteilt, welchen Aufenthaltsort er für das Zauberbuch für angemessen hielt, sein gesunder Selbsterhaltungstrieb hielt ihn jedoch davon ab.
"Du kommst auch in die Nachhut. Du kennst doch den alten Spruch?", tröstete Dean ihn. Wirdnix schüttelte den Kopf.
"Die Nachhut überlebt immer."
Das beruhigte den Gnom ein wenig. Gart grinste vor sich hin. Ihm fiel ein anderes Sprichwort dazu ein, das mehr in die Richtung ging: Den letzten beißen die Schnapper. Vielleicht sollte er das Wirdnix bei Gelegenheit mitteilen. In diesem Moment erschien Kapitän Bris, um ihnen zu verkünden, dass sie endlich eine geeignete Stelle zum an Land gehen entdeckt hatten. Diese entpuppte sich bei näherer Betrachtung als winzige Bucht, welche die Wellen im Laufe der Zeit in die steile Küste gefräst hatten. Anscheinend war ein Teil der Steilwand hier einmal weggebrochen; denn aus dem Wasser ragten große Gesteinsbrocken, an denen sich die Wellen brachen. Wie sie vom Strand allerdings die Klippen hinaufkommen sollten, war auf diese Entfernung unmöglich auszumachen.
"Ich hoffe, die haben dort einen Aufzug installiert", sagte Tom bekümmert. Die Aussicht, bei Regen die steilen Klippen hinaufzuklettern, war nicht gerade verlockend.
"Was ist ein Aufzug?", wollte Gart neugierig wissen. Tom erklärte es ihm. Auch Meister Reno vi´Eren hörte interessiert zu.
"Nicht schlecht, das muß ich in Medara einführen, wenn ich wieder zurück bin", sagte Gart anerkennend.
"Du meinst, falls du zurückkommst", bemerkte Wirdnix, der beunruhigt registrierte, dass der Anker geworfen und das Beiboot zu Wasser gelassen wurde. Anscheinend waren die Würfel gefallen.
Tom schätzte, dass es ungefähr Mitternacht war. Damit blieben ihnen nur wenige Stunden Zeit. Kapitän Bris würde nur bis zur Morgendämmerung warten. Falls sie bis dahin nicht auftauchen sollten, würde er versuchen, Hilfe zu holen. Wirdnix befürchtete nur, dass die dann zu spät kommen würde. Die Glorreichen Sieben beeilten sich daher, ins Beiboot hinabzuklettern. Von jetzt an zählte jede Minute. Nachdem sie abgelegt hatten, fragte sich Kapitän Bris ernsthaft, ob er die sieben Verrückten je wieder sehen würde.

- 3 -

Je näher sie der Insel kamen, desto abweisender erschien sie ihnen. Wie eine uneinnehmbare Festungsmauer ragten die Klippen steil in den Nachthimmel auf. Dean schätzte ihre Höhe auf rund zweihundert Meter. Wie sie da hoch kommen sollten, war ihm völlig schleierhaft. Doch damit konnte er sich später immer noch beschäftigen. Jetzt galt es zunächst, den kleinen Strand sicher zu erreichen. Das war alles andere als leicht. Gart hätte nicht gedacht, dass er sich einmal nach der ruhigen Überfahrt zu dem Schiffswrack zurücksehnen würde. In der Tat trieb das Boot eher wie ein Korken auf der unruhigen See, und Meister Reno vi´Eren am Steuerruder hatte alle Hände voll zu tun. Auf den Ruderbänken saßen Gart, Dean, Tom und Baumbatz und ruderten sich die Seele aus dem Leib. In den riesigen Händen des Trolls wirkte das Ruder wie ein Zahnstocher, und seine kräftigen Ruderbewegungen führten dazu, dass der Zauberer ständig gegenlenken mußte, um das Boot auf Kurs zu halten.
