Der blaue Eisdrache von Tobias Wagner
Kapitel VI (2)
Die Luftbrücke

"Ich fliege zum Drachenhort. Sukita und Pyrotakan warten sicher schon auf uns." sagte der Eisdrache.
"Der Bürgermeister will sich mit dem Stadtrat beraten, wie der-"
"Ich weiß", sagte der blaue Eisdrache grinsend, "ich hab gute Ohren. Ich konnte alles hören, was besprochen wurde."

Als sie am Drachenhort ankamen, hatte es sich Sukita schon gemütlich eingerichtet. Ein alter Alchemietisch stand in einer Höhlenecke. Daneben ein Regal voller Bücher, Reagenzgläser, Erlenmeyerkolben, ein Mörser mit Stößel, Destillierapparat und noch viele andere Alchemiegegenstände.
"Hab ich mir alles bei den Drachen eingerichtet." sagte Syn.
Jens blickte auf einige Aufzeichnungen, die gerade offen auf dem Tisch lagen.
"Die Kraft von Mana" las er. Offenbar hatte Sukita auch schon von den Drachen erfahren, was Mana ist.

"Mit einem Liter Manaenergie kann man:
- Ein Mittelklasseauto zweimal um die Erde fahren,
- Die Stadt Berlin für 17 Minuten mit Strom versorgen (Weihnachtszeit)"

"Man kann viele solcher Rechenbeispiele aufstellen, wenn man die Formel kennt." sagte plötzlich Sukita hinter ihm. Mit ihren Gewändern sah sie jetzt aus, wie eine Magd aus dem Mittelalter. Jens konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
"Für dich habe ich auch was passendes!" sagte Syn, als sie in einer großen Klamottenkiste wühlte.
In einer anderen Höhlenecke lag viel Stroh zum schlafen und wieder in der anderen ein riesiger Haufen aus Gold und Edelsteinen. Das Licht von Fackeln, die an den Wänden hingen, wurde farbig von den Edelsteinen zurückgeworfen. Es funkelte bunt, wie in einer Disco.
"Wow, so viel Gold!" sagte Jens fixiert.
Pyrotakan sah ihn mit seinen grünen Augen durchdringend an. "Denk nicht mal dran, auch nur eine Münze anzufassen! Der letzte, der das versucht hat, durfte meinen Magen..."
"Keine Panik, ich lass die Finger vom Drachengold!" sagte Jens gekränkt.
"Kluges Kerlchen!"
Pyrotakan wand sich wieder dem blauen Eisdrachen zu.
"Was habt ihr in der Stadt organisiert?"
Der blaue Eisdrache sagte: "Der Stadtrat entscheidet morgen, wie wir bei der Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln helfen. Bis die neue Brücke steht, wird voraussichtlich ein Monat vergehen. Ab dann können sich die Menschen wieder selber helfen. Solange müssen wir Lebensmittel und Trinkwasser über die Schlucht fliegen."

