Es war Samstag, der 23. Dezember morgens.
Tim war schon wach, als der Drache den Kopf hob und beim Gähnen eine
Reihe messerscharfe Zähne entblößte.
Wie geht’s uns denn so, heute Morgen?
fragte Drakota.
"Ich bin schon lange wach und lese." sagte
Tim, der mit seiner Wolldecke neben dem kleinen Kanonenofen saß.
Was denn? Etwas Spannendes?
Tim nickte. "Das Buch würde dir gefallen!
Es geht um einen bösen Geizhals, der in der Weihnachtsnacht von drei
Geistern besucht wird, die ihn auf eine Reise in die Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft mitnehmen. Schließlich hat der Geizhals eingesehen, dass
sein Leben alles andere als sinnvoll ist, und er begann mit seinen Mitmenschen
zu teilen."
Tim legte sein Buch zur Seite und seufzte:
"Wenn es im wirklichen Leben nur genauso wäre, dann wären alle
unsere Probleme gelöst! Drakota, ich hatte heute Nacht einen eigenartigen
Traum. Ich träumte-"
Der Drache blickte Tim schon die ganze Zeit
so merkwürdig amüsiert an, bis Tim fragte: "Was ist denn?"
Drakota legte den Kopf schräg und grinste
breit. Ist dir noch nichts aufgefallen? Schau mal in den Spiegel!
Tim ging verwundert aus dem Zimmer in das
kleine Badezimmer im zweiten Stockwerk. Er blickte in den kleinen Hängespiegel
über dem Waschbecken.
Was Tim sah, konnte er nicht fassen. Seine
oberen Eckzähne waren gewachsen! "Was zum Teu-"
Jetzt erst sah Tim, dass seine Ohren auch
spitz zuliefen. Das war zu viel für ihn!
Er setzte sich erstmal auf die Treppenstufen
und schloss die Augen.
Das kann nicht sein, dachte er. Die
letzten zwei Tage waren nur ein Traum. Gleich würde ich im Bett aufwachen
und alles ist so wie immer!
"Tim, bist du schon wach?" fragte Frau Sellner
und klopfte unten an das Treppengeländer.
"Ich komme gleich runter!" sagte er mit zitternder
Stimme.
Dann hastete er wieder zu Drakota hoch, der
ihn jetzt noch breiter angrinste.
"Was zum Teufel hast du mit mir gemacht?!"
sagte Tim mit vorwurfsvoller Stimme. "Sieh dir mal meine Zähne an...
und meine Ohren!!!"
Der Drache legte den Kopf auf seine Tatzen
und sagte in Tims Gedanken:
Hast du schon mal etwas von Eteo gehört?
Tim nickte. "Ich hatte einen Traum heute Nacht..."
Ich bin in einen magischen Schneesturm
geraten, der mich in deine Welt brachte. Es war das Werk des Schwarzmagiers
Necramor, der mich töten will! Als ich hier auf dieser großen
Wiese vor dem Wald ankam, hab ich dich gefunden, halb tot. Ich habe in
deinen Gedanken entdeckt, dass du nichts Böses gegen mich unternehmen
wirst. Dann habe ich dich auf den Rücken genommen und du hast mich
mit deinen Gedankenströmen hierher auf dein Hausdach geführt.
Da du fast tot warst, hast du das aber nicht mehr mitgekriegt.
"Und warum sehe ich jetzt so komisch aus?!"
fragte Tim.
Weil du ein uraltes magisches Bündnis
mit mir eingegangen bist. Ich rettete dein Leben, du meins. Ich bin auf
dich angewiesen, bis ich genug magische Kraft gesammelt habe, um nach Eteo
zurückzukehren. Solange erhältst du einige meiner Fähigkeiten,
zum Beispiel meine Lebensspanne. Außerdem werde ich jeden Schmerz
spüren, der dir zugefügt wird und genauso umgekehrt. Du wunderst
dich über dein Aussehen? Weißt du, in Eteo gibt es keine Menschen,
aber andere Völker. Es gibt die Argonier, das sind schuppige Echsen,
die auf zwei Beinen gehen und den Menschen ähneln. Außerdem
können sie unter Wasser atmen. Und es gibt die Elfen, die tief in
den Wäldern leben und einen Großteil der Natur beherrschen.
Sie haben spitze Ohren und lange Eckzähne, so wie du jetzt.
"Das war-"
Magie, ja. Du hast dich über meine
Magie in einen Elfen verwandelt. Ich wollte es so, du wolltest es - in
deinem Unterbewusstsein - auch.