Im Bug hatten es sich Wirdnix und Myrana "bequem" gemacht. Ihre Aufgabe bestand darin, vor Hindernissen im Wasser zu warnen. Das war in der Tat erforderlich. Etliche Male verfehlten sie nur um Haaresbreite die tückischen Felsen, was Wirdnix nahe an den Herzinfarkt brachte. Doch der Gott des Meeres hatte anscheinend einen guten Tag, oder er war anderweitig beschäftigt, wie auch immer, die Gefährten erreichten trotz Wirdnixs ständigem Gejammer völlig unbeschadet ihr Ziel.
"Gute Arbeit", lobte Meister Reno vi´Eren, als das Boot knirschend auf dem Sand aufsetzte. Endlich waren sie auf der Schwarzen Insel gelandet.
Schnell wurde das Boot auf den Strand hoch gezogen, um zu verhindern, dass es sich selbständig machen würde. Nachdem das erledigt war, hatten sie zum ersten Mal die Muße, ihre nächste Etappe näher in Augenschein zu nehmen. Das war alles andere erbaulich. Dean sank das Herz bei der Vorstellung, die senkrechte Klippe erklimmen zu müssen, in die Hose. So schwer hatte er sich die Befreiungsaktion nicht vorgestellt. "Wenigstens hat der Regen nachgelassen", versuchte er, Optimismus zu verbreiten.
Während sie sich zur Besprechung zusammenfanden, sprach Wirdnix das aus, was alle dachten: "Um da hochzukommen, brauche ich Flügel." Schnaufend setzte er sich auf das dicke Zauberbuch, das er aus dem Boot herbeigeschleppt hatte.
"Ich glaube, da läßt sich was machen", sagte Meister Reno vi´Eren. Wirdnix sah ihn entsetzt an, doch der Zauberer winkte beschwichtigend ab.
"Keine Angst, an Flügel hatte ich nicht gedacht", beruhigte er ihn.
"Aber an Saugnäpfe", flüsterte Gart dem Gnom ins Ohr. Während der erbleichte und erschrocken seine Hände auf verräterische Anzeichen untersuchte, führte Meister Reno vi´Eren aus, was ihm in den Sinn gekommen war. "Weiter hinten gibt es einen schmalen Einschnitt", erklärte er. "Dort müssen wir hinauf."
"Den habe ich gesehen, aber das wird kein Zuckerschlecken werden", wandte Tom ein.
"Wir sind auch nicht hier, um Zucker zu schlecken, sondern um meine Freunde zu befreien", erwiderte Myrana scharf. "Wenn du zu ängstlich bist, kannst du ja hierbleiben."
"Ich leiste ihm auch Gesellschaft", schlug Wirdnix hoffnungsvoll vor.
"Keiner bleibt hier", sagte Meister Reno vi´Eren energisch. "Leider teile ich Toms Befürchtungen. Der Spalt ist sehr schmal und steigt steil an. Ich für meinen Teil komme da nicht hinauf und Wirdnix, Gart und Baumbatz ..."
Er ließ die Worte auf die anderen wirken.
"Und was sollen wir nun machen?", fragte Gart.
"Zaubern", erwiderte Meister Reno vi´Eren fröhlich, scheuchte Wirdnix von dem Buch herunter und begann sogleich, emsig darin zu blättern.
"Nur damit kein Mißverständnis aufkommt, wir fühlen uns in unserer Haut ganz wohl", wandte Dean vorsichtig ein, wurde von Meister Reno vi´Eren aber  ignoriert.
"Das könnte klappen", murmelte der vor sich hin. "Wirdnix!"
Der Gnom zuckte erschrocken zusammen.
"Ja", brachte er ängstlich krächzend hervor.
"Trag das und komm mit." Damit drückte Meister Reno vi´Eren ihm das aufgeschlagene Buch in die Hand und marschierte zielstrebig auf den Einschnitt zu. Die anderen folgten neugierig. Aus der Nähe sah das Ganze noch gefährlicher aus. Der Anblick des nassen, fast senkrecht in die Höhe ragenden Spaltes, ließ die Gefährten schaudern. Insbesondere Gart mit seinen kurzen Beinen betrachtete ihn mit Entsetzen.
"Tretet besser zurück", forderte Meister Reno vi´Eren die Freunde auf, die diesem Rat, mit Ausnahme von Wirdnix, der das Zauberbuch halten mußte, gerne nachkamen. Nur Myrana war ungeduldig. "Beeilt Euch. Wenn Euer Zauber nicht wirkt, werde ich notfalls auch allein dort hinaufklettern."