Pyrotakan schnaubte:
"Ich soll für die Menschen Rosinenbomber spielen?"
"Nein, aber - hey Moment mal, woher weißt du denn, was ein Rosinenbomber ist?"
Der Drache zeigte mit der Schnauze zu Sukita.
"Sie hat mir so einiges über eure Hauptstadt erzählt. Auch den abenteuerlichen Flug in eurer Kiste, von Wintersdorf aus."
"Aber nur wegen dir!" sagte Jens vorwurfsvoll. "Wir sind quer durchs Land geflogen, die `Suchenden` im Nacken, bloß weil du auf den Eiskristall nicht aufpassen konntest. Wie kannst du nur so ein wertvolles Artefakt im Maisfeld verlieren!?!"
"Pass auf, Junge, du sprichst mit einem Drachen! Ich war eben durcheinander, hatte es eh schon schwer genug, dieses kleine Kaff zu finden, ohne gleich riesiges Aufsehen zu erregen. Da meine magische Energie kurz vor dem Ende war und ich nicht länger unsichtbar bleiben konnte, musste ich im Maisfeld landen und zum Segelflugplatz geduckt laufen."
"Ein Glück, dass ich ihn gefunden habe," sagte Sukita, "ich war auf der Durchreise und zufällig an jenem Mittag auf dem Stadtflohmarkt, als ich den Kristall bei einem Bauernstand zwischen altem Ramsch fand.
'Auf einem Acker kann man alles mögliche finden!' sagte der Bauer, der mir den Kristall für schlappe 15 Euro verkaufte. Immerhin hatte er neun Monate zuvor eine 250 Kilo Bombe aus dem zweiten Weltkrieg gefunden, und wieder ein Jahr davor fünf römische Goldmünzen!"
"Die Frau von dem Bauer hat mir dein Kärtchen gegeben. Ich hätte auch per Telefon in Berlin anrufen können, aber wer weiß, wie sich die Sache dann entwickelt hätte! Die Suchenden wussten ja auch schon, dass der Kristall in Berlin war!" sagte Jens.
"Wie hast du mich gefunden, als ich noch Mensch war?" fragte der blaue Eisdrache Pyrotakan.
"Ich bin einfach den ´Suchenden´ gefolgt. An jenem Tag, waren auch sie am Flugplatz. Ich habe mich im Hangar versteckt, damit mich nicht die Menschen sehen. Dass du mir im Hangar zufällig in die Klauen gelaufen bist, war Zufall. Ich wollte dich auf der Heimfahrt abfangen, denn die ´Suchenden´ hätten dir eine Falle gestellt. Jens Eltern, was sie angeblich bis zu diesem Tag noch waren, hatten sie mit den ´Suchenden` organisiert."
"Aber woher wusstest du von der Falle?"
Der Drache seufzte: "Wenn du die Einzelheiten wissen willst... na schön. Ich habe die `Suchenden` gehört, wie sie sich im Gebüsch vor dem Hangar, in dem ich mich versteckte, unterhielten. Sie erwähnten etwas von einem Hinterhalt nach Markus´ Geburtstagsfeier."

"Die ´Suchenden` wussten also auch, dass Markus der Eisdrache war, der die Drachenwelt vor dem Einfrieren retten sollte," sagte Sukita.
"Die `Suchenden` sind bloß Werkzeuge von Saryn, genauso wie die Frostskelette, die nur aus Eis und Manaenergie bestehen. Die eigentlichen Drahtzieher sitzen nördlich im Eisland." sagte Pyrotakan.
"Da außer Ma´zachur kein Drache in diese entsetzliche Kälte fliegen kann, können wir Drachen nicht genau sagen, was Ma´zachur erwartet."
"Wie kann man Saryn besiegen?" fragte der blaue Eisdrache.
Pyrotakan blickte zum Goldschatz und sagte: "Es heißt, der heilige Feuerspeer von Arnus kann Saryn töten. Es ist ein magisches Artefakt, das sich angeblich in der Bergkrypta befindet. Die Sache ist nur, dass niemand, der in die Krypta ging, je wieder lebend gesehen wurde!"
"Wir müssen diesen heiligen Speer finden, egal was es kostet!" meinte die Drachin Sabion, die unentdeckt zur Höhle hereinkam.
"Es ist eine Aufgabe, die nur ein Mensch erfüllen kann. Wir Drachen sind zu groß, um in die Krypta zu gelangen."
"Das muss sicher aufregend sein! Als Hobbyarchäologin und Drachenforscherin ist es genau die richtige Aufgabe für mich." meinte Sukita.
"Dann fliege ich euch morgen hin, sobald wir mit den Ratsleuten in der Stadt geredet haben. Jede Wette, dass Saryn einige Späher in der Stadt postiert hat!" meinte Syn überzeugt.

Am nächsten Morgen flogen Jens und Syn mit Ma´zachur zur Stadt. Wenig später landeten sie schließlich am Rathausvorplatz. Anders als erwartet, löste es bei den Menschen, die den Eisdrachen sahen, keine Panik, sondern eher Verwunderung aus.
Vor dem Rathaus waren Tische aufgebaut, auf denen haufenweise Pläne lagen. Offenbar hatte der Bau schon begonnen. Nur rationsweise wurde Wasser und Lebensmittel verteilt.
Der Bürgermeister kam gerade mit einigen Ratsmitgliedern aus dem Rathaus, als Jens und Syn von Ma´zachurs Rücken abstiegen.
"Die Herren sind einverstanden, über euren Vorschlag." sagte der Bürgermeister.
"Kommen wir gleich zur Sache." meinte ein Ratsmitglied. "Die Stadt stirbt, wenn die Brücke nicht bald steht. Wir verteilen die Lebensmittel so sparsam wie möglich, doch in den nächsten Tagen und Wochen wird es wohl nicht regnen. Wasser ist jetzt das wichtigste!"
"Na schön." sagte Jens. "Wir fliegen gleich zum Fluss, zehn Kilometer hinter dem Wald und holen ein paar Amphoren voll."
Syn rief im Gedanken nach Pyrotakan.
Wir haben grünes Licht, du kannst kommen. Bring auch Sabion mit!
Gab es Probleme? fragte Pyrotakan.
Keine nennenswerten, entgegnete Syn.