"Aber ich kann doch mit meinem Aussehen nie
wieder in die Öffentlichkeit!"
Das brauchst du auch nicht mehr. Verstecke
dich hier noch ein paar Tage mit mir, dann nehme ich dich nach Eteo mit,
wenn du willst.
"Aber... aber... was meinst du mit 'mitnehmen'?"
"Tim?!" rief Frau Sellner ungeduldig.
"J- ja, ich komme!"
Wir reden nachher weiter.
Er zog sich seine Mütze über, damit
man die spitzen Ohren nicht mehr sah und ging zu Frau Sellner. Sie hatte
inzwischen das Frühstück gerichtet.
"Wenn du willst, gehen wir nachher auf den
Weihnachtsmarkt."
Tim schüttelte den Kopf. "Mir geht’s
nicht gut. Ich bleib da."
"Bist du sicher? Ich will nachher noch mit
dir hier Plätzchen für Heiligabend backen."
Auch das noch! dachte Tim.
Er schüttelte erneut den Kopf.
Frau Sellner seufzte: "Na schön, ich
mache dir einen Honigtee."
Als sie Tim mit dem Tee hoch ins Bett schickte,
erledigte sie noch einige Kleinigkeiten im Haushalt und ging kurz darauf
wieder rüber in ihre Wohnung.
Eine Viertelstunde später sah Tim sie
in ihrem Mercedes in die Stadt zum Weihnachtsmarkt fahren. Das mit seiner
Krankheit war natürlich nur eine Ausrede.
"Jetzt haben wir sie den ganzen Nachmittag
am Hals! Du darfst nachher keine Geräusche von dir geben." sagte Tim
zu Drakota.
"Ich bau jetzt erst mal den Mast auf dem Balkon
weg, damit du besser landen kannst." sagte Tim. "Und dann erklärst
du mir, was du mit mir gemacht hast."
Der Drache richtete sich auf, wobei der Fußboden
knarrte. Tim befürchtete, der Drache könnte durchbrechen, doch
das Haus war stabil gebaut.
Er zog sich eine Jacke und Handschuhe an und
ging raus auf die Terrasse. Drakota streckte seinen Kopf nach draußen
und sah ihm zu. Mit einigen Handgriffen hatte er das Gerüst mit den
zwei 100 Watt-Solarmodulen demontiert und die Mastschrauben gelöst.
Als er den Windgenerator auch weg hatte, wollte er noch die Lichterkette
vernünftig zurecht schieben. Da passierte es: Er rutschte von der
Brüstung ab und bevor Drakota reagieren konnte, stürzte Tim in
die Tiefe.
Mit einem dumpfen Knall landete er in der
Hofeinfahrt neben der Garage.
Rote Lichter blitzten vor seinen Augen, als
er nach oben sah. Drakota blickte erschrocken über die Terrassenbrüstung
nach unten.
Alles in Ordnung, Kleiner?
Tim stöhnte vor Schmerz, als er sich
aufrichtete und seinen rechten Arm betrachtete. Ein hellweißes Knochenstück
ragte aus einer Fleischwunde zwischen Hand und Ellenbogen heraus.
Ich glaub, ich hab mir die Speiche gebrochen!
Tim berührte ganz vorsichtig den Knochensplitter
und sofort jagte ein höllischer Schmerz durch den Arm.
Ich komme runter!
"Nein, ich kann schon noch laufen!"
Stöhnend ging er die Treppen hoch in sein
Zimmer zu Drakota.
Zeig mir deinen Arm, Kleiner!
Tim bemerkte, dass Drakota offenbar auch Schmerzen
in seinem Arm hatte. Er berührte mit der Schnauzenspitze Tims Arm,
woraufhin er brannte wie flüssiges Eis und ein grelles blaues Licht
erschien. Die Wunde wuchs innerhalb von Sekunden zusammen und Tim konnte
fühlen, wie sich die Knochenhälften unter dem Fleisch wieder
verbanden. Diesmal allerdings tat es kein bisschen weh.
Geschafft, Kleiner!
Tim betrachtete ungläubig seinen Unterarm.
Nicht ein Kratzer war mehr zu sehen!
"Wie hast du das gemacht?!"
Mit Magie. Sei das nächste Mal vorsichtiger,
denn deinen Schmerz spüre ich jetzt genauso!
Tim setzte sich auf den Teppichboden und lehnte
sich mit dem Rücken an Drakotas Oberkörper, während er seinen
Arm inspizierte.
Tim?
"Ja."
Ich hab Hunger!