"Dann komme ich mit", sagte Tom bestimmt und erntete dafür einen bewundernden Blick von Myrana, wie Dean eifersüchtig feststellte.
"Ich auch", schloß er sich ein wenig lahm an, wobei er insgeheim darum betete, dass Meister Reno vi´Eren eine Lösung finden möge, damit ihm das erspart bliebe. Gart und Baumbatz hingegen warteten lieber erst einmal ab, bevor sie sich zu waghalsigen Klettertouren verpflichteten. Für beide würde es ohne magische Hilfe nahezu unmöglich werden, den steilen Einschnitt zu bewältigen. Der eine war zu klein, der andere zu groß und unbeholfen für eine derart schwierige Klettertour. Während sie sich die Folgen eines möglichen Absturzes ausmalten, zitierte Meister Reno vi´Eren in schon bekannter Weise magische Worte in einer unbekannten Sprache. Langsam begann sich ein Nebel entlang der Spalte zu bilden, der in den unterschiedlichsten Farben leuchtete. Schließlich schlug Meister Reno vi´Eren mit einem lauten Knall das Zauberbuch zu und betrachtete mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck sein Werk. Der Nebel leuchtete jetzt kräftiger und erinnerte Tom an eine aufwendige Lightshow. Das Ganze war hübsch anzusehen gewesen, allerdings hatte Tom noch gut in Erinnerung, was die Zauberkraft des Meisters anstellen konnte und so hielt nicht nur er es für sicherer, auf das Ergebnis aus gebührender Entfernung zu warten. Als sich der Nebel einen Augenblick später langsam auflöste, atmeten alle erleichtert auf. Stück für Stück schälte sich eine steile Treppe aus dem zerfasernden Nebel heraus, die sich den steilen Einschnitt hinauf wand. Sie war breit genug für einen Mann und stellte harte Ansprüche an die Schwindelfreiheit.
"Eigentlich sollte es ein Aufzug werden", murmelte Meister Reno vi´Eren enttäuscht, doch den Gefährten genügte die Treppe vollauf. Sogleich machten sie sich zum Aufstieg bereit; denn die Zeit drängte. Über die Marschordnung wurde schnell abgestimmt. Tom, der schon Erfahrung im Bergsteigen hatte und schwindelfrei war, sollte vorangehen, gefolgt von Myrana die als Waldelfin ebenfalls Klettern gewohnt war, wenn auch nicht an steilen Klippen. Der Dritte im Bunde war der treue Baumbatz, dann kam Gart. Das Schlußlicht bildeten Dean, Meister Reno vi´Eren und Wirdnix, da sie über die schlechteste Kondition verfügten. Jede Stufe war ungefähr vierzig Zentimeter hoch, und so würden die Gefährten bereits nach kurzer Zeit ihre protestierenden Muskeln bemerken. Alle, außer Wirdnix, waren mit dieser Einteilung einverstanden.
"Warum bin ich der Letzte in dieser Runde?", beschwerte er sich.
"Weil es am wahrscheinlichsten ist, dass du abstürzt, und dann reißt du niemanden mit in den Abgrund. Ist doch vernünftig, oder?", erklärte ihm Gart nüchtern. Wirdnix konnte diese Ansicht ganz und gar nicht teilen. Auch Meister Reno vi´Eren meldete Zweifel an. "Wenn er runterfällt, verlieren wir auch das Zauberbuch", gab er zu bedenken.
"Guter Hinweis", erwiderte Myrana. "Ich denke, es wäre besser, wenn diesmal Baumbatz das Buch trägt." Alle nickten zustimmend, jedenfalls fast alle.