Jens und Syn banden sechs Amphoren mit Seilen auf Ma´zachurs Rücken fest, auf jede Seite drei.
Jede einzelne Amphore konnte etwa zwanzig Liter Wasser fassen.
"Flieg du mit Ma´zachur zum Fluss. Ich bleibe hier und richte weitere Amphoren bereit, wenn
Pyrotakan und Sabion eintreffen." sagte Jens.
Syn nickte, stieg auf Ma´zachurs Rücken. Drei kräftige Flügelschläge und der Eisdrache flog in Richtung Klippe.

Jens ging zum Bürgermeister.
"Wie gelangt man in die Bergkrypta?"
"Was willst du denn da?" fragte dieser.
"Der heilige Feuerspeer kann Saryn doch vernichten, oder? Er befindet sich in der Krypta." sagte Jens.
Der Bürgermeister nickte. "Das stimmt. Es gab schon viele tapfere Männer, die ihn holen wollten. Afrael Darkthorn zum Beispiel, war ein berüchtigter Grabräuber, der sich schon auf vielen Friedhöfen herumtrieb, doch aus der Bergkrypta kam er nicht lebend heraus! Die wohlhabensten Leute von Eragul wurden dort bestattet. Es war traditionell üblich, dass sie ihr gesamtes Vermögen, Gold und Edelsteine ins Grab mitnahmen." sagte der Bürgermeister.
Jens grinste. "Das sollten wir da einführen, wo ich herkomme, denn dann entfällt schon mal die Erbschaftssteuer!"
"Hä?"
"Och nichts, nichts." sagte Jens, immer noch grinsend.
"Wenn du da rein willst, riskierst du dein Leben! Aber rechtlich gesehen, kann dich hier niemand hindern, denn es ist erlaubt, dass die Lebenden die Grabstätten der Toten ehren - nicht ausräumen! - was viele "missverstehen" und deswegen haben die Leute, die die Krypta bauten und die Toten mit ihrem Vermögen einbetteten, die Krypta mit Fallen gespickt, damit niemand ihr Gold stiehlt!" warnte der Bürgermeister.
Er holte aus dem Rathaus einen alten, rostigen Schlüssel. "Der ist für das Kryptator. Ich würde dir gerne noch einen Plan mitgeben, doch die Krypta wurde jahrelang stückweise immer wieder eingerissen und neu ausgebaut. Da unten erstreckt sich ein kilometerweites Labyrinth. Sei bloß vorsichtig!"
Jens sackte den Schlüssel ein. Im selben Moment kamen zwei Drachen angeflogen. Jens erkannte sofort, dass es Pyrotakan mit Sabion war. Sukita saß auf Sabions Rücken.
"Wo brennt´s denn?" fragte Pyrotakan nach dem Aufsetzen.
Jens zeigte auf Ma´zachur, der von der anderen Seite angeflogen kam.
"Wir versorgen die Stadt erst mal mit Wasser. Dann machen wir uns auf den Weg zur  Bergkrypta."
Syn band Ma´zachur die vollen Wasseramphoren ab, die gleich von zwei Wachen ins Vorratslager geschleppt wurden.
Eine Frau kam zu Syn und sagte. "Seit die Brücke eingestürzt ist, sind meine beiden Kinder auf der anderen Seite und können nicht mehr zu mir rüber. Sie sind bestimmt bei den Bauernhöfen. Könnt ihr sie rüberfliegen?"
"Jetzt darf ich nicht nur Rosinenbomber, sondern auch noch Airliner spielen!" fauchte Pyrotakan. Syn lachte, doch Jens sagte:
"Das hätte ich fast vergessen. Ein Notfallplan, falls so etwas wieder passiert! Kann ja sein, dass die Brücke wieder kaputtgeht oder von Feinden belagert wird. Deshalb habe ich mir mal einen Notfallplan ausgedacht!" er holte ein paar Zeichnungen aus der Satteltasche, die über Ma´zachurs Rücken hing.
"Wir holen die Kinder, doch erst mal möchte ich dem Stadtrat etwas zeigen." sagte Jens.
Er zeigte dem Bürgermeister einige Pläne, die er auf dem Drachenhort gezeichnet hatte. Es war die Explosionszeichnung eines Flugzeuges.
"Wäre doch klasse, wenn dies die erste Stadt auf Eragul wäre, die ein Flugzeug hat!" sagte Jens. Das Flugzeug auf der Zeichnung wäre etwa so groß wie eine einmotorige Cessna.
"Aber was willst du als Antriebssystem verwenden? Eine Autowerkstatt, die dir Motoren verkauft, wirst du hier wohl kaum finden!" meinte Sukita.
"Ich hab schon mal zwei Triebwerke für ein Modellflugzeug gebaut. Das war eine Messerschmitt ME-262, das erste Düsenflugzeug der Welt, entwickelt im Jahre 1944.
Dieser Modellbausatz bestand aus zirka 3000 Einzelteilen, inklusive Fernsteuereinrichtung.
Ich bekam sie zu meinem 18. Geburtstag." sagte Jens.
"Kannst du so ein Triebwerk bauen?" fragte Sukita.
"Wenn ich das nötige Material habe, ja! Es ist gar nicht so schwer, ein Triebwerk zu bauen, wie viele immer meinen. Das Kerosin/Luftgemisch muss nur in einer Brennkammer verdichtet und gezündet werden. Mit dem nötigen Material ist so ein Triebwerk in einer Woche fertig. Ich weiß das aus Erfahrung."