"Oh je! Mal sehen, was noch da ist." Er ging
in den Keller und stellte fest, dass das Fleisch nicht einmal bis Übermorgen
reichen würde, wenn Drakota so weiterfutterte!
"Wo kriege ich jetzt bloß noch so viel
Futter her, ohne dass jeder Verdacht schöpft?" Tim plünderte
sein Sparschwein, um Fleisch beim Metzger zu kaufen.
Dann ging er gleich darauf aus dem Haus zur
Garage. Herr Sellner stand gegenüber vor dem Grundstück, mit
der Schneeschaufel in der Hand und hielt mit jemandem, den er auf der Straße
getroffen hatte, wieder einige Fachsimpeleien, was das Autofahren angeht:
"Viele Leute fahren verschwenderisch. Wenn
man untertourig fährt, möglichst wenig Gewicht ladet, keine Dachgepäckträger
hat und den richtigen Reifendruck einhält, kann man locker 25 Prozent
Benzin sparen."
Tim achtete darauf, möglichst nicht gesehen
werden, da Frau Sellner glaubte, er wäre krank im Bett. So wie er
sie kannte, hatte sie es auch schon ihrem Mann erzählt.
Deshalb fuhr Tim mit dem Fahrrad und dem Anhänger
durch den Hintergarten, den kleinen Feldweg am Wald entlang zum Metzger.
Dort angekommen, kaufte er soviel, bis der
Anhänger voll war.
"Ist für ein großes Weihnachtsfest!"
sagte Tim schnell, da sich die Verkäuferin über diesen XXL-Einkauf
doch etwas wunderte.
Gerade als er bezahlt hatte, kam ein großer
buckliger Mann in den Laden. Tim war er schon auf Anhieb unsympathisch.
Er war in einen langen schwarzen Mantel gekleidet, dessen Kapuze er ins
Gesicht gezogen hatte.
Er musterte Tim mit dem vielen Fleisch.
"Was hast du denn mit all dem Fleisch vor,
Junge?" fragte er Tim mit einer tiefen, kratzigen Stimme.
"Privates Weihnachtsfest!" erwiderte er knapp.
"Soso. Sind da auch Tiere, die mitessen?"
Tim wurde heiß. Was wollte der Kerl
bloß von ihm?
Tim! Das ist Necramor, der Schwarzmagier!
Mach dass du verschwindest!! rief Drakota in Tims Gedanken. Doch Tim
war wie gelähmt und konnte sich nicht bewegen.
"Ähm, was wünschen Sie?" mischte
sich jetzt die Verkäuferin ein.
Der Mann drehte sich fast wie in Zeitlupe
zu ihr um. "Nur eine Auskunft. War in den letzten Tagen außer dem
Jungen da noch jemand hier, der eine größere Menge Fleisch gekaufte
hatte?"
"Wir geben normalerweise keine Auskunft, über
das Kaufverhalten unsere Kunden. Schließlich gibt es ja nicht umsonst
das Datenschutzgesetz. Sind sie vielleicht jemand vom Gesundheitsamt, der
hier bei uns nach 'Gammelfleisch' sucht?"
"Nein. Ich suche jemand, der große schuppige
Tiere hält und sie mit Fleisch füttert."
Tim lief es kalt über den Rücken.
Er suchte den Drachen! Er gab sich Mühe, es sich nicht anmerken zu
lassen und tat so, als hätte der Kerl nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Selbst die dicke Verkäuferin musste jetzt
lachen: "Schuppige Tiere? Nun ja, Schlangen oder Alligatorenfutter verkaufen
wir nicht, da müssen Sie schon zu Meiers Zoohandlung in Gernsbach
gehen. Aber jetzt zur Weihnachtszeit kaufen die meisten Leute viel Fleisch.
Das ist nichts ungewöhnliches."
Den Rest des Gespräches bekam Tim nicht
mit, denn er konnte sich aus der Schreckstarre lösen und war schon
zum Laden herausgeschlichen.
Das Fleisch transportierte er sofort in seinem
Fahrradanhänger nach Hause, was gar nicht so einfach war. Der Schnee
lag fast knietief und es war nicht auf allen Straßen geräumt.
Wenigstens taut das Fleisch bei dieser
Temperatur nicht an! dachte sich Tim.
Die Schneepflüge vom städtischen
Dienst waren überfordert. Außerdem nahm Tim nicht den direkten
Weg durch die Innenstadt, am Hilpertsauer Weihnachtsmarkt entlang, sondern
fuhr um die Kleinstadt herum, den gleichen Weg, wie er gekommen war. Das
dauerte zwar etwas länger, doch so sah ihn niemand.