"Es ist doch immer wieder schön, wenn man merkt, dass sich andere um einen sorgen", sagte Wirdnix ärgerlich, dem Baumbatz das Buch abgenommen hatte. Begleitet von seinen wütenden Flüchen begann der Aufstieg. Gart und Wirdnix hatten es mit ihren kurzen Beinen am schwersten. Der Zwerg verfügte jedoch über unerschöpfliche Kraftreserven, so dass es ihm trotz seiner kurzen Beine gelang, den voraus Kletternden problemlos zu folgen. Ganz anders sah die Sache bei Wirdnix aus. Sein Fluchen konnte selbst der weit vorauskletternde Tom noch gut vernehmen. Als schließlich alle die Klippenhöhe erreicht hatten, fiel der erschöpfte Gnom erst einmal der Länge nach in das spärliche Gras. Auch Dean und Meister Reno vi´Eren kamen nur langsam wieder zu Atem. Die robuste Myrana hingegen war schon ein Stück voraus geeilt, um die Lage zu erkunden. Die Insel war in diesem Bereich spärlich bewachsen. Dürres Gestrüpp und dornige Hecken bildeten im wesentlichen die Vegetation. Soweit man es in der Dunkelheit erkennen konnte, schien aber etwas weiter entfernt eine dünne Ansammlung von Bäumen den Versuch gestartet zu haben, so etwas wie einen Wald zu bilden und bot so zumindest ein wenig Schutz für eine unbemerkte Annäherung.
Als Myrana kurze Zeit später von ihrer Erkundungstour zurückkam, lächelte sie zufrieden. "Der Weg entlang der Klippen ist gut zu schaffen. Ich bin ein Stück voraus gelaufen, habe aber niemanden entdeckt. Anscheinend gibt es hier noch keine Wachen", erklärte sie den Gefährten die Lage.
"Dann mal los", erwiderte Tom, dem die Sache Spaß zu machen begann,  fröhlich. Wirdnix betrachtete ihn griesgrämig.
"Du kannst es wohl kaum abwarten, Ärger zu bekommen?", brummte er, wurde jedoch von Baumbatz abrupt in seinen trübseligen Gedanken gestört.
"Dein Buch."
Mit diesen Worten drückte er Wirdnix das schwere Zauberbuch in die Hände, der daraufhin beinahe von der Klippe gefallen wäre. Wütend klemmte er es sich unter den Arm und entfernte sich vorsichtshalber ein paar Schritte vom Abgrund.
"Alle mal herhören", rief Gart. "Ich denke, wir gehen am besten wie folgt vor. Myrana, Tom und ich bilden die Vorhut. Dann folgen Dean, Meister Reno vi´Eren und Wirdnix. Den Schluß bildete Baumbatz."
"Wieso soll mein Troll das Schlußlicht sein?", fragte Myrana streitlustig.
"Weil er am größten und schwersten ist und damit den meisten Krach macht. Wenn du ihn vorschickst, kannst du unsere Ankunft genauso gut mit Fackelbeleuchtung und Fanfaren ankündigen", knurrte Gart.
"Ich bin leichtfüßig wie eine Fee", protestierte der enttäuschte Baumbatz.
"Mit Schuhgröße 88?" Skeptisch blickte Tom auf die großen behaarten Füße, die in den obligatorischen Sandalen steckten.
"Ich glaube, Gart hat Recht", schaltete sich Meister Reno vi´Eren vermittelnd ein. "Es kann nicht schaden, wenn wir noch einen schlagkräftigen Trumpf im Ärmel haben, nur für den Fall, dass die Vorhut gefangen genommen werden sollte."
Das leuchtete Myrana ein. Auch die anderen stimmten zu, wenngleich Dean ein wenig eifersüchtig darüber war, dass Tom mit der Elfin vorangehen durfte. Aber er kannte seine Fähigkeiten, und als vernünftiger Mensch mußte er sich eingestehen, dass er keine Erfahrung im Anschleichen hatte und in der Vorhut daher kaum zu gebrauchen war.
Nachdem die Frage der Reihenfolge also geklärt war, brachen die Gefährten in kurzem Abstand zu ihrer abenteuerlichen Rettungsaktion auf.
"Das kann doch nur schief gehen", meckerte Wirdnix, während er hinter Meister Reno vi´Eren und Dean durch die Dunkelheit stolperte.
 

© Klaus-Peter Behrens
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Und schon geht's weiter zum 14. Kapitel: "Wirdnix' großer Tag"

.
www.drachental.de