"Dann baust du das Flugzeug, Pyrotakan und Sabion versorgen die Stadt, und ich fliege mit Sukita und Syn zur Krypta." sagte Ma´zachur.
"Gute Idee." sagte Jens und gab Syn den Schlüssel zur Krypta.
"Sei bloß vorsichtig, keiner kommt da lebend wieder raus! Lass dir aus dem Lager noch zwei Fackeln geben."
Syn nickte.

"Material bekommst du bei mir" sagte ein Mann mit einer Lederschürze. Am Gürtel hatte er einen schweren Hammer hängen.
"Ich bin der Schmied in der Stadt. Holz kriegst du beim Zimmermann. Er ist neben meiner Werkstatt."
Jens nahm die Flugzeugzeichnungen mit und verabschiedete sich bei Ma´zachur.
"Bis später. Pass bitte auf Syn und Sukita auf. Nicht dass es ihnen ergeht, wie Afrael Darkthorn, dem Grabräuber."
Der Eisdrache nickte.
"Ich besuche dich in der Werkstatt, so oft es geht, versprochen!"
Dann flog er mit Syn und Sukita zur Krypta.

Pyrotakan und Sabilon flogen im Zehn- Minuten- Rhythmus. Immer wenn ein Drache mit leeren Wassergefäßen aus der Stadt zum Fluss flog, kam ein anderer mit vollen. Sie kreuzten sich über der Schlucht.
Pyrotakan flog nach der fünften Tour zu dem beschriebenen Bauernhöfen. Jens, der schon eifrig in der Werkstatt am basteln war, war bei dieser Tour aber dabei. Die Kinder waren tatsächlich dort und warteten darauf, wieder zu ihren Eltern in die Stadt zu kommen. Jens musste ihnen erst klarmachen, dass der Drache Pyrotakan sie rüberfliegen und nicht fressen will. Nach wenigen Stunden hatte sich die Luftbrücke perfekt eingespielt. Die Drachen Milur und Tiop kamen am Nachmittag auch noch dazu. Sie flogen Kartoffeln, Rüben, Brot, Käse und andere Sachen von den Bauernhöfen rüber über die Schlucht in die Stadt. Pyrotakan und Sabion kümmerten sich um das Trinkwasser.
Aber auch andere Aufgaben konnten sie zwischendurch übernehmen. So spannte Sabion zum Beispiel ein dickes Seil über den Abgrund, damit die Stadtbewohner eine Art Seilbahn bauen konnten, mit denen Werkzeug und Baumaterial transportiert werden konnte.
 

Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!


Und schon geht es hier weiter zum 7. Kapitel (1.Teil): Die Krypta

.
www.drachental.de