Keuchend kam er durch den Hintergarten wieder
in die Garage.
Das sollte aber vorerst reichen! sagte
Tim zu sich, als er die randvolle Tiefkühltruhe im Keller schloss.
Der Drache lag immer noch auf dem Teppich
in Tims Zimmer, als er zur Tür hineinkam.
"War das-?"
Ja, der Schwarzmagier Necramor.
Eiskalt lief es Tim über den Rücken,
als er merkte, welchen schweren Fehler er gemacht hatte:
Als er mit dem Fahrradanhänger das Fleisch
nach Hause transportierte, fuhr er den kleinen Waldweg, um Hilpertsau herum.
Da diesen Weg sonst keiner benutzt hatte, waren seine Spuren im Schnee
jetzt deutlich zu sehen! Sollte der Schwarzmagier auf die Idee kommen-"
Es klingelte an der Haustür.
Tim wunderte sich, da es Frau Sellner nicht
sein konnte.
Als er die Haustür öffnete, stockte
ihm der Atem. Es war der Kerl mit der Kapuze!!
Der Schwarzmagier!! rief Drakota. Er
hat uns gefunden!
"J-ja?" fragte Tim verwundert und bemühte
sich, dass seine Stimme nicht zitterte.
Wie ist der Kerl bloß so schnell
hier hergekommen? dachte er sich.
"Ah, wir kennen uns ja schon. Ich habe von
deinem Nachbar eben erfahren, dass bei dir aus dem Dachgeschoss oft seltsame
Geräusche kommen, so wie auch gestern."
Dieser verdammte Ex-Stasi-Spitzel!
dachte Tim. Ich schlag ihm bei der nächsten Gelegenheit mit
meinem Baseballschläger die Zähne ein, das schwöre ich!
"Das war mein Fernseher, gestern Abend!" log
Tim.
"Der Kerl hob misstrauisch eine Augenbraue.
"So, du hast ferngesehen. Was kam denn gestern um fünf nach zehn?"
"Wieso? Sind sie ein Drücker von der
GEZ? Unsere Rundfunkgeräte sind angemeldet!" gab Tim schnippisch zurück.
"Nein, aber ich habe den Verdacht, dass du
mich anlügst. Du hältst ein großes Tier in deinem Haus.
Das möchte ich mal sehen."
Tim entgegnete scharf: "Ohne gerichtlichen
Durchsuchungsbeschluss ist die Hinterseite unserer Türschwelle tabu
für Sie!"
Tim wollte die Tür schließen, doch
der Kerl hielt einen Fuß in die Spalte.
"Sie erfüllen hier gerade den Tatbestand
des Hausfriedensbruches und wenn sie nicht gleich gehen, rufe ich Herrn
Gerbrand von der Polizei. Der macht sie dann zur Schnecke!"
Tim trat ihm mit voller Wucht gegen die Kniescheibe,
wobei ein komisches Knirschen ertönte. Der Kerl verzog das Gesicht
und zog seinen Fuß ein Stück zurück. Diese Sekunde nutzte
Tim und knallte ihm die Haustür vor der Nase zu.
Tim! rief Drakota in seinen Gedanken.
Er eilte in sein Zimmer hoch an Drakota vorbei
und blickte aus dem seitlichen Dachfenster hinunter auf die Straße.
Der Kerl war verschwunden.
"Zum Glück hat dich noch keiner der Nachbarn
entdeckt. Das wäre verheerend, wenn die wüssten, dass du hier
bei mir wohnst."
Sind die anderen Nachbarn böse?
fragte der Drache und sah Tim an.
Tim erwiderte den Blick und sagte: "Der eine
Nachbar war früher mal ein dreckiger Stasi-Spitzel, die andere Nachbarin,
Frau Kotter, ist auch ein hinterhältiges bitch! Wenn dich irgendeiner
sieht, haben wir echte Probleme! Ich will nur, dass wir die nächsten
paar Tage bis Silvester unentdeckt bleiben. Dann packen wir die Sachen
und verschwinden von hier!"
Du hast dich also entschlossen, mitzukommen?
fragte Drakota erfreut.
"Natürlich komme ich mit dir mit. Ich
habe darüber nachgedacht. Ich will nicht einer von vielen sein, die
sich ihr ganzes Leben jeden Tag abrackern, um eines Tages festzustellen,
dass sie außer Arbeit nichts vom Leben gehabt haben. Aus dem Verein
steig ich aus!"
Drakota legte einen Arm um Tim und zog ihn
liebevoll an sich. Dann komm mit mir mit in unsere Welt. Serenia wird
sich freuen.